Betrieb & Gewerkschaft
Marseille / Korsika: 23tägiger Arbeitskampf gegen Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM endet mit einer Niederlage – Privatisierung „wie in einer Bananenrepublik“ (Zeitschrift Politis)

von
Bernhard Schmid
10/05

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Der Konflikt um die in Marseille ansässige Schifffahrtsgesellschaft SNCM (Société nationale Corse – Méditerranée) endete am Donnerstag, 13. Oktober mit der Beendigung des Streiks, ohne dass die hinter dem Ausstand stehenden Forderungen erfüllt worden wären. „Spätestens am Freitag“ sollten die Fährverbindungen mit Korsika, die – zahlenmäßig vor dem Schiffsverkehr von und nach Algerien rangierend – das Hauptgeschäft der SNCM bilden, wieder aufgenommen werden.

Doch vor einer Untersuchung der Grüne dieser Niederlage, soll zuerst ein Rückblick auf einen 23tägigen spektakulären Streik geworfen werden.

Momentaufnahme eines Aufsehen erregenden Kampfes

Für spektakuläre Bilder sorgten die Seeleute der in Marseille ansässigen Schifffahrtsgesellschaft SNCM in der letzten Septemberwoche. Die Abfolge der Bilder ist beeindruckend: Man sah ein am vorigen Mittwoch (28. September) von rund 40 Seeleuten aus dem Marseiller Hafen ins nordkorsische Bastia „entführtes“ Schiff, die Pascal Paoli. Dann die Erstürmung des Fährschiffes durch Mitglieder des Sondereinsatzkommandos GIGN – eine militarisierte Polizeitruppe, die dem Verteidigungsministerium untersteht -, die sich von Helikoptern aus an Deck abseilen und den „Meuterern“ Handschellen anlegen. Den spöttischen und fast heiteren Empfang, mit ironischem Applaus, der dem Sturmkommando an Bord bereitet wurde. Schließlich der Jubel, der die ersten Freigelassenen - am Freitag waren nu noch zwei der „Meuterer“ in Haft - anschließend auf Korsika empfing. In Marseille hätte ähnliches passieren können, deswegen hatte der GIGN das „rückeroberte“ Schiff auch nicht dorthin zurück-, sondern nach Toulon umgeleitet. Am Samstag, 30. September wurden auch die letzten vier der Festgenommenen, die zunächst noch als „Rädelsführer“ festgehalten wurden, freigelassen, da ansonsten eine Eskalation auf Korsika befürchtet wurde. Gegen die vier droht jedoch ein Strafverfahren wegen „gefährlichen Eingriffs in den Schiffsverkehr“ eröffnet zu werden.

Dieser Aufsehen erregendste Moment des Ausstands gegen die drohende Zerschlagung der SNCM, darf nicht vergessen machen, dass dahinter eine breitere Streikfront stande. Der gesamte Hafen von Marseille, nicht nur die Anlegestellen der SNCM, wurde über 14 Tage hinweg mit wechselnder Intensität bestreikt. In Sète, 150 Kilometer weiter westlich, wurden die unter Zeitvertrag stehenden Marseiller Hafenarbeiter – die dort von ihrem Arbeitgeber zu Ersatzarbeiten gezwungen werden sollten – durch ihre Kollegen von der CGT in der letzten Septemberwoche solidarisch in Empfang genommen und vor dem Arbeitszwang geschützt. In Fos-sur-Mer und Varéla, im weiteren Umland von Marseille, lagen mehrere Tage lang die gesamten Ölhäfen lahm.

Worum geht es?

Hafenarbeiter und Seeleute wehr(t)en sich gegen den drohenden Verkauf der SNCM, aber auch gegen Pläne zur Privatisierung des gesamten Marseilles Freihafens (PAM, Port autonome de Marseille). Die Gesellschaft, die seit Jahrzehnten die Fährlinien nach Korsika und Algerien betreibt, ist seit der Öffnung ihres Sektors für private Konkurrenz 1996 in die roten Zahlen gerutscht. Mit verantwortlich dafür ist der französische Staat, dem bisher 100 Prozent der Anteile gehörten: Als ideeller Gesamtvertreter des einheimischen Kapitals verpflichtete er die SNCM dazu, nur Schiffe von französischen Werften zu kaufen; so ließ er das Superschiff der SNCM (die zwischen Marseille und Algier sowie Ajaccio verkehrende „Napoléon Bonaparte“) von 1994 bis 96 auf der Atlantikwerft von Saint-Nazaire bauen, um dort Arbeitsplätze zu sichern. Dabei dachte der französische Staat aber nicht daran, der Gesellschaft auch finanziell unter die Arme zu greifen, wenn sie dadurch höhere Kosten hatten als ihre privaten Konkurrenten (vor allem das aufsteigende Konkurrenzunternehmen Corsica Ferries). Die SNCM hatte aber auch höhere Personalkosten, da sie mehr Leute beschäftigt und kämpferische Gewerkschaften hat, die für die Einhaltung nicht allzu ungünstiger Tarifverträge sorgten.

Die KP-nahe Tageszeitung „L’Humanité“ vom 6. Oktober behauptet, das Konkurrenzunternehmen Corsica Ferries arbeite in Wirklichkeit mit Verlust und schreibe dicke rote Zahlen (-7,9 Millionen Euro), lasse aber keinerlei Transparenz über seine reale wirtschaftliche Situation herrschen . Es halte seine Geschäftspolitik nur aufrecht, um das öffentliche Unternehmen SNCM zu Fall zu bringen und um ein privates Monopol errichten zu können, mit entscheidenden Komplizenschaft in der regierenden Rechten (auf dem französischen Festland wie auf Korsika). Fest steht, dass die im korsischen Bastia ansässige Gesellschaft Corsica Ferries ein bisher völlig undurchsichtiges Geflecht von italienischen, schweizerischen und luxemburgischen Firmen darstellt, in dessen Konten niemand Einblick hat. Und die Zeitschrift „Politis“ (13. Oktober) stellt fest, dass dieses Unternehmen – obwohl in Frankreich aktiv, wo es Subventionen für den (durch die öffentliche Hand geförderten, da die strukturschwache Region Korsika betreffend) Touristentransport von und nach Korsika einkassiert – seine Schiffe unter italienischer Flagge fahren lässt. Damit profitiert es von den niedrigen italienischen Lohnkosten, da der dortige Bruttolohn bei Seeleuten um 30 Prozent niedriger liegt als in Frankreich und ferner verschiedene soziale Vorteile, die den französischen Beschäftigten garantiert werden, unbekannt sind.

Die Regierungspläne zur Privatisierung der SNCM

Der ursprüngliche Plan der Pariser Regierung, der am 19. September 05 bekannt gegeben wurde und zum unmittelbaren Auslöser des Konflikts wurde, sah zuerst vor, die Gesellschaft zu 100 Prozent zu privatisieren und geschlossen an einen französisch-amerikanischen Investmentfonds zu verkaufen. Dieser hätte die SNCM freilich nicht behalten, um sie zu nutzen – der Fonds, der bei 500 Millionen Euro an z. Zt. verwaltetem Kapital nur 15 Angestellte zählt, hat keinerlei Kompetenz im Transportsektor –, sondern das Ziel verfolgt, die SNCM „auszuschlachten“ und ihre Reste weiter zu verkaufen. Es handelte sich um die Investmentgesellschaft „Butler Capital Partners“.

