Erst wenn nichts mehr geht, wird alles möglich!
Über das Verstummen der Kritik am Privateigentum


von
Robert Schlosser

10/06

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Als wir 1970 im Ruhrgebiet die ersten radikal-antikapitalistischen Betriebszeitungen vor großen Betrieben verteilten, in denen geschrieben stand, dass der Kapitalismus notwendiger Weise Massenarbeitslosigkeit produziert, dachten und sagten viele unserer Adressaten: „Ihr spinnt!“ Schließlich herrschte „Vollbeschäftigung“, es war überhaupt kein Problem einen Lohnarbeitsplatz zu finden. Kapitalismus schien also durchaus ohne Massenarbeitslosigkeit möglich. Unsere „Kassandrarufe“ schienen einigermaßen daneben und sie wurden nicht ernst genommen.

Seit Jahren nun gilt die Massenlohnarbeitslosigkeit, die sich über verschiedene Zyklen hinweg nach der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 entwickelte und konsolidierte als das Hauptproblem dieser Gesellschaft.

Vertritt mensch heute auf Basis einer bestimmten Rezeption von Kritik der Politischen Ökonomie und beobachtbarer empirischer Tendenzen, die Position, wonach der Kapitalismus zugleich mit der Produktion einer wachsenden Arbeitslosigkeit eine Zusammenbruchstendenz der Kapitalakkumulation erzeugt, dann wird der- oder diejenige überwiegend von Linken ebenso belächelt, wie früher von den netten Kolleginnen und Kollegen. (Diese ahnen heute immer häufiger, dass das so nicht gut gehen kann! Armut und existenzielle Unsicherheit breiten sich aus.)

Dem entgegen kommen natürlich Strömungen linker Kritik, die bar jeden angemessenen Verständnisses dessen, was Kapital und was Kapitalakkumulation ist, seit Jahren behaupten, wir befänden uns bereits seit Ende der 60iger, Anfang der 70iger Jahre (so genau nimmt mensch das nicht) mitten in der „finalen Krise“ des „warenproduzierenden Systems“. Über soviel Zusammenbruch lässt sich natürlich gut Kopf schütteln.

Nein, der Kapitalismus sei viel zu flexibel, Krisen seien bloße Bereinigungskrisen, nach denen es immer wieder aufwärts geht, sagen die versammelten Marxkenner mit keynesianischen Absichten. Dass keine der Weltmarktkrisen und Börsencrashs nach 1974/75 wirklich „bereinigt“ hat, nämlich die Überakkumulation von Kapital und die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen vermochten, beides sich vielmehr von Zyklus zu Zyklus weiter aufgebaut hat, spielt keine Rolle. Mensch begnügt sich immer wieder mit der Feststellung, dass es ja nach jeder Krise weiter ging und dass von Zusammenbruch nicht die Rede sein könne. Die Krisen der letzten 30 Jahre lediglich als „Bereinigungskrisen“ zu begreifen, das bedeutet etwa, dass man sich mit einer Wohnungsreinigung zufrieden gibt, deren Effekt darin besteht, dass nach jeder Reinigung mehr (Grund-)Dreck zurückbleibt. (Mittlerweile gibt es aber auch reichlich theoretische „Begründung“, dass das Kapital keinerlei Zusammenbruchstendenz erzeugen müsse.)

Die Linke zeigt sich aus unterschiedlichsten Gründen desinteressiert an „Kassandrarufen.“

Die einen sagen, der Kapitalismus sei auch ohne Zusammenbruchstendenz schon schlimm genug und wer dagegen nicht rebelliere, der würde sich auch nicht erheben, wenn die menschliche Reproduktion in der gesellschaftlichen Form der Kapitalreproduktion in großen Teilen zum Erliegen komme. Man brauche sie einfach nicht, diese Kritik an der Zusammenbruchstendenz und diese „Kassandrarufe“.

Andere stellen sich den bedrohlichen Entwicklungen zwar, für sie sind sie aber überwiegend auf „gemachte“ „Entfesselung des Kapitalismus“ oder gar auf gemachte „Entbettung des Marktes“ zurück zu führen. Dieser „Entfesselung“ oder „Entbettung“ gelte es gegenzusteuern, sei es durch keynesianische Wirtschaftspolitik, sei es durch Schaffung von Ansätzen einer solidarischen und obendrein solaren Ökonomie.

