EINLEITUNG
Agit 883 - Bewegung, Revolte,
Underground in Westberlin 1969–1972 


von
Knud Andresen, Markus Mohr, Hartmut Rübner

10/06

trend
onlinezeitung

»Auch wer selbst keine Bomben bastelte, las die Untergrundzeitung ›Agit 883‹ doch sehr gern.« Spätes Geständnis des Ex-Rote-Hilfe-Aktivisten Götz Aly (Die Welt v. 16. Juli 2005).

Die Agit 883 war in den Jahren 1969 bis 1971/72 die bedeutendste Publikation der undogmatischen und radikalen Linken in Berlin. Von der Agit 883 ging lange Zeit eine eigentümliche Faszination aus: Vervielfältigt auf einer gebrauchten Rotaprint-25-Offsetdruckmaschine erschien wöchentlich ein Anzeigenblatt, das auf den Straßen und in den Kneipen erfolgreich verkauft wurde und in dem politische Debatten intensiv geführt wurden. Es muss ein funktionierendes Konzept gegeben haben. Die Zeitung spiegelt einen Zeitabschnitt wider, der in der Forschung bisher kaum wahrgenommen wurde. Die Revolte 1967/68 ist relativ gut ausgeleuchtet und wird als Anstoß zur Liberalisierung und Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft inzwischen überwiegend positiv besetzt. Dem entgegengesetzt wird das »Rote Jahrzehnt« der 1970er Jahre – mit seinen maoistischen Parteien und dem bewaffneten Kampf, der zumeist mit der RAF gleichgesetzt wird – oft scharf verurteilt. Die von der bürgerlichen Gesellschaft vielfach honorierte Distanzierung prominenter Ex-Aktivisten von ihrer Geschichte folgt dieser Zweiteilung: Ein positiver Aufbruch wird dogmatischer Erstarrung gegenübergestellt. Doch so einfach waren die Verhältnisse nicht. Wir sehen die Jahre 1969 und 1970 vor allem als Suchbewegung, in denen sich bewaffnete und militante Gruppen, egalitäre kommunistische Basisgruppen und Parteien, Studentenzirkel, Musikbands, autonome Selbsthilfegruppen, Frauengruppen und Subkulturen herausbildeten und verstetigten. Die AktivistInnen der Revolte und neu in die Großstädte strömende Jugendliche versuchten, den antiautoritären Ansprüchen und der politischen Aufbruchstimmung neue Formen zu geben und sich soziale Freiräume zu schaffen. Ihre vielfältigen Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Praxisformen fanden in der Agit 883 ein Forum. Als Anzeigen- und Diskussionsblatt einer Berliner Gegenöffentlichkeit konzipiert, werden darin deren unterschiedliche Positionen deutlich. Das zeigt: Die Zweiteilung zwischen einem »guten 1968« und verderblicher Gewalt, verkörpert durch die RAF, ignoriert die unterschiedlichen Ansätze, alternative Gesellschaftsentwürfe zu realisieren. Das Anliegen des Buches ist es, die verschütteten Spuren offenzulegen und gleichzeitig etwas von der Lust an der Revolte zu vermitteln, die sich in der Agit 883 artikulierte. Allerdings enthüllen wir nichts, was bei einer Lektüre dieses spannenden Mediums nicht schon längst hätte bekannt sein können. Entgegen des biografischen Modetrends stehen die sozialen Bewegungen und ihre Praxisformen im Vordergrund. Wir haben das Buch nicht als wissenschaftliche Monographie konzipiert, sondern als thematisch aufgefächertes Lesebuch. Der dokumentarische Charakter wird durch die Verwendung einer Vielzahl von Faksimiles betont. In der für die damalige Zeit typischen ironischen Unbekümmertheit wurden zuvor gewohnte grafische Ordnungen, Seh- und Lesegewohnheiten außer Kraft gesetzt. Das zum Teil durcheinandergewirbelte Layout der Agit 883 zeigt Experimentierfreude; der Aufbruch zu einer anderen Gesellschaft scheint sich hier als ästhetische Subversion zu inszenieren. Ganz augenfällig: Für diese linke Generation stand die Revolution auf der Tagesordnung. Und das in einer Zeit, als die Berliner sich in ihrer Mehrheit noch als »kalte Krieger« aufführten, die den »Studenten« bei mancher Gelegenheit ein hasserfülltes »Geh doch nach drüben« an den Kopf warfen.