Im Durchschnitt behält der Investmentfonds „Butler Capital Partners“ die aufgekauften Firmen sieben Jahre, bevor sie (oftmals nach Zerlegung) wieder den Besitzer wechseln. Da diese Frist bei anderen vergleichbaren Investmentfonds durchschnittlich nur vier bis fünf Jahre beträgt, handelte die französischen Regierung den Anleger zunächst als angeblich besonders humanen Vertreter seiner Zunft. In Wirklichkeit dürfte ein Faktor eine größere Rolle bei der Auswahl des Aufkäufers gespielt haben: Walter Butler, der Inhaber des Investmentfonds, ist (rein zufällig natürlich) ein Studienfreund von Premierminister Dominique de Villepin aus gemeinsamen Tagen bei der Verwaltungshochschule und französischen Eliteschmiede ENA (Ecole nationale de l’administration).

Im Rahmen des ursprünglichen Übernahmeplans schlug „Butler Capital Partners“ vor, 35 Millionen Euro Kaufpreis für die SNCM zu zahlen. Deren realer Wert wird auf mindestens 450 Millionen Euro geschätzt; ihre Aktivposten sind über 500 Millionen wert, allerdings fährt die SNCM (aus o.g. Gründen) Defizite ein, die im laufenden Jahr voraussichtlich knapp 30 Millionen jährlich erreichen. Obendrein forderte der Betreiber des Investmentfonds, die öffentliche Hand solle die defizitbedingten Schulden der SNCM in Höhe von 113 Millionen Euro bezahlen, damit er das Unternehmen schuldenfrei (für einen Bruchteil des realen Werts) übernehmen könnte. Gleichzeitig kündigte der Investmentfonds von vornherein an, er werde kurzfristig 350 bis 400 Arbeitsplätze bei der SNCM (das entspricht über 15 Prozent der Beschäftigten) abbauen.

Nach den erheblichen sozialen Konflikten seit Ende September hat die Regierung ihre Privatisierungspläne dann überarbeitet. Ihr neues „Angebot“ sah zunächst noch so aus: „Butler Capital Partners“ sollte weiterhin 40 % der Anteile an der bisher öffentlichen Verkehrsgesellschaft SNCM übernehmen. Zusätzlich sollte ein anderes Privatunternehmen einsteigen, der private Transportbetreiber Connex (eine Filiale des Véolia-Konzerns, der ehemaligen Vivendi-Gruppe). Als „industrieller Betreiber“ sollte Connex 30 % der Anteile übernehmen und das Alltagsgeschäft betreiben. Connex wiederum gehört einem persönlichen Freund – dieses Mal nicht von Premierminister Dominique de Villepin (wie der Inhaber des Butler-Investmentfonds), wohl aber einem Spezi von Präsident Jacques Chirac: Henri Proglio. Der französische Staat sollte seinerseits noch 25 % der Anteile behalten (gegenüber ursprünglich geplanten null Prozent), da die Gewerkschaften und die um ihre Arbeitsplätze fürchtenden Beschäftigten ihn in die politische Verantwortung nehmen möchten. Ferner sollten die abhängig Beschäftigten selbst – 2.360 Personen arbeiten bei der SNCM – insgesamt 5 % der Anteile übernehmen.

Dieses Vorhaben stieß wiederum auf spürbare Widerstände seitens der Gewerkschaften, die – selbst wenn sie eine Teilprivatisierung nicht ausschlossen - die Aufrechterhaltung eines Anteils der öffentlichen Hand in Höhe von mindestens 51 % fordern.

Bei der Verhandlungsrunde vom Dienstag, 4. Oktober wollte die Pariser Regierung dieser Forderung jedoch nicht nachgegeben. Der neue, ultimative und letzte „Rettungsvorschlag“ der Regierung lautete nunmehr folgendermaßen: Der Anteil der öffentlichen Hand bleibt bei 25 Prozent. Der Anteil der abhängig Beschäftigten (bei dem es sich notwendigerweise um Streuaktien handeln würde, also um einen weitgehend zersplitterten Aktienbesitz) sollte von 5 auf 9 Prozent erhöht werden. Damit, so behauptete die Pariser Regierung, sei eine „Sperrminorität“ (in Höhe von einem Drittel der Gesellschaftsanteile) gewährleistet, da die Anteile des französischen Staates und der abhängig Beschäftigten ja nunmehr 33 bzw. 34 Prozent betrügen. Tatsächlich benötigen einige grundlegende, strategische Unternehmensentscheidungen (wie beispielsweise der Verkauf größerer Bestandteile der Gesellschaft) eine Zwei-Drittel-Mehrheite der Stimmanteile unter den Aktionären. Dagegen wären diese Minderheitsanteile im Alltagsbetrieb, den weiterhin Connex als „industrieller Betreiber“ übernehmen soll, weitgehend bedeutungslos. Der Investmentfonds „Butler Capital Partners“ soll weiterhin den größten Anteil (nunmehr 38 %) übernehmen und die Firma Connex 28 %. Beide privaten Übernehmer werden nur 35 Millionen Euro mitbringen, wenn sie in die SNCM einsteigen, die fast 15 mal so viel wert ist.

Ein Bericht der KP-nahen Tageszeitung „L’Humanité“ vom 06. Oktober rückte den durch die Regierung eingesetzten „industriellen Betreiber“, Connex, in den Blickpunkt der Kritik. Die Zeitung berichtet über die vorangegangenen Erfahrungen mit ebendieser Firma im britischen Eisenbahnsektor. Connex hatte anlässlich der Privatisierung des Eisenbahnnetzes unter der konservativen Regierung von John Major, 1996, den Betrieb von 2 der nunmehr 23 privatisierten Bahnnetze übernommen: South Central und South East. Letztere umfasst den Londoner Vorort- und Pendlerverkehr in Richtung Süden und Osten und ist damit ein besonders lukratives „Beutestück“.

Die Verwaltung des Eisenbahnbetriebs unter Connex war jedoch dermaßen desaströs (NutzerInnen beklagten sich täglich über dauernde Verspätungen und schmutzige Züge), dass es zu einer Premiere kam: Die britische öffentliche Hand entzog im Jahr 2003 erstmals dem privaten Betreiber wieder seine Nutzungserlaubnis. Connex hatte bis dahin 58 Millionen Pfund (rund 85 Millionen Euro) an öffentlichen Subventionen eingesteckt. Nunmehr forderte die Gesellschaft, dass ihr nochmals zusätzliche 2 Millionen Pfund in den Rachen gestopft würden. Das war dann sogar der neoliberalen britischen Regierung zu viel: Sie übernahm vorläufig wieder selbst das Bahnnetz South-East (182 Bahnhöfe, 3.000 Beschäftigte, täglich 120.000 Passagiere) - sucht jedoch bereits nach einem neuen privaten Betreiber, während die britischen Gewerkschaften die Renationalisierung des gesamten Eisenbahnwesens fordern.