Wiederum andere interessieren die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Ökonomie rein gar nicht, und sie meinen, man könne sowieso ein richtiges Leben im falschen, soziale Befreiung im hier und jetzt, realisieren. Unabhängig von den Entwicklungstendenzen der Kapitalakkumulation halten sie es beispielsweise für möglich, dass im Kapitalismus ein Menschenrecht auf bedingungsloses Grundeinkommen als Auftakt für eine große Umgestaltung durchsetzbar sei, gleichgültig, wie hoch die Massenarbeitslosigkeit und die Überakkumulation von Kapital ist. Letztere erscheint ihnen sowieso nur als eine Menge Geld, die es umzuverteilen gelte. Geld sei genug für alle da und dank der großen Produktivität durch moderne Technologie sei die Bereitstellung von ausreichend Gebrauchswerten (für den Markt natürlich) problemlos zu gewährleisten. Irgendeinen Zusammenhang zwischen den überschießenden, überakkumulierten (Privat-)Eigentumstiteln in verschiedenen Geldformen, Wertpapieren und dem Einsatz moderner Technologie in kapitalistischer Produktion können diese Linken nicht erkennen. Wie auch, beschränkt sich doch ihr Verständnis und ihre Kritik des Kapitals auf einfaches beklagen des Profits und der Nicht-Anerkennung (sprich: Verweigerung von Geldeinkommen) von Arbeiten und Tätigkeiten jenseits des Austausch von lebendiger Arbeitskraft gegen Kapital.

In diesem für mich ziemlich deprimierenden Szenario fällt mir am meisten auf, dass die Kritik am Privateigentum immer mehr verstummt. Der Begriff selbst taucht kaum noch auf, geschweige denn, dass ihm irgendeine Relevanz beim Verständnis und der Kritik der bestehenden Ordnung und ihrer Entwicklung zugebilligt würde, oder mensch die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln gar als Kernaufgabe sozialer Befreiung verstehen würde. Man kann sagen, je „moderner“ und „zeitgemäßer“ die Gesellschaftskritik, desto weniger ist darin die Rede vom Privateigentum und desto größer – natürlich - die Distanz zum Marxismus. Das alles ist für mich umso erstaunlicher, als die Privatisierungswut des Kapitals selbst, uns sozusagen ganz aktuell stets von Neuem mit der Nase auf die Bedeutung des Privateigentums in dieser Gesellschaft stößt.

Eine explizite theoretische Rechtfertigung für die „radikale Variante“ der modernen Linken findet diese selbstsichere Verachtung der Kritik am Privateigentum in Moishe Postones „moderner“, „eigenwilliger“ Interpretation der Kritik der Politischen Ökonomie. Für Postone ist Kritik am Privateigentum eben nichts anderes als bloße Kritik an der Verteilung im Kapitalismus. (Über Verteilungskonflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital aber wollen viele modernisierte Linke nichts mehr wissen. Sich damit zu befassen ist unter ihrer Würde.) Dass das Privateigentum für gesellschaftliche Produktionsverhältnisse steht, in denen die gesellschaftliche Arbeit in der Form der Privatarbeit (unabhängig voneinander verausgabte Privatarbeit) steht und damit für einen unkontrollierten und unkontrollierbaren gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang (Wert und Wertgesetz), ist bei Postone und anderen wie ausgelöscht.

In seiner kapitalistischen Form bedeutet Privateigentum ferner progressive soziale Polarisierung, erzeugt und reproduziert durch den Austausch von lebendiger Arbeitskraft gegen Kapital. Kapitalakkumulation bedeutet progressive Produktion von privaten Eigentumstiteln auf der einen Seite und Verarmung einer wachsenden Zahl von lohnabhängigen VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft auf der anderen Seite. (Diese Art der Verteilung wird im wahrsten Sinne des Wortes produziert, indem das Kapital Ware Arbeitskraft auf dem Markt kauft und im unmittelbaren Produktionsprozess produktiv konsumiert!)

