Der Marxismus ist in Theorie und Praxis von historischer Art

Von Robert Steigerwald

10/06

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Was durch und durch von historischer Art ist, das kann einerseits nicht ein Komplex fertiger, fester Elemente sein, aber das, was sich entwickelt, muss dennoch existieren. Heraklits Wort, man könne nicht zwei Mal in denselben Fluss steigen, hält beides fest, das Fließen des Flusses aber auch, dass es eben diesen Fluss gibt! Was soll dieses Bild zu Beginn eines Berichts über eine zweitägige Konferenz – sie fand am 24. und 25. 06 in Berlin zum Thema „Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus“ statt? Wolfgang Fritz Haug, einer der Referenten der Tagung hatte einst vom pluralen Marxismus gesprochen und ich hatte dazu gesagt, wenn es von etwas keinen Singular gibt, dann davon auch keinen Plural: Ohne Baum keine Ansammlung von Bäumen. War damit das Problem erledigt, aus der Welt geschafft? Die Veranstalter (die Marx-Engels- Stiftung, wirkungsvoll unterstützt durch die „Junge Welt“) und Referenten der Konferenz (die sich in der Vergangenheit nicht immer mit erlesener Höflichkeit begegnet sind!) waren keineswegs dieser Meinung. In sieben Referaten und zugehörigen Debatten gingen sie auf verschiedene Aspekte des Problems ein. Es sprachen: – ich lasse alle Titel beiseite – Hans Heinz Holz: „Perspektiven des Marxismus“; Wolfgang Fritz Haug: „Das axiomatische Feld eines zukünftigen Marxismus“; Thomas Metscher: „Integrativer Marxismus“; Werner Seppmann: „Was ist Praxisphilosophie?“; Erich Hahn: „Georg Lukacs und die ‚Renaissance des Marxismus‘“; Karl-Hermann Tjaden: „Gibt es einen zukunftsfähigen Marxismus?“; Robert Steigerwald: „Marxismus und Marxismen – Marxismus oder Marxismen?“ Bei der Fülle der Themen wurde den Referenten nur knapp bemessene Redezeit zugebilligt, man hatte aber nicht den Eindruck, dass dies zum Schaden der Konferenz war. Schon die große Zahl der Teilnehmer, es waren 120 Alte und Junge gekommen, zeigt, wie groß das Interesse am totgesagten Marxismus ist!

Hans Heinz Holz nutzte zum Einstieg das Bild eines Wanderers, der sich auf den Weg rund um eine Stadt begibt und die Stadt, es ist immer dieselbe, von einem stets anderen Blickwinkel aus sieht und dass derselbe Wanderer, begibt er sich ins Zentrum der Stadt, nach allen Seiten hin sie betrachtend, ebenfalls dieselbe Stadt auf andere Weise wahrnimmt. Ein und derselbe Gegenstand wird unterschiedlich wahrgenommen. Holz ging auf unterschiedliche kulturelle und nationale Gegebenheiten ein, die sich analog zum obigen Bild in unterschiedlichen Varianten zeigen. Er nannte solche Persönlichkeiten im Marxismus wie Gramsci, Mao, Fidel. Unterschiedliche Bedingungen bewirken ungleiche Ausgangslagen, es sind also nicht nur homogene Antworten zu erwarten. Dies nach 1945 nicht oder nicht genügend beachtet zu haben war einer der Gründe für die Verarmung, des Rückgangs der theoretischen Debatten innerhalb des Marxismus. Aber folgt aus dem Fehlen eines einfachen homogenen Marxismus, dass es Marxismen gebe? Dies verneinte der Referent. In einem systematischen Ansatz kann es keine prinzipiellen Abweichungen geben, der Anspruch einer wissenschaftlichen Weltanschauung lässt keine widersprechenden Axiome zu. Mannigfaltigkeit von Detailentwicklungen Ja, aber sie müssen im Kontext eines solchen Leitsystems liegen.

Holz ging dann auf einige unverzichtbare Prinzipien des Marxismus ein, wie die Konzeption der Produktionsverhältnisse, die Eigentumsfrage, Aspekte dessen, was durchaus zutreffend mit dem Begriff Metaphysik zu bezeichnen sei.