Dieselbe Zeitung berichtet auch, dass die Privatisierung des Schifffahrtsbetriebs zwischen Marseille und Korsika anscheinend von längerer Hand geplant ist. „L’Humanité“ enthüllt, dass die korsische Regionalregierung (eine Koalition aus liberal-konservativen Rechten und korsischen Nationalisten, wobei letztere sich nicht eben als progressiv erwiesen haben) seit längerem für 2007 eine Neudefinition der Auflagen für den öffentlichen Dienst im Transportbereich plant. An dem Text wird demzufolge seit längerem gearbeitet. Demnach soll nur noch eine Schrumpfversion, die allein den Gütertransport (aber nicht mehr den besonders lukrativen TouristInnen-Transport) umfassen würde, des als solcher definierten „öffentlichen Dienstes“ anerkannt werden. Den Privatkonkurrenten, so die seit längerem gehegten Pläne, soll damit der lukrativste Sektor vollständig „geöffnet“ werden. Bereits heute erhält die private Konkurrenz für den Touristentransport in Richtung Korsika– ebenso wie die SNCM – öffentliche Subventionen, im Namen der Strukturförderung für die strukturschwache Region Korsika.

Sozialer Konflikt und korsischer Nationalismus

Den Privatisierungsplänen schlug, und schlägt, harte Opposition entgegen. Dabei treffen sich aber in Wirklichkeit zwei verschiedene Problemstränge: Der soziale Konflikt vermischt sich mit dem Benachteiligungsgefühl eines Teils der korsischen Inselgesellschaft. Diese Empfindung kann sich auf einen gewissen Realitätsgehalt stützen – tatsächlich hat der französische Staat, der die Mittelmeerinsel 1768 der Republik Genua abkaufte, Korsika zwei Jahrhunderte lang weitgehend unterwickelt belassen. Der Grund dafür war, dass Korsika lange Zeit hauptsächlich als Reservoir für die Rekrutierung von Siedlern für die Kolonien und von Freiwilligen für Armee und Polizei genutzt wurde.

Längst aber ist diese durchaus reale Benachteiligung in der korsisch-nationalistischen Bewegung, die sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts herausbildete, zum Mythos geworden: Ihr gilt Korsika im Prinzip als „zu befreiende Kolonie“. Diese mystifizierende Idee von der „Kolonialsituation“, die auf einer oberflächlichen Parallele zwischen der Situation im französisch beherrschten Algerien und der jetzigen auf Korsika beruht, übersieht dann doch eine Reihe von Besonderheiten. Denn Korsen haben nicht nur volle Staatsbürgerrechte in Frankreich (anders als frühere Kolonialuntertanen), sondern stellten auch eine Reihe von Führungsfiguren des Staats – vom „Kaiser der Franzosen“ Napoléon I. bis zum früheren Innenminister Charles Pasqua. Für die wirklichen Kolonialsubjekte, von Algerien bis Vietnam, war das undenkbar.

Der Mythos vom „nationalen Befreiungskampf auf Korsika“ hat sich faktisch längst in Luft aufgelöst, viele der bewaffneten Nationalistengrüppchen agieren längst wie reine Mafiosi. Übrig geblieben ist ein subjektives rebellisches Gefühl, das jetzt auch den teilweise spektakulären Aktionen des Syndicat des travailleurs corses (STC, „Gewerkschaft der korsischen Arbeiter“) Nahrung gibt.

Diesem korsisch-nationalistischen Gewerkschaftsbund, bzw. der ihm angeschlossenen Seeleutegewerkschaft, gehörten auch die 40 „Meuterer“ an Bord der Pascal Paoli an. Unter den vier „Rädelsführern“, denen jetzt noch eine strafrechtliche Anklage droht, befinden sich der Chef der STC-Seeleutegewerkschaft, Alain Mosconi, sowie zwei seiner Brüder. Die 40 so genannten „Schiffsentführer“ hatten übrigens gar nicht nach einem detaillierten, vorab ausgearbeiteten Plan gehandelt, sondern reichlich spontan. In einem schönen Moment während des Konflikts hatten sie beschlossen: „Wir gehen jetzt nach Hause“; da aber konfliktbedingt alle Schiffsverbindungen nach Korsika blockiert waren, entschieden sie daraufhin eben einfach, „das Schiff mitzunehmen“. Mediterrane Spontaneität traf mit einem subjektiv empfundenen Rebellentum und „Heimweh nach Korsika“ zusammen. Damit handelt es sich weder um einen staats- und öffentlichkeitsgefährdenden „gemeingefährlichen Plan“, wie die Staatsmacht felsenfest behauptet, noch um eine geniale politische Aktion. Ein starkes Symbol hat ihre spontane Aktion dennoch gesetzt...

Im aktuellen Konflikt sind die korsischen Nationalisten freilich inkonsequent gegenüber ihren eigenen ideologischen Prinzipien, oder Mythen: Der jetzige Kampf richtet sich gegen den Rückzug der französischen öffentlichen Hand aus der SNCM, damit die Beschäftigten nicht fallen gelassen werden. Derselbe französische Staat wird aber gleichzeitig gern, wenngleich das mittlerweile eher zur Folklore gehört, als „der kolonialistische Unterdrückerstaat“ bezeichnet. Nun ist es sicherlich (ganz allgemein betrachtet) völlig legitim, gleichzeitig die sozialen Funktionen des aktuell nun einmal bestehenden Staates einzufordern, und dessen repressive Funktionen zu bekämpfen. Dagegen richtet man aber an eine Kolonialmacht nicht unbedingt die Forderung, präsent zu bleiben - sondern richtet seine Anstrengungen eher darauf, diese möge sich doch bitte gefälligst verpissen... (Allerdings hat der STC, zusammen mit den korsisch-nationalistischen Abgeordneten im Inselparlament, auch die Forderung aufgebracht, das bisherige öffentliche Unternehmen SNCM solle vom französischen Staat auf die Region Korsika übertragen werden. Die Frage stellt sich dabei, ob das alleinige Steueraufkommen der Einwohner/innen Korsikas dafür genügen wird, die bisher durch die öffentliche Hand finanzierte SNCM aufrecht zu erhalten – oder ob dazu doch das Steueraufkommen „des Festlands“ benötigt wird.)

Diese politische Inkonsequenz der korsischen Nationalisten datiert freilich nicht erst von gestern. Der STC war am 9. Mai 1984 im Umfeld des damaligen FLNC („Nationale Befreiungsfront Korsikas“, bewaffnete Organisation) gegründet worden. Der Hauptinitiator seiner Gründung und jetzige Vorsitzende, Jacky Rossi, der früher der französischen KP angehört hatte, hatte damals allerdings den FLNC bereits seit mehreren Jahren (seit 1978, zwei Jahre nach dessen Gründung) wieder verlassen. Noch 1989 hatte der STC aber einen Streik der anderen Gewerkschaften auf denselben Fährlinien, auf denen auch jetzt der Arbeitskampf abläuft, im Namen „korsischer Interessen“ boykottiert und bekämpft: Die Anbindung der Insel an den Kontinent und ihre Versorgung dürfe nicht gefährdet werden. Im September 2004 hatten der STC und die anderen Gewerkschaften am Marseiller Sitz der Fährgesellschaft sogar gegeneinander gestreikt. Zuerst hatte die korsische Nationalistengewerkschaft für die bevorzugte Einstellung von Einwohnern der Insel bei der SNCM gestreikt - im Anschluss dann hatten die CGT und andere Organisationen für die Rücknahme dieser „Diskriminierung“ zum Ausstand geblasen. Am Schluss stand eine Lösung, die soziale Interessen über regionale Zugehörigkeit stellte: Alle prekär, etwa mit Zeitverträgen, auf den Fähren Beschäftigten mussten durch die SNCM festangestellt werden - egal wo sie wohnen.