Die Dokumentation der Agit-883-Ausgaben und das Lesebuch sollen ein breiteres Publikum für die Zeitung und ihre Zeit interessieren. Die verhandelten Themen sind nicht aus der Welt, denn sie bieten auch heutigen Debatten weiterhin Material zur Reflexion. Es geht also um die Besichtigung einer Revolte, die in fundamentaler Weise wider den Stachel der herrschenden Verhältnisse löckte. Wer mag, kann das durchaus als eine »ernsthafte Selbstaufklärung der Linken« interpretieren, die in einem inhaltlich verwandten Zusammenhang von einem Redakteur der Frankfurter Rundschau angemahnt wurde (FR v. 30.6.2005).

Der Alltag einer Szene, die sich um 1969 herausbildete und mit linken Buchhandlungen oder Szenekneipen Projekte einer anderen Ökonomie hervorbrachte, spricht neben den großen politischen Linien aus der Zeitung. Viele Texte in der Agit 883 beschäftigten sich mit den staatlichen und individuellen Grenzen, an die die Akteure bei ihren Versuchen, eine andere Gesellschaft zu entwerfen, stießen. Diese Veränderungsversuche zu verstehen und aus den Fehlern zu lernen ist auch für aktuelle Protestbewegungen von Bedeutung.

Das Zeitungsprojekt Agit 883 engagierte sich gegen unvermeidlicherweise im kapitalistischen Gesellschaftssystem bestehende Ungerechtigkeit und Unfreiheit. Ihr partielles Scheitern bedeutet nicht, dass diese Fragen und Herausforderungen in einem glücklichen Sinne beantwortet sind. Wir stimmen auch heute noch der Auffassung zu, dass es richtig ist, sich unter den herrschenden Verhältnissen nicht mit den bestehenden Strukturen von Ungerechtigkeit und Unfreiheit zu arrangieren, sondern dagegen zu opponieren.
Ein Richter des Amtsgerichts Moabit hat in einem Beschlagnahmebeschluss gegen die Zeitung angeführt, dass die Agit 883 »Unruhe in die Öffentlichkeit« trage. Dies ist sicherlich die höchste Anerkennung, die einer linken Publizistik nachgesagt werden kann.
Denn nicht Ruhe und Affirmation der bestehenden Verhältnisse ist die erste Bürgerpflicht, sondern die Ordnung der Dinge theoretisch und praktisch in Frage zu stellen. Die Agit 883 hat dies getan, wenn auch manchmal auf eine heute irritierende Weise.

Johannes Agnoli, der bis zum Ende seines Lebens keinen Anlass sah, sich von seiner Beteiligung an der 68er-Revolte zu distanzieren, hat uns einen entscheidenden Hinweis hinterlassen: »Dennoch war die Revolte nicht nur notwendig, sondern überdies, obzwar kein Erfolg, geschichtlich wirksam. Revolten kennen im Allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen. Die gescheiterte Revolte indessen greift in die Geschichte ein, sie setzt Zeichen, die teils verschwinden, um später wieder aufzutauchen, sie verändern doch die Welt. [...] Diese Revolte bietet uns keine gültige Antwort einer völlig anders gewordenen Welt. Sie hinterlässt uns aber die richtigen Fragen. Und das ist gut so, denn es ist wieder soweit: ›Ein Gespenst geht um in Europa‹ und in der ganzen Welt« (Agnoli 1998, 10).
Als Grundlage des Lesebuchs diente zunächst einmal die Zeitung selbst. Insofern trifft die Aussage des Medienforschers Marshall McLuhan zu: »Das Medium ist die Botschaft.« Darüber hinaus wurden eine Anzahl anderer Presseorgane des bürgerlichen und des linken Spektrums ausgewertet. Die Gesamtperspektive vervollständigen außerdem Zeitzeugeninterviews, Archivalien und die neuere wissenschaftliche Literatur.

Quellenhinweise werden nach der amerikanischen Zitierweise belegt. Die Agit 883 selbst ist in den Artikeln als Beleg zitiert nach dem Schema: Heftnummer, Seitenzahl, Erscheinungsdatum.

Wir haben den Sammelband in vier Abschnitte eingeteilt. Vorangestellt ist ein Abriss zur Geschichte der unterschiedlichen Redaktionen. Neben den politischen Gruppierungen, die sich in der einen oder anderen Weise als bedeutsam für die Agit 883 erwiesen, enthält dieser Überblick einige Bemerkungen zu dem sich herausbildenden linksradikalen Milieu in Westberlin sowie zur Medienresonanz und staatlichen Repression.