„Soziale Polarisierung“ ist die spontane gesellschaftliche Entwicklungstendenz, die sich allemal durchsetzt, gegen jede – auch wohlmeinende - Politik! Sie ist begründet in den Produktionsverhältnissen, dem Zwang zur progressiven Verwertung von Wert. Nein, bei der Verwertung von Wert geht es nicht nur um die gesellschaftliche Unkontrollierbarkeit eines Prozesses, den man dann für die Herrschaft von Abstraktionen kritisiert. Die soziale Brisanz liegt vor allem in der daraus sich ergebenden Verteilung, in der verheerenden Polarisierung zwischen arm und reich, in der maßlosen Anhäufung privater Eigentumstitel, deren einziger Sinn und Zweck darin besteht, in Form von Geld wiederum mehr Geld zu erzielen. Kapitalakkumulation bedeutet nichts anderes als Produktion zum Zweck maßloser Anhäufung privaten Reichtums auf Kosten der Gesellschaft! Sie hat durchaus einen sozialen Zweck, auch wenn ihre Bewegung selbst als rein sachlich, abstrakt und naturnotwendig erscheint.

Diese Maßlosigkeit hat ihren Preis und führt sich selbst ad absurdum in Gestalt von Überakkumulation privaten Reichtums. Absurd wird die Geschichte schon, wenn ein Mann wie Bill Gates erst in einem schroffen ökonomischen Krieg gegen alle Konkurrenten, sein privates, geistiges Eigentum schützt, damit ein riesiges Milliardenvermögen aufhäuft, um nachher - aus „sozialer Verpflichtung“ - durch eine Stiftung Forschungsprojekte zu unterstützen, deren Ergebnisse unter keinen Umständen als geistiges Eigentum gehandelt werden dürfen, um somit deren „non-profit-Charakter“ sicher zu stellen. Auch das ein Hinweis auf „Überakkumulation“. (Hat er etwa „schon“ den Hals voll mit seinen lächerlichen „paar“ Milliarden und muss jetzt mal ein bisschen „Wohlfahrt“ spielen? Das wird die sich ausbreitende Armut bestimmt abschaffen. Wenn man ihn bittet, spendiert er vielleicht mal ein bisschen bedingungsloses Grundeinkommen, weil Menschenrechte für ihn ein hohes, nicht zu verwertendes Gut sind.)

Der Zwang zur progressiven Verwertung von Wert treibt die Kapitalisten zur kontinuierlichen Senkung der „Produktionskosten“ im Allgemeinen und speziell zur Senkung der „Arbeitskosten“. Sofern die Arbeitskosten nicht durch bloße Intensivierung der Arbeit und Lohnkürzungen, etc. bewerkstelligt wird, sondern durch Einsatz „arbeitssparender“ Technologie, erzeugt das Kapital eine Tendenz zu sinkenden Profitraten (Erhöhung seiner organischen Zusammensetzung), der wiederum nur durch Krisen und „Klassenkampf von oben“ begegnet werden kann. Ohne Krisen und „Klassenkampf von oben“ gäbe es nicht einmal die Rückkehr zu neuer Konjunktur mit geringeren Wachstumsraten.

Eine Zusammenbruchstendenz der Kapitalakkumulation entsteht aus dem gesetzmäßigen Fall der Durchschnittsprofitrate des Gesamtkapitals. Sie drückt sich aus in  zunehmender Überakkumulation von Kapital und progressiver Produktion von Lohnarbeitslosigkeit. In der Überakkumulation von Kapital zeigt sich die Bedrohlichkeit dieser Entwicklung für die kapitalistischen Privateigentümer speziell, wie für den gesamten kapitalabhängigen gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Die Rentabilität der Geldanlagen ist in Frage gestellt und damit der ganze Sinn und Zweck kapitalistischer Produktionsverhältnisse und die Fähigkeit zu erweiterter Reproduktion.

In der bedrohlichen Überakkumulation von Kapital und ihren zerstörerischen gesellschaftlichen Konsequenzen kündigt sich das Versagen des Privateigentums an Produktionsmitteln als Basis und Kernstruktur der gesellschaftlichen Reproduktion an. Der Zwang zu seiner progressiven Vermehrung führt zur Krise des Privateigentums. Dies alles geht geschieht in Mitten der größten Reichtums, der diskontinuierlich immer weiter wächst und dabei die Spur wachsender Armut hinter sich her zieht. Es interessiert nicht die Masse der Reichtums, sondern die Prozentzahl, in der er wächst. Es interessiert nicht die Masse der vorhandenen Produktivkräfte und der damit erzeugten Gebrauchswerte, sondern nur die Summe Geld, die das kostet, und die Rate zu der es sich vermehren lässt. Letzte Messlatte für Zustand und Entwicklung der Gesellschaft ist die Vermehrung privaten Reichtums in den Händen weniger. 