Im aktuellen Konflikt um die Zukunft der SNCM versucht der korsische Nationalismus, sich zu regenerieren, indem er sich an die sozialen Aktionen „seiner“ Gewerkschaft (des STC) dranhängt und vom starken Symbol der „Meuterei auf der Pascal Paoli“ zu profitieren versucht. „Die Gewerkschafter wissen (...) dass die soziale Bewegung auf Korsika dazu beiträgt, die Nationalisten aus der Sackgasse herauszuholen, in der sie sich seit dem Scheitern des Referendums (über die von den Nationalisten unterstützte Reform der Institutionen auf Korsika) vom Juli 2003 befindet“, analysiert Le Monde. Dieselbe Pariser Zeitung zitiert den linksliberalen Vorsitzenden der Menschenrechtsliga auf der Insel, André Paccou („Die nationalistischen Politiker laufen der sozialen Bewegung hinterher... In Korsika ist die soziale Frage dabei, dem Nationalismus den Rang abzulaufen“) und analysiert: „Nach seinen aufeinanderfolgenden Misserfolgen ... versucht der korsische Nationalismus, sich wieder aufzurichten, indem er die soziale Frage aufgreift. Ein Ausdruck davon, das die wirtschaftliche Unterentwicklung, an der Korsika leidet, ein wichtigeres Problem ist als die Entwicklung der Institutionen, denen (der nationalistische Abgeordnete) Talamoni und seine Freunde in den letzten Jahren all ihre Aufmerksamkeit widmeten,“ Tatsächlich bedeutet es, die richtige(n) Frage(n) anzuschneiden, wenn man jene der wirtschaftlichen und sozialen Situation auf Korsika stellt. Dort liegen die Löhne der abhängig Beschäftigten (vor allem im öffentlichen Dienst, Tourismus und Handel) im Durchschnitt um 20 Prozent unterhalb derer des französischen Festlands. Die Preise dagegen liegen um15 Prozent über denen des „Kontinents“, ein Ausfluss der Inselsituation und der Transportnotwendigkeiten (laut Zahlenangaben des STC-Vorsitzenden Jacky Rossi, die in „Le Monde“ vom 8. Oktober zitiert werden).

Dabei unterscheidet sich der Aktionsmodus des STC, als kollektiv handelnder Beschäftigtenorganisation, grundsätzlich von dem der übrigen korsischen Nationalisten: Diese kennen ansonsten nur entweder das parlamentarisch-institutionelle Agieren und Gestikulieren im Abgeordnetenhaus (etwa des Anwalts Jean-Guy Talamoni, Hauptvertreter der korsischen Nationalisten im Inselparlament und Chef des parlamentarischen Ausschusses für EU-Angelegenheit, der versucht, positiv an das Projekt eines neoliberalen „Europa der Regionen“ anzudocken und sich so gegen Paris auf Brüssel zu stützen) oder aber den „bewaffneten Kampf“ respektive „Terrorismus“. Bei letzteren handelt es sich um verdeckte Aktionen bewaffneter Klein- und Kleinstgruppen, die nächtlich operieren (im Gegensatz zu den Gewerkschaftern des STC, die – selbst als „Piraten auf der Pascal Paoli“ – kollektiv und mit offenem Gesicht agieren). Der Kampfbegriff „Terrorismus“ ist dabei sicherlich etwas hoch gegriffen, denn oft haben diese Aktionen – gegen Staatsgebäude – eine eher folkloristisch wirkende Note. Jedenfalls haben sie, in aller Regel, weit weniger tödliche Konsequenzen als die mörderischen Aktionen der ETA, von den Massakern des islamistischen Terrorismus in Algerien völlig zu schweigen. Anders sieht es mit der Gewalt zwischen rivalisierenden Fraktionen des korsischen Nationalismus aus, die in den Jahren des „Bruderkriegs“ in den 1990ern über 30 Tote forderte. Im Hintergrund stehen dabei freilich eher mafiöse (Eigen)interessen.

Derzeit gelingt es dem STC (der seine Mitgliederzahl mit 4.600 angibt - eine weit höhere Zahl als die „politischen“ oder bewaffneten Organisationen des korsischen Nationalismus) seit kurzem, als führende Gewerkschaftsorganisation auf Korsika aufzutreten und auch erfolgreich Bündnispolitik mit anderen Gewerkschaften zu betreiben. Bei den Arbeitsgerichtswahlen von Dezember 2002 (in ganz Frankreich handelt es sich um Laiengerichte, die – landesweit am selben Tag – per Listenwahlen besetzt werden) konnte der STC auf Korsika erstmals die CGT an Stimmen überrunden. Nunmehr stellt der STC auf der Insel 19 gewählte Arbeitsrichter/innen, die CGT hingegen 18.

Bei den Demonstrationen vom 1. Oktober 2005, anlässlich des Konflikts um die SNCM-Privatisierung, konnte der STC eine intersyndicale (ein übergewerkschaftliches Streik- oder Organisationskomitee) um sich herum scharen und als Hauptveranstalter auftreten. Erstmals arbeiteten die CGT auf Korsika, die (ebenso wie die KP) den korsischen Nationalismus grundsätzlich ablehnt und an der Einheit der französischen Republik festhält, und der STC dabei zusammen und zogen an einem Strang. Die korsisch-nationalistische Gewerkschaft wird dabei jedoch ihrerseits in den letzten Jahren zunehmend in Widersprüche geraten: So muss sie in jüngerer Zeit des öfteren (von der Insel oder auch vom Festland stammende) Lohnabhängige gegen korsisch-nationalistische Arbeitgeber verteidigen. Und letztere stellen dabei mitunter auch korsisch-nationalistische Militante als Sicherheitsdienst oder Prügelcombo ein...

Wenn das korsische Rebellentum jetzt mit dem sozialen Widerstand der übrigen Mitarbeiter bei der SNCM zusammentrifft und alle Gewerkschaften an einem Strang ziehen, dann ist das vom Ergebnis her nur zu begrüßen. Jedoch wäre es Zeit, sich von den Mythen des korsischen Nationalismus zu verabschieden.

Eine bewaffnete Splittergruppe auf der Insel, eine der Fraktionen des vielfältig zersplitterten FLNC (Front de libération nationale de Corse, „Nationale Befreiungsfront Korsikas“) laut Bekennerbrief, versuchte von dem entstandenen Aufruhr zu profitieren. Am Donnerstag abend (29. September) schoss sie eine Rakete, eine Art Panzerfaust – aber ohne Sprengladung – auf die Präfektur in der Inselhauptstadt Ajaccio ab. Verletzt wurde niemand; aber eine Telefonistin, neben der das Geschoss einschlug, erlitt einen Schock. Dieses Attentat erlaubte es dem hyperaktiven französischen Innenminister (und voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten 2007) Nicolas Sarkozy, sich in den Konflikt einzuschalten und seine Rübe in Kamera zu halten – auf Besuch in Korsika „aus Solidarität mit den bedrohten Staatsrepräsentanten“. Der Mann hatte gerade noch gefehlt..., Ende September hatte Sarkozy sich noch öffentlich beklagt, er „habe (s)eine Ideen für die Rettung der SNCM“, aber ihn habe „ja niemand nach meiner Meinung gefragt“. (Die Rivalität zwischen Präsident Chirac und Premierminister de Villepin einerseits, dem „Herausforderer“ Sarkozy andererseits ist notorisch.)