 

Die Beiträge des zweiten Blocks umreißen die »Konturen einer Gegengesellschaft«, kurz: Orte, Zeitungen, Kneipen, Buchläden und die Bedeutung der Sexualität. Gottfried Oy zeichnet dabei anhand der Agit 883 die (Gegen-)-Öffentlichkeitskonzepte der »auflagenstärksten und billigsten APO-Zeitung« in der vom Axel-Springer-Konzern beherrschten Exklave nach. Ihr sei es zumindest für einen begrenzten Zeitraum gelungen, »Elemente eines kritischen Gegendiskurses zu etablieren«. Thomas-Dietrich Lehmann lädt zu einem romantischen Stadtrundgang zu den wichtigsten Locations der linken Infrastruktur gegen Ende der 1960er Jahre ein. In der vom Umland abgeschlossenen Halbstadt begann die Szeneökonomie zu florieren. Der Beitrag von Klaus Weinhauer illustriert, wie wichtig das Medium Agit 883 als eine Art medialer Spinne im sich entfaltenden Netzwerk des Westberliner »Underground« war, der als eine Mischung aus Kneipen, Drogen, Szeneanlaufpunkte und Musik-Events vorgestellt wird. Dabei stand die Zeitung der Subkultur durchaus zwiespältig gegenüber. Gleichwohl wuchs mit der Zeit die Einsicht, dass sich in ihr ein Refugium für selbstorganisierte Freiräume auftat – Jahre vor der marktwirtschaftlich kompatibleren Variante der Alternativbewegung. Massimo Perinelli spürt mit unbändiger Lust den durch die Zeitung zirkulierenden Sexualitätsdiskursen nach. Denn hier könne der »so bedeutende Übergang von einem lustvollen Aufbruch der revolutionären undogmatischen Bewegung in Sachen Sexualität bis zum Aufgeben dieses Kampfterrains als einer positiven Bezugsgröße für eine gesellschaftliche Umwälzung betrachtet werden«. Die »sexuelle Revolution« als gesellschaftspolitisches Projekt muss aus gutem Grund kritisch hinterfragt werden. Aus heutiger Perspektive war ihr nur insofern eine positive Bilanz beschieden, wenn eine marktkompatible Kommerzialisierung als Maßstab des Erfolgs angelegt wird. Markus Mohr trägt dieser Problemstellung an einem anderen Beispiel Rechnung, indem er Informationen zur Gründungsgeschichte der Westberliner Buchladenkollektive beibringt. Sie liefern ein markantes Fallbeispiel dafür, wie sich auf der Basis von selbstorganisierten Projekten politische Deformations- und privatwirtschaftliche Enteignungsprozesse vollziehen.
Christopher Schmidt geht in seinem Beitrag über das Ende des Zeitungsprojekts einigen verbreiteten negativen Zuschreibungen an die Adresse der Anarchisten nach. Deren kategorische Ablehnung des in Parteiform gegossenen Dogmatismus konnte durchaus mit doktrinären Zügen einhergehen, die nicht frei von Traditionen deutscher Vereinsmeierei waren. Seine akribische Quellenrecherche zeigt auf, wie die letzte Phase dieses Zeitungsprojekts in einer Sackgasse endete. Im dritten Abschnitt beschäftigen sich die Autoren mit den unterschiedlichen »Horizonten einer politischen Bewegung«. Hanno Balz beschreibt Konzepte politischer Gegengewalt, die in der außerparlamentarischen Linken Westberlins diskutiert wurden und in der Zeitung ihren Niederschlag fanden. Dabei hebt er vor allem die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit dieser Stimmen hervor. Eine derartige Debatte suche bis heute ihresgleichen.

Michael Hahn richtet in seinem Beitrag »Land der Superpigs« den Scheinwerfer auf die Verwendung antiamerikanischer Klischees, die sich in den Spalten der Zeitung trotz der langjährigen, zum Teil auch emphatischen Solidarität mit der Black Panther Party auffinden lassen. Durch die Brille der Agit 883 seien die Panthers, die Freak-Brothers u.a. eben »kein Teil der US-Gesellschaft, sondern des ›anderen‹ Amerika« gewesen.

Knud Andresen weist in seinem Beitrag über das »äußerst komplizierte Palästinaproblem« nach, dass zumindest ein Teil der in diesem Zusammenhang geltend gemachten antizionistischen Argumentationen auf einem antisemitischen Kern basierte. Nicht in jedem Fall mit dem Zionismus, aber doch mit den »Zionisten« waren in der Zeitung immer ganz präzise die Juden gemeint und beschrieben, die sich von der israelischen Politik zu distanzieren hatten, um nicht als Feind markiert zu werden. Der von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft verübte Massenmord an den europäischen Juden war nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft verdrängt worden.