Nein, Lohnabhängigkeit, also der gesellschaftliche Zwang vom Verkauf der Ware Arbeitskraft leben zu müssen, garantiert absolut kein sozialrevolutionäres oder gar kommunistisches Bewusstsein. Im Gegenteil, je entwickelter die allgemeine Warenproduktion auf Basis verallgemeinerter Lohnarbeit, desto stärker machen sich ganz offensichtlich Waren-, Geld- und Kapitalfetisch auch im Bewusstsein der Lohnabhängigen breit, beherrschen ihr Denken. Die faktische, unabweisbare, existentielle Abhängigkeit der Menschen von der Kapitalreproduktion (trotz mancher Träume von freier, obendrein ganz und gar betont individueller Selbstbestimmung im hier und jetzt) erzwingt „betriebswirtschaftliche Vernunft“ und marktkonformes Handeln. Solange der Verkauf der Ware Arbeitskraft für die Mehrheit ein Leben und Überleben in den entwickelten kapitalistischen Ländern ermöglicht (teils schlecht, teils passabel), wird diese Mehrheit der Menschen in den Schranken einer Existenz von WarenkäuferInnen und –verkäuferInnen denken und handeln, wenn auch in den besonderen Formen der VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft, was schon mal Konflikt mit den ökonomischen Gesetzen der Verwertung von Kapital und entsprechende Auseinandersetzungen nicht ausschließt. Eine Aussicht auf massenhaftes Verlangen nach einer anderen Form gesellschaftlicher Reproduktion und gesellschaftlichen Lebens, ohne existenzielle Unsicherheit und massenhafte Armut, gegründet auf Gemeineigentum, kann sich aber nur dort und in dem Maße entfalten, wo und wie das Privateigentum sich selbst in Frage stellt, indem seine Vermehrung als Grundlage gesellschaftlicher Reproduktion versagt. Diese Verlangen setzt somit gesellschaftliche Entwicklung voraus, deren Tempo nicht wir bestimmen.

Man muss sich nur vorstellen, dass die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungstendenz der letzten 30 Jahre noch einmal 30 Jahre oder 3 konjunkturelle Zyklen mit einer durchschnittlichen Länge von 10 Jahren und Fortschreibung der bekannten sozialen Ergebnisse anhält (eine Pleitenrekord jagt den nächsten, von Zyklus zur Zyklus setzt sich eine höhere Sockelarbeitslosigkeit fest), um zu einem Zustand zu gelangen, bei dem man mit Sicherheit vom Versagen des Privateigentums reden kann. So viel Zeit muss man dem Kapital schon geben, um seine Schranke erneut, wie nach der Weltwirtschaftskrise von 1929, für alle spürbar unter Beweis stellen zu können. Aber offensichtlich hält die modernisierte Linke eine solche Entwicklung für ausgeschlossen, oder er will sich einfach nicht vorstellen, welche sozialen Konsequenzen das hätte. Was wäre wohl, wenn wir heute 10, 15 Millionen oder mehr Lohnarbeitslose hätten? Jedenfalls mehr als ein Knistern im Gebälk des doch ehemals so wohl bestellten Hauses. Aber darauf wird keine „soziale Phantasie“ verschwendet. Warum auch, wenn man in 30 Jahren schon ein bedingungsloses Grundeinkommen haben kann. Dann wird uns das alles nichts mehr anhaben können. Oder?

Dieses Versagen des kapitalistischen Privateigentums bedeutet die Möglichkeit sozialer Befreiung für die Masse der Lohnabhängigen! Wie ich meine, die einzige, sofern sie nicht durch eine erneute Barbarei (wie durch Faschismus und Krieg nach 1929) und darauf aufbauende Rekonstruktion des Kapitalverhältnisses im Keim erstickt wird. (Merke: das hat nichts mit dem Erwarten einer „finalen Krise“ zu tun!) Um diese Möglichkeit aber wahrnehmen zu können, muss man sie erkennen und sich auf sie vorbereiten! Ohne verständige Kritik am Privateigentum und seiner unkontrollierbaren Tendenz zu sozialer Polarisierung ist jede Chance von Anfang an vertan! Ohne Focus auf diese Kritik gibt es nicht einmal die Chance auf die Durchbrechung der „gesellschaftlichen Hegemonie“ bürgerlichen Denkens und den Zusammenschluss der Masse der lohnabhängigen Menschen gegen das Kapital!