Später meldeten sich die bewaffneten Nationalistengrüppchen erneut zu Wort. Am Samstag (8. Oktober) drohte der „FLNC des 22. Oktober“, eine der bewaffneten Fraktionen oder Fraktiönchen, mit Attentaten gegen die beiden Firmen, die als potenzielle private Übernehmer der SNCM bereit stehen – also gegen den Investmentfonds „Butler Capital Partners“ und die Konzernfiale Connex. Am Abend desselben Tages, des 8. Oktober, explodierte in einem – leeren – Zollgebäude im Hafen von Bastia eine Sprengladung, es gab keine Verletzten. Bisher wurde kein Bekennerschreiben bekannt, allgemein wird jedoch eine „Warnung“ durch den „FLNC des 22. Oktober“ vermutet. Weitere Anschläge folgten, etwa ein Raketenanschlag auf die Präfektur von Bastia am 13./14. Oktober, der knapp sein Ziel verfehlte.

Diese auf der Insel weithin mystifizierte Form von vermeintlichem „Widerstand“ ist der absolut falsche Weg. Vielversprechender ist die breite soziale Streikfront, die den Ausstand der Seeleute bei der SNCM unterstützt – auf dem Kontinent genauso wie auf der Insel.

Auswirkungen der Verkopplung von sozialer Frage und korsischem Nationalismus

Konkret hat die Mischung aus sozialem Konflikt und Ausdrucksformen des korsischen Nationalismus, die das in den Medien widergespiegelte Bild vom Kampf um die SNCM-Privatisierung prägt, unterschiedliche politische Auswirkungen. Auf der Insel sorgt sie dafür, dass fast alle aktiven Kräfte (aber aus unterschiedlichen Motiven, sozialen und/oder nationalistischen) hinter dem Ausstand der SNCM-Beschäftigten stehen. Auf dem französischen Festland aber sind die Wirkung und die Nachwirkungen des Konflikts weitaus diffuser.

Protestgeneigte politische und soziale Kräfte in der „Metropole“ Frankreich begrüßen den Kampf und oftmals auch seine Austragungsformen, wobei die „Meuterei auf der Pascal Paoli“ ein prägendes Symbol anbietet. Immerhin 48 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen betrachten die so genannte Schiffsentführung als „gerechtfertigt“ oder jedenfalls „verständlich“, während 47 Prozent der Befragten sie als „kritikwürdig“ oder gar „unakzeptabel“ ansehen (Zahlen nach „Le Nouvel Observateur“ vom 6. Oktober), Dabei dürften die Befragten vorwiegend den sozialen Konflikt um die SNCM im Blickfeld gehabt haben.

Manche betrachten die Verbindung mit dem korsischen Nationalismus dabei eher als Konfliktverstärker denn als Hindernis. (Ein Autonomer mit maoistischer Vergangenheit begrüßte gegenüber dem Autor dieser Zeilen, im oben zitierten Sinne, gar auch die Rakete gegen die Präfektur von Ajaccio als „kraftvolle Unterstützung für den Kampf der Streikenden“ – mit dieser Bewertung dürfte er auf gesamtgesellschaflicher Ebene freilich ziemlich alleine dastehen.) Dagegen ist das Echo in der breiten Öffentlichkeit weit weniger ungeteilt positiv. Vielmehr bietet die, anscheinend kontradiktorische, Vermengung zwischen den Anliegen der CGT und jenen der korsischen Nationalisten eher zu Misstrauen, Unverständnis („Was haben die denn miteinander zu schaffen?“) oder gar Ablehnung Anlass.

Denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die den Anliegen der Streikfront wahrscheinlich ohnehin ablehnend gegenüber gestanden hätten, liefert die scheinbar widersprüchliche Verbindung ein neues Argument für ihre Ablehnung: „Die CGT schließt sich jetzt schon mir gewalttätigen Separatisten zusammen“. Dabei kommt zum Teil auch ein gewisser anti-korsischer Chauvinismus zum Tragen. Denn ebenso wie es einen gewissen Anteil von Chauvinismus – und, vor allem in jüngerer Zeit, von handfestem Rassismus gegen arabischstämmige Immigranten – im korsischen Nationalismus gibt, existiert auch ein Chauvinismus auf dem Festland gegen die Inselbewohner. Auch die zuletzt zitierte Position ist der politische Standpunkt einer - eher konservativen- Minderheit, aber sie dürfte dazu beigetragen haben, dass außerhalb des Marseiller Raums, in den Regionen abseits des Konflikts, eine eher abwartende denn euphorische Position überwog.

Zunächst: Scheitern aller Verhandlungen

Zur Mitte der ersten Oktoberwoche wurde das vorläufige Scheitern der Verhandlungen zwischen den verschiedenen Gewerkschaften bei der SNCM und der Pariser Regierung bekannt. Die Gewerkschaften lehnten weiterhin das von der französischen Zentralregierung verfolgte, doch „abgemilderte“ Privatisierungsvorhaben ab. Die Verhandlungsrunde vom 5. Oktober, die durch die Regierung zunächst als die letzte präsentiert worden war, endete ergebnislos.

Am Freitag, den 7. Oktober sollten die Unterhändler – auf gewerkschaftlicher Seite angeführt von Jean-Paul Israel, Generalsekretär der CGT-Seeleutegewerkschaft – erneut zusammentreffen. Doch die wichtigsten der bei der SNCM vertretenen Gewerkschaften ließen am Freitag früh die Zusammenkunft platzten. In der Tat weigerten sie sich nämlich, die Vertreter der beiden Privatunternehmen, die nach den Regierungsplänen in die SNCM eintreten sollen, zu treffen: Walter Butler für den Investmentfonds „Butler Capital Partners“ und den Generaldirektor der privaten Transportfirma Connex, Stéphane Richard. Beide sollten an einer Diskussionsrunde in der Präfektur (juristische Vertretung des Zentralstaats) in Marseille teilnehmen, wo der Staat einen „Kompromiss“ einfädeln wollte. Da die Gewerkschaften weiterhin jede Privatisierung von Mehrheitsanteilen der SNCM verweigerten, blieben sie standhaft bei der Auffassung, sie hätten sich mit den Firmenvertretern schlichtweg nichts zu sagen.

So blieben die „postkommunistische“ CGT, die eher populistische FO, aber auch die sozialdemokratische CFDT und die Angestelltengewerkschaft CGC sowie die Seeleutegewerkschaft des korsisch-nationalistischen Gewerkschaftsverbands STC der Besprechung in der Präfektur fern. Lediglich die Standesgewerkschaften der Bordoffiziere, die aber nur eine kleine Minderheit der knapp 2.400 Beschäftigten bei der SNCM repräsentieren, nahmen an den Gesprächen mit den Übernahmekandidaten teil. Der Inhaber des Investmentfonds „Butler Capital Partners“, Walter Butler, erklärte daraufhin, er werde nur dann in die SNCM einsteigen, wenn die Gewerkschaften Bereitschaft zeigten, sich mit ihm zu treffen, und ihre Oppositionshaltung ihm gegenüber aufgäben.