Peter Birke zeichnet in seinem Beitrag nach, wie sich in der Agit 883 die »Suche nach der Arbeiterklasse«, die sich bei der Umsetzung von revolutionärer Theorie in die Praxis oftmals nur als »die Klasse der Gespenster« präsentierte, darstellte. Der von nicht wenigen linksradikalen Aktivisten verfolgte Traum, eine Einheit herstellen zu wollen, »konnte zum Albtraum werden, weil er die Konfrontationen« zwischen einer Vielzahl der unterschiedlichsten Beteiligten verschwieg. Vielleicht seien die Qualitäten und Chancen, die im Verhältnis zwischen Linksradikalen und der Arbeiterinnenklasse damals gelegen haben, erst heute richtig zu verstehen.

Dario Azzellini reist in seinem Beitrag zu den unterschiedlichen Konzepten des Internationalismus einmal rund um die Weltkugel. »Stadtguerilla« oder »Arbeiterklasse«, Partei- oder Bewegungsmaoismus hießen die konträren Bezugspunkte, aus denen linksradikale Aktivisten weit reichende Konsequenzen für die 1970er Jahre zogen. Näher als die Arbeiterklasse standen den Agit-883-MacherInnen die so genannten Randgruppen jenseits der »Formierten Gesellschaft«. Doch wen und was verstanden sie darunter genau? Sven Steinacker schildert in seinem Beitrag das ambivalente Verhältnis zwischen der radikalen Linken und den Randgruppen. Denn das zu revolutionierende Objekt erwies sich wider Erwarten als höchst eigensinnig und entzog sich den Avancen diverser politischer Gruppierungen, indem die »Marginalisierten« ihre eigenen Beweggründe behaupteten.
Im vierten und letzten Block zu den »Auseinandersetzungen mit den Institutionen« behandeln die Beiträge die Themen der Kontinuität des Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, des Rassismus, der Repression und des Knastes.

Hartmut Rübner analysiert in seinem Beitrag, wie präsent die »Geister der Vergangenheit« in der Zeitung in Bezug auf die Jahre 1933 und 1945 sind. »Nationalsozialismus« und »neuer Faschismus« oszillierten in irritierender Weise zwischen konkreten Repressionserfahrungen und dem Bemühen um eine analytische Definition des Phänomens. Daraus wird ersichtlich, dass die Interpretation des »Nationalsozialismus« als deutscher Ausprägung des Faschismus den singulären Stellenwert der Shoah ausblendete. Der Faschismus bleibt bis auf den heutigen Tag ein ungelöstes Problem einer unvollständigen Demokratie.
Niels Seibert untersucht den in der Zeitung präsenten Internationalismus daraufhin, inwieweit er, mit heutigen Augen betrachtet, als ein Kampf gegen Rassismus gelesen werden kann. Eine intellektuelle Provokation, die die Zeitung als Quelle zur Vorgeschichte heutiger antirassistischer Bewegungen erschließt. Dies vor allem im Hinblick darauf, dass damals auch die Linke kaum theoretische Vorstellungen von dem Phänomen besaß, was sie jedoch nicht von praktischer Solidarität abhielt.

Freia Anders geht exemplarisch den gegen die Agit 883 im Frühjahr 1970 eingeleiteten Strafverfahren nach, als sich die polizeilichen Maßnahmen gegen die Zeitung, durch eine Pressekampagne angeheizt, häuften. Sie zeigt, wie die Justizbehörden versuchten, von der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit abzurücken und den Abdruck von Erklärungen aus dem linken Spektrum als politische Straftatbestände neu zu definieren.
Zum Schluss zeichnet Markus Mohr nach, mit welchen Schwerpunktsetzungen sich die Zeitung dem Thema Knast und Gefangene widmete. Die Herausstreichung der Vorbildfunktion der Gefangenen hatte eine zwiespältige Wirkung: Zum Teil konnte sie mobilisierend wirken, unter Umständen aber auch von weiterer politischer Arbeit abschrecken.

Dem Buch beigelegt ist eine CD, auf der alle Ausgaben der Agit 883 als PDF-Dateien gespeichert sind. Nutzungshinweise zur CD finden sich am Ende des Buches.
 

rotaprint 25 (Hrsg.)
Agit 883
Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969–1972 

Assoziation A

ISBN 3-935936-53-2
ca. 288 Seiten
Beigelegte CD mit sämtlichen Ausgaben der Agit 883

erscheint Oktober 2006 | ca. 24.80 €

Veranstaltungen zum Buch

FRANKFURT/M: 04.10.2006: Mittwoch, 20 Uhr, Café ExZess. Veranstaltung im Rahmen der GegenBuchMasse mit Gottfried Oy und Niels Seibert.

BERLIN: 27.10.2006: Freitag ab 19 Uhr 30, Versammlungsraum Mehringhof, Veranstaltung des Buchladens Schwarze Risse