Jeder Versuch das notwendige Heranreifen der objektiven Bedingungen für soziale Revolution durch „Modernisierung“ der Gesellschaftskritik umgehen zu können, in der irrigen Annahme der Wille zur Überwindung des Kapitalverhältnisses sei eh ausschließlich Produkt intellektueller Entwicklung, blamiert sich schon rein theoretisch ständig aufs Neue durch ganz offensichtliche Ungereimtheiten und willkürliche Abstraktionen von der realen Entwicklung. Wenn aber richtige Erkenntnisse preisgegeben und ignoriert werden (z.B. verständige Kritik am Privateigentum), weil mensch nach dem „richtigen“, „zeitgemäßen“ Dreh, der modernen Idee, sucht, mit der endlich schon heute Einfluss ausgeübt oder der gar der Durchbruch geschafft werden könnte, dann verhindert das zweierlei:

·         die Herausarbeitung der nötigen Klarheit in der Kritik des Kapitals

·         die nötige Verständigung über jene kurzfristigen und langfristigen Ziele sozialer Befreiung, die sich realistischer Weise aus den objektiven Verhältnissen ergeben

Die teils aus marxistischem, teils aus antimarxistischen Selbstverständnis betriebene „Modernisierung“ der Gesellschaftskritik in Gestalt von Neuinterpretationen der Kritik der Politischen Ökonomie oder in Gestalt ihrer mehr oder weniger offenen Ablehnung hat zu einer wahren Begriffsinflation geführt, die oft die Verständigung über einfachste Sachverhalte unter Linken sehr erschwert oder unmöglich macht.

(Ohne jede Wertung sollen hier nur einige Namen genannt werden, auf die teils ausgewählt oder auch mal beliebig „zusammengefasst“ Bezug genommen wird: Altvater, Bischoff, Gorz, Heinrich, Holloway, Kurz, Negri/Hardt, Postone und viele andere. Bei keinem dieser Autoren wird man eine Zuspitzung der Gesellschaftskritik auf die Kritik am kapitalistischen Privateigentum mit entsprechenden Konsequenzen mehr finden. Einige sind mittlerweile zu grundsätzlichern Anhängern von Marktwirtschaft geworden, auf die man grundsätzlich nicht verzichten könne.)

Auch in der intellektuellen Entwicklung der Linken tut sich eine rapide fortschreitende „Polarisierung“ auf, allerdings nicht verteilt auf 2 Pole, sondern auf immer mehr Pole. Je eindeutiger die gesellschaftliche Entwicklung die beiden Pole von Lohnarbeit und Kapital schroff gegenüberstellt, desto beliebiger und buntscheckiger wird die Kritik dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Solange diese theoretische Ausdifferenzierung durch viele, teils durchaus beeindruckend belesene Personen, vor dem Hintergrund wenig entwickelter sozialer Auseinandersetzung anhält oder weiter fortschreitet, bleibt letztlich jede praktische Erfolgsperspektive ausgeschlossen.

Auch auf dem Gebiet der theoretischen Kritik scheint erst wieder alles möglich, wenn nichts mehr geht, wenn also die babylonische Sprechverwirrung komplett ist und der gordische Knoten für Verständigung durchschlagen wird durch die gesellschaftliche Praxis der unerträglich werdenden sozialen Polarisierung. So besteht zumindest die Möglichkeit, dass auch der „radikalste“ und „originellste“ Theoretiker das Grundproblem gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Emanzipation nicht mehr übersehen kann und sich wieder mit dem kapitalistischen Privateigentum, das heißt, den grundlegenden Produktionsverhältnissen, beschäftigen muss; es sei denn, er will mit dem, was er zu sagen hat, dann so wenig wahrgenommen werden, wie ich mit meinen Einwänden heute.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns seinen  Text Ende September zur Veröffentlichung in der Nr.10-06.