„Wir werden uns nicht mehr von der Stelle bewegen“ verkündete jedoch bereits am Vorabend (6. Oktober) der französische Wirtschaftsminister Thierry Breton. Er hatte bereits angekündigt, den überarbeiteten Privatisierungsplan alsbald in die Tat umzusetzen. Sonst, so drohte er (etwa auf der Titelseite der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ vom 7. Oktober), werde er „als Alternative“ im Namen der bisher noch in öffentlicher Hand befindlichen SNCM alsbald den Konkurs eröffnen. Privatisierung oder Einleitung des Konkursverfahrens:: Auch in den Medien wurde dies teilweise als glatte Erpressung bezeichnet. Die Konkursrichter am Handelsgericht von Marseille, die für die SNCM zuständig sein werden, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ernannt worden, und der amtierende SNCM-Direktor Bruno Vergobbi drohte in der Regionalzeitung „La Provence“ mit den Worten: „Wenn bis zum Montag (10. Oktober) keine Entwicklung stattfindet, wird der Konkurs in den folgenden Tagen stattfinden“. Der Arbeitskampf, beklagte sich der Direktor der Schifffahrtsgesellschaft, koste diese derzeit 1,5 Millionen Euro pro Tag.

Ab dem 6. Oktober flammte der Streik der Bediensteten des Freihafens von Marseille (PAM, Port autonome de Marseille, dessen Privatisierung durch die Angestellten ebenfalls befürchtet wird) erneut auf. 25 Schiffe blieben am An- und Ablegequai blockiert, 47 im Hafenbecken. Am Freitag, 7. Oktober rief die CGT, um eine Stärkedemonstration in der Mittelmeermetropole bemüht, zu einem allgemeinen Aktionstag in Marseille auf. Der Aktionstag wurde etwa bei den städtischen Transportbetrieben (RTM) deutlich befolgt. Auch aus der Privatindustrie, namentlich von STMicroelectronics (wo die Beschäftigten von Entlassungen bedroht sind) und dem Nahrungsmittelkonzern Nestlé (dessen Beschäftigte in Marseille vor kurzem einen wichtigen Erfolg gegen den Konzern erzielten, der gerichtlich zur Wiedereinstellung von 427 „betriebsbedingt“ entlassenen ArbeiterInnen gezwungen wurde), nahmen bedeutende Abordnungen an der Großdemonstration teil, die um 11 Uhr vom Alten Hafen losging.

Der Haupt-Arbeitgeberverband MEDEF forderte am Freitag Vormittag (7. Oktober), in Gestalt seiner neuen Vorsitzenden Laurence Parisot, die Regierung von Premierminister de Villepin „feierlich“ dazu auf, „dringend“ den Marseiller Freihafen zu „entblockieren“, also die Streikenden polizeilich räumen zu lassen. Natürlich im Namen der bedrohten Arbeitsplätze, da viele Betriebe im Hafenbecken akut „gefährdet“ seien. Nachdem im Laufe des Freitag die Bereitschaftspolizei CRS im Freihafen eingegriffen hatte und im Anschluss auch das Güterterminal des Freihafens in der Nachbarstadt Fos-sur-Mer gewaltsam „geöffnet“ hatte; kam es zur neuerlichen Eskalation. Ähnlich wie in der Vorwoche, schlossen sich auch dieses Mal die Arbeiter der verschiedenen Privatunternehmen im Hafenbecken den öffentlich Bediensteten des Freihafens (Port autonome de Marseille, PAM) an und traten erneut ihrerseits in den Streik. Die Streikposten am Hafeneingang wurden entfernt, wozu 160 CRS-Beamte, eine Einheit des Sondereinsatzkommandos GIGN und ein Wachhelikopter eingesetzt wurden. Aber es war zunächst völlig „undenkbar, Schiffe im Hafengebiet be- oder entladen zu lassen“ (Radiobericht vom Samstag früh).

Am Samstag Nachmittag diskutierten die streikenden Arbeiter der Privatfirmen im Hafen anlässlich einer Vollversammlung über den Vorschlag eines Abkommens, das ihrem Ausstand ein vorläufiges Ende setzen sollte. Deswegen rief die CGT am Wochenende dazu auf, ab Montag Vormittag (10. Oktober) die Arbeit wieder aufzunehmen bzw. „eine Pause in ihrer Streikbewegung einzulegen“. Dieser Aufruf wurde jedoch am Montag durch die Hafenarbeiter zunächst nicht befolgt. Die Raffineriearbeiter im Ölhafen streiken ihrerseits weiter und hatten ihre Arbeitsniederlegung jetzt unter eine eigene Forderung gestellt: Sie fordern, dass ihnen endlich eine Gefahrenprämie ausbezahlt wird, wenn sie mit gesundheitsschädlichen chemischen Substanzen und Gefahrstoffen hantieren. Die Bediensteten des Freihafens (PAM) blieben ebenfalls im Ausstand gegen die, den Hafen betreffende Privatisierungsdrohung.

Bei der Schifffahrtsgesellschaft SNCM selbst war zunächst keinerlei Lösung des Konflikts in Sicht: „Die Blockadesituation ist total“, hieß es in einem Radiobericht vom Samstag Abend. Der Streik ging unterdessen in seine vierte Woche. Am Montag Vormittag (10. Oktober) platzte ein Verhandlungstermin zwischen den Gewerkschaften und dem Transportminister (Dominique Perben) sowie dem Wirtschaftsminister (Thierry Breton) der neokonservativ-neoliberalen Pariser Regierung. Diese Verhandlungsrunde war durch die Regierung als „Verhandlung der allerletzten Chance“ präsentiert worden. Da die Gewerkschaften und vor allem die CGT der Regierungsforderung, Privatkonzerne müssten deutlich über 50 Prozent der Anteile an der Transportgesellschaft übernehmen, weiterhin Ablehnung entgegen setzten, verließen die beiden Minister die Sitzung vorzeitig: nach nur anderthalb Stunden. Transportminister Perben hatte sich im Wesentlichen damit begnügt, die Wiederaufnahme der Arbeit zu fordern und die Nichtbezahlung sämtlicher Streiktage anzukündigen. (Anmerkung: in Frankreich erhalten die Lohnabhängigen bekanntlich kein Streikgeld, sondern bezahlen den Ausstand aus eigener Tasche, sofern sie nicht in Verhandlungen die teilweise Übernahme durch den Arbeitgeber durchsetzen können.) Die CGT prangerte ein „Diktat der Regierung“ an.

Am Nachmittag tagte der Aufsichtsrat der SNCM, doch dieses Mal erhoben sich mehrere Gewerkschaftsvertreter der CGT vorzeitig und ließen die übrig bleibende Runde sitzen. Von 5 Repräsentanten der verschiedenen Gewerkschaften verließen 3 (die beiden der CGT und der Vertreter der STC-Seeleute) die Sitzung. Am Abend drohte SNCM-Direktor Bruno Vergobbi erneut damit, das Konkursverfahren einzuleiten, falls der Streik nicht schnell ein Ende nehme. „Bis zum Ende der laufenden Woche“ sei die SNCM ruiniert, behauptete er am Dienstag früh (11. Oktober) im Radio.