Wolfgang Fritz Haug ging sein Thema in sechs Schritten an. In Anlehnung an Konzepte der Physik wählte er den Begriff des Felds als Basis von Erkenntnis, weil es im Feld wechselwirkende Elemente gebe. Den Begriff des Axioms wollte er nicht im Sinne der aristotelischen und euklidischen Philosophie verstanden wissen, sondern als Anforderungen, für die einzutreten sei. Als solche nannte er den berühmten Marx’schen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, die den Menschen zu einem erniedrigten, geknechteten, verächtlichten Wesen machten, Bedingungen zu schaffen, in welchen die freie Entwicklung jedes Einzelnen Bedingung für die freie Entwicklung des Ganzen sein könne. In diesem Zusammenhang ging er kritisch auf Entwicklungen im Marxismus ein. Hier kam er auf die Kritik der „Argument“- Gruppe an der Benutzung des Ideologie- Begriffs durch Marxisten zu sprechen, die nicht bereit sind, in der Ideologie, lediglich ein falsches, verfälschendes, zur Unterdrückung zubereitendes Instrument zu sehen. Weitere Themen waren Haugs Kritik daran, wie Marxisten mit dem Wertgesetz und der Art und Weise umgegangen sind, wie Marx Kritik entwickelt habe. Haug hielt es für geboten, das axiomatische Feld des Marxismus möglichst so anzulegen, dass jeder um Emanzipation des Menschen Ringende sich darin wiederfinden könne und entgegnete auf Fragen zu diesem Konzept: Fehlt da etwas, dann möge man es mir sagen, damit ich darüber nachdenke.

Ich fand übrigens die Kerngedanken des Haug’schen Vortrags in der gerade erfolgten Veröffentlichung seiner Abschiedsvorlesungen in Berlin („Einführung in marxistisches Philosophieren“,Argument-Verlag 2006. Metscher, der trotz der Debatte zwischen Holz und Haug (darauf kann hier nicht eingegangen werden) deren Übereinstimmung hervorhob, dass Marxismus Zukunft habe, ging auf die Weite des so zu fassenden Marxismus- Begriffs ein. Der Marxismus sei kein System, das mit dem Anspruch einer geschlossenen Totalität der Erkenntnis auftritt. Er sei ja dessen bedürftig, ständig weiterentwickelt, ausgebaut und durch neue Erkenntnisse bereichert und vertieft zu werden. Er besitzt eine integrative Kraft, die ihn befähigt, unterschiedliche Wissensformen wie auch außerhalb seiner selbst gewonnene Erkenntnisse in sein eigenes theoretisches System zu integrieren. Die Kraft solcher Synthesis ist die materialistische Dialektik. In diesem Sinn ist der Marxismus zugleich kritisches und synthetisches Denken.

Entgegen der Erwartung mancher Teilnehmer ging es Werner Seppmann nicht um die Praxis-Philosophie, wie sie ehedem vor allem in Jugoslawien entwickelt wurde.Vielmehr nahm er die Marx’schen Feuerbach-Thesen, die darin entwickelte Praxis-Konzeption zum Ausgangspunkt. Philosophie ist intellektuelle Durchdringung der gesellschaftlichen Realität mit dem Ziel, sie zu verändern. Philosophie wird Waffe der Kritik, der Mensch deren Subjekt, das sowohl gesellschaftlich geprägt ist als auch Gesellschaft prägt. In diesen Zusammenhang stellt er auch die Ideologie-Thedorie, die er also anders versteht als etwa Wolfgang Fritz Haug.

Erich Hahns Beschäftigung mit Georg Lukàcs ist bekannt. Aber nicht um die Ontologie des gesellschaftlichen Seins ging es Hahn in seinem Vortrag, sondern er analysierte eine späte Arbeit von Lukàcs zum Demokratie- Problem. Die Arbeit wäre allen zu empfehlen, die glauben, eine neue Sozialismuskonzeption sei durch die Vereinigung von sozialistischer Ökonomie und bürgerlich-demokratischem Überbau zu schaffen. Die Kritik von Lukàcs hieran ist vernichtend. Lukàcs wandte sich zunächst gegen die Methode, hinsichtlich des Sozialismus positive und negative Seiten gegeneinander abzuwägen. Sozialismus sei eine sich widersprüchlich entwickelnde Totalität, die man nicht jenseits der epochalen Bedingungen ihrer Herausbildung beurteilen dürfe. Die heutige bürgerliche Demokratie sei eine monopolisierte Demokratie des Imperialismus, das Schielen auf sie sei falsch. So kurz vor seinem Tod hat Lukàcs in dieser Schrift auf eindrucksvolle Weise die historischen Leistungen der Sowjetunion gewürdigt und auf dieser Grundlage, als ein aktiver Mitstreiter dieser Entwicklung diese eingeschätzt. Die bürgerliche Demokratie sei eine falsche Alternative zur sozialistischen Demokratie, man dürfe die Unterschiede zwischen beiden Formationen nicht verwischen, dies nämlich sei die Basis des Totalitarismus- Schwindels. Bürgerlicher Charakter des Sozialismus wäre dessen Ende – die reale Entwicklung nach Lukàcs´Tod hat diese Feststellung ja bestätigt! Sozialistische Demokratie sei kein idealistischer Überbau zum späteren materiellen Sozialismus. Das Problem von Kontinuität und Diskontinuität in diesem Zusammehang müsse von da her verstanden werden, dass es zu einem radikalen Funktionswandel beider komme, den man nicht ignorieren dürfe, man müsse zwischen Theoretischem und Konkret-Historischem unterscheiden. Zuerst gehe es darum, die gegenwärtige Seinsweise des Sozialismus zu erfassen und davon ausgehend die Probleme untersuchen.