In ihrer Ausgabe, die am frühen Nachmittag des Montag in Paris (und bis zum Abend in anderen französischen Städten) erschien, hatte die Pariser Abendzeitung „Le Monde“ noch versucht, sich als Geburtshelfer eines Abkommens zu betätigen. In dem Briefwechsel, den er am Sonntag mit Premierminister Dominique de Villepin hatte, habe CGT-Generalsekretär Bernard Thibault nicht mehr die Forderung erwähnt, die öffentliche Hand müsse mindestens 51 % der Anteile an der SNCM behalten, unterstrich die Zeitung. Dies bestätigte sich auch tatsächlich. In seinem Schreiben an den Regierungschef forderte CGT-Generalsekretär Thibault Garantien für den Erhalt der Schifffahrtsflotte der SNCM, die nicht zerschlagen werden dürfe, und der vorhandenen Arbeitsplätze – erwähnte aber nicht die Frage der Gesellschaftsanteile, die respektive vom Privatsektor und der öffentlichen Hand zukommen sollen. Daraufhin hatte er auch eine positive Antwort des Premierministers erhalten. „Le Monde“ zeichnete so die Konturen eines neuen Kompromisses, der sich in Gestalt eines Deals abzeichne: Die CGT nehme (unter den genannten Bedingungen) die Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM hin, im Tausch gegen das Unterbleiben der Börseneinführung des Energieversorgungsunternehmens EDF (Electricité de France), über die bis zum 18. Oktober entschieden werden soll. Schon einige Tage zuvor hatte ein Leitartikel in „Le Monde“ die Vermutung aufgestellt, die CGT wolle die (Verhinderung der) Börseneinführung von EDF zu jenem starken Symbol machen, das die Führung des Gewerkschaftsverbands für ihre Bestätigung beim nächsten CGT-Kongress (der vom 24. bis 28. April 2006 in Lille stattfinden wird) benötigt. „Le Monde“ malte also den Kompromiss aus: Die CGT erhält ihr wichtiges Symbol, die Regierung kann die Privatisierung der Mehrheitsanteile an der SNCM durchsetzen und garantiert dafür, „für die Dauer von mindestens 18 Monaten“ (Le Monde) als Minderheits-Aktionär bei der SNCM auf die Einhaltung von Garantien bezüglich des Erhalts der Flotte und der Arbeitsplätze zu wachen.

Doch diese Rechnung (sofern der Bericht der Pariser Abendzeitung, die damit freilich selbst aktiv in den Konflikt einzugreifen suchte, zutrifft) schien ohne die CGT vor Ort gemacht worden zu sein. Ihre Bezirkssektion im Département von Marseille gehört übrigens zu den gegen die aktuelle CGT-Führung oppositionellen Verbänden, deren Mehrheit teils zu radikaleren Basiskräften und teils zu den orthodoxen Kommunisten (die gegen die „reformistische Aufweichung“ ihrer post-realsozialistischen Partei kämpfen) gehört.

Vor Ort hielt die CGT bei der SNCM ihren Streik am Dienstag (11. Oktober) aufrecht. Dagegen riefen zwei Minderheitsgewerkschaften, die beiden Ableger der populistisch-„unpolitischen“ FO (Force Ouvrière) und des christlichen Gewerkschaftsbunds CFTC, ab Dienstag morgen zur Beendigung des Streiks auf. Beide Gewerkschaften vertreten bei der SNCM nur die Bordoffiziere, nicht das sonstige Personal; die CFTC-Gewerkschaft der Bordoffiziere hatte bereits am Freitag (im Gegensatz zu den übrigen Gewerkschaften) die Vertreter der beiden Privatkonzerne, die zusammen zwei Drittel der SNCM aufkaufen sollen, getroffen. In einem Radiointerview tönte ein CFTC-Delegierter am Dienstag Vormittag, ihm sei „egal, ob mein Arbeitgeber ein Privater oder die öffentliche Hand ist“. Ab dem Mittwoch wurde daher in den öffentlichen Medien eifrig der Eindruck erweckt, der Wind blase in Richtung Wiederaufnahme der Arbeit, und der Film der Ereignisse haben den Wendepunkt überschritten.

Die Beendigung des Streiks: Unter Erpresserischer Drohung

Am Donnerstag früh ließ die CGT von ihr organisierten Streikenden über die Wiederaufnahme der Arbeit, nach 22 Streiktagen, abstimmen. Die „postkommunistische“ Gewerkschaft CGT bildet mit Abstand die stärkste Organisation der abhängig Beschäftigten bei der öffentlichen Transportgesellschaft SNCM. Die den Streikenden von ihr zur Urabstimmung vorgelegte Frage – Entweder „Ja zur Wiederaufnahme der Arbeit und Nein zum Konkurs“ oder „Nein zur Wiederaufnahme der Arbeit und Ja zum Konkurs“ – enthielt einen impliziten, aber unverkennbaren Hinweis auf die Stimmpräferenz der OrganisatorInnen der Befragung. Dagegen verweigerte die Führung der CGT-Seeleutegewerkschaft bei der SNCM jeden offiziellen Aufruf zu eine bestimmten Stimmabgabe. Auch Jean-Paul Israel, der landesweite Generalsekretär der CGT-Seeleute, enthielt sich jeder offiziellen Empfehlung für das Votum, ließ seinen Standpunkt aber ebenfalls durchblicken: „Wenn man in einem Unternehmen ist, kann der Kampf weitergehen. Wenn es kein Unternehmen mehr gibt, was dann...“

Das Votum fand unter dem Druck einer eindeutigen, von der Regierung (und der von ihr eingesetzten SNCM-Direktion unter Bruno Vergobbi) ausgehenden Erpressung statt: Entweder würde die Arbeitsniederlegung beendet, oder es würde zum Ende dieser (laufenden) Woche das Konkursverfahren für die SNCM eröffnet. Am Ende wirkte die Drohung mit der Konkurseröffnung, die das Risiko beinhaltet hätte, die 2.360 bestehenden Arbeitsplätze bei der SNCM allesamt vernichtet zu sehen.

Die Urabstimmung fand am Donnerstag Vormittag an Bord des Fährschiffs Méditerranée (Mittelmeer) statt, das seit dem 20. September durch die Streikenden besetzt war und im Marseiller Hafen lag. Aus diesem Anlass wurde nicht (wie oft in französischen Streikversammlungen) mit erhobener Hand, sondern in geheimer Wahl per Bulletin abgestimmt. Die Abstimmung endete mit einer „überwältigenden Mehrheit“ (so die Formulierung in einem Radiobericht) für die Beendigung des Streiks. Konkret stimmten zwischen 87 und 88 Prozent einer Wiederaufnahme der Arbeit zu.