Karl-Hermann Tjaden war der einzige Referent, der kritisch zum Thema der Konferenz eingestellt. Es gebe keinen real existierenden Marxismus, folglich auch keinen zukunftsfähigen. Er ging kritisch auf Begriffe ein, die Marx und Engels benutzten. Bewusstsein sei bei Marx unbestimmt, es gebe keinen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff, die Konzeption entbehre einer Theorie des Naturstofflichen, es fehle ein Eingehen auf das Verhältnis von Natur und Bevölkerungswachstum. Positiv seien Engels Theorie der Zivilisation, die Frage der Klassenspaltung, der Staatsentstehung, die DDR-Arbeiten zum Staatsmonopolistischen Kapitalismus.Weiter entwickeln sollte man die Theorie der Produktionsweisen und zu berükksichtigen seien geografische, zeitliche Faktoren, um auf dieser Grundlage progressive Entwicklungen festmachen zu können. Ich würde zur Kritik zu bedenken geben, dass Begriffe, die zu Beginn der Entwicklung einer neuen Wissenschaft gebildet werden, etwa Überbau und Basis, sich unter anderem an der Architektur anlehnen, noch des weiteren Ausbaus bedürfen. Haug hatte in seinem Beitrag auf Marx verwiesen, der, gerade hinsichtlich bestimmter Begrifflichkeiten und Konzepte auf die von ihm angefertigte Übersetzung des ersten Bandes des „Kapitals“ verwies, weil er dort seine eigenen Begriffe weiter entwickelt habe.

Ich hielt das letzte der Referate. Zur Selbstverständigung hatte ich mir in Vorbereitung auf die Tagung ein Papier erarbeitet, in welchem ich, an Hand des Wirkens verschiedener Persönlichkeiten in der Geschichte des Marxismus, Kriterien der Bewertung des Marxist- Seins zu erarbeiten versuchte. Dazu versuchte ich zunächst, mir eine Art Sockel (schon dieser Begriff ist unangebracht, ein Sockel ist fest, beharrend, eben: unhistorisch!) zu verschaffen, der das Unverzichtbare des Marxismus festhält, und an ihm das Wirken solcher Persönlichkeiten wie Stalin, Trotzki, Bucharin, Gramsci, Mao usw. zu beurteilen. Dabei fiel mir auf, dass die genannten Personen jeweils keinen eigenen „ismus“ ausarbeiteten (Haug wandte ein, zumindest Stalin habe einen solchen geschaffen, den „Marxismus-Leninismus“). Die Auseinandersetzungen hätten sich auf dem politischen Feld zugetragen. Es gebe beispielsweise keine eigene Philosophie oder Politische Ökonomie Trotzkis. Lenin hatte in seinem berühmten so genannten Testament Trotzki und Stalin charakterlich kritisiert, an Bucharin dessen (damals) noch ungenügende Meisterung der Dialektik gerügt, aber es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, diese Personen aus dem Kreis des Marxismus auszuschließen. Die Folgerung? Macht man diese politischen Debatten zum Wesensmerkmal, wie es Wolfgang Fritz Haug mir in der Diskussion vorschlug, so wird das Wesen des Marxismus sein Unwesen, seine Unbestimmtheit, sein Aufgehen im Konflikt. Ich wählte bewusst die andere Vorgehensweise, weil es m. E. gerade heute darauf ankommt, das marxistische oder marxistisch sein Wollende Potential zusammen zu führen. So, wie es in dieser Konferenz geschah. Und weiter geschehen sollte! Dass dabei der Meinungsstreit nicht ausgeklammert werden sollte, hat die Konferenz, haben die jeweils nach den Referaten gehaltvollen Diskussionsbeiträge gezeigt. Wir sind auf dem Weg, eine neuen Kultur im Umgang der Marxisten untereinander aufzubauen – oder sollte man sagen: zu ihr zurück zu kehren, denn bei allem Streit und Kampf: zumindest unter Lenin gab es so etwas schon einmal. Und Lernanstöße dürften wir Teilnehmer der Konferenz alle mit nach Hause genommen haben.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien bei MARXISTISCHE BLÄTTER 4-06
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