Die GewerkschafterInnen hatten zu der Vollversammlung, bei der die Urabstimmung stattfand, auch einen Rechtsanwalt eingeladen, der den Anwesenden genau auseinandersetzen sollte, was die durch die Regierung für die nächsten Tage angedrohte Konkurseröffnung für die Beschäftigten bedeutet. Den Ausschlag scheint ferner auch eine Unterredung von CGT-Vertretern sowie des Betriebsratsvorsitzenden bei der SNCM, Bernard Marty (CGT), mit dem Präsidenten des Marseillers Handelsgerichts am Mittwoch gegeben zu haben. Die Repräsentanten der Beschäftigten verließen das Treffen vom Mittwoch mit der festen Überzeugung, die Staatsvertreter und die Justiz seien fest dazu entschlossen, die Drohung mit dem Konkurs wahr zu machen und ihr fatale Taten folgen zu lassen.

Positionen der unterschiedlichen Gewerkschaften

Die örtliche CGT war die treibende Hauptkraft hinter dem Ausstand, der am Donnerstag (13. Oktober) erfolglos zu Ende ging. Weder konnte die drohende Privatisierung von zwei Dritteln der Gesellschaftsanteile verhindert, noch die Bezahlung der 23 nicht gearbeiteten Tage in Verhandlungen durchgesetzt werden. Die Regierung hat sich im Zuge der Streikbeendigung lediglich – schriftlich – dazu verpflichtet, dass die öffentliche Hand für „4 bis 5 Jahre“ in Höhe von 25 Prozent der Anteile im Kapital der SNCM präsent bleibe. „Danach werden die staatlichen Aktienanteile verkauft, mit einem Vorkaufsrecht für (die privaten Übernehmer) Butler und Connex“, so lautet die prägnante Zusammenfassung in der (Gratis-)Tageszeitung „20 minutes“ vom Freitag, 14. Oktober.

Auch wenn der sozialdemokratische Abgeordnete Henri Besson am Donnerstag Abend die Regierung aufforderte, die Einstellung des Streiks nicht als Niederlage der Streikenden, sondern als Aufforderung zu Gesprächen mit den Beschäftigten betrachten: Nach dem Realitätsprinzip muss man freilich davon ausgehen, dass die Ausständischen und die CGT unterlegen sind. Die Regierung konnte sich mit einer (relativ) kompromisslosen Linie durchsetzen. Am Freitag Vormittag, 14. Oktober verkündete Premierminister Dominique de Villepin laut, die Börseneinführung des zur Privatisierung anstehenden Energieversorgungsunternehmens EDF müsse nun „so schnell wie möglich“ erfolgen. Damit droht die CGT einer neuen, schweren und symbolkräftigen Niederlage entgegen zu gehen, falls sie es nicht schafft, sich der Börseneinführung von Electricité de France erfolgreich zu widersetzen.

Die konservative Tageszeitung „Le Figaro“ vom Freitag schreibt: „Die CGT streckt die Waffen“, und die Wirtschaftszeitung „La Tribune“ titelt ihrerseits: „Die SNCM nimmt ihre Fahrt in Richtung Privatisierung wieder auf“. Dagegen äußerten Vertreter der CGT-Seeleutegewerkschaft: „Künftig geht der Kampf gegen einen privaten Unternehmer weiter. Er riskiert sein eigenes Geld zu verlieren, und der Kampf wird viel härter werden“; ihr Generalsekretär Jean-Paul Israel wünschte deswegen ironisch „den privaten Übernehmern viel Spaß“. Am Samstag um 15 Uhr rufen die am soeben beendeten Streik beteiligten Gewerkschaften in Marseille zu einer Großdemonstration am Alten Hafen auf. An ihr wollte auch der Generalsekretär des Dachverbands CGT, Bernard Thibault, teilnehmen.

Am Vortag der CGT-Urabstimmung hatten kleinere, minoritäre Gewerkschaften vor ihr für die Wiederaufnahme der Arbeit plädiert. Die eher populistische FO, Force Ouvrière (die bei der SNCM vorwiegend die Schalterangestellten und kaum das „schwimmende“ Personal an Bord der Schiffe repräsentiert), die christliche CFCT (die lediglich die Bordoffiziere vertritt) und eine weitere „Offiziersgewerkschaft“ riefen ab Mittwoch zur Beendigung des Streiks auf. Damit erhielten sie breiten Raum in den Medien eingeräumt, etwa im laufenden Infoprogramm des öffentlichen Rund-um-die-Uhr-Sender „Radio France Info“, was den Eindruck eines „Abbröckelns der Streikfront“ erwecken sollte. Die beiden Bordoffiziers-Gewerkschaften hatten freilich bereits am Freitag voriger Woche das Gespräch mit den privaten Übernehmern der SNCM akzeptiert. – Dagegen hatten, neben der CGT, in den letzten Tagen noch die korsisch-nationalistische Gewerkschaft STC sowie die Transportgewerkschaft der CFDT (die in Opposition zu ihrer rechtssozialdemokratischen Verbandsspitze steht) den Ausstand unterstützt.

Der korsisch-nationalistische Gewerkschaftsverband STC (Syndicat des travailleurs corses) bzw. dessen Seeleutegewerkschaft ließ am Donnerstag die CGT vor seinen eigenen Leuten abstimmen. Im Anschluss rief auch die STC-Seeleutegewerkschaft im weiteren Verlauf des Donnerstag dazu auf, die Arbeit wieder aufzunehmen, aber erklärte sich „von der CGT verraten“ und sprach von einer „Pariser Manipulation durch die CGT und ihre verlängerten Arme vor Ort“. Dabei handelt es sich freilich (vorangegangene Verhandlungsversuche von Bernard Thibault hin oder her) zuvörderst um einen taktischen Winkelzug, der allein der CGT den schwarzen Peter zuschieben soll. Tatsache ist, dass es eher die Auswirkung der knallharten Erpressung mit der Konkurseröffnung (und nicht so sehr der subjektive Wille der CGT) ist, der den überwiegenden Teil der Ausständischen für die Beendigung des Streiks und die Arbeitsaufnahme stimmen ließ – und dass die Niederlage einer gemeinsame Niederlage aller beteiligten Akteure ist.

Privatisierung „wie in einer Bananenrepublik“

Mit dem Ergebnis des über dreiwöchigen Streiks ist der Regierungsplan, wie er den Beschäftigten am 5. Oktober vorgeschlagen wurde, faktisch angenommen worden. D.h. er konnte durch die Erpressung mit der Konkursdrohung gegen den Willen einer breiten Mehrheit der Beschäftigten durchgesetzt werden. Der französisch-amerikanische Investmentfonds „Butler Capital Fonds“ (der dem Finanzinspektor, und ehemaligen Studienfreund von Premierminister Dominique de Villepin, Walter Butler gehört) wird damit 38 Prozent der Anteile an der SNCM übernehmen. Die private Firma Connex, Ableger des Véolia- (ehemals Vivendi-)Konzerns, die einem persönlichen Freund von Präsident Jacques Chirac namens Henri Proglio gehört, wird ihrerseits 28 Prozent übernehmen. Der Staat behält einen Kapitalanteil von 25 Prozent, den er nach derzeitigen Versprechungen „vier bis fünf Jahre“ zu behalten verspricht. Damit soll er zusammen mit den 9 Prozent der Kapitalanteile, die den Beschäftigten als Streuaktienbesitze übergeben werden sollen, eine „Sperrminorität“ gegen eine eventuelle Zerschlagung der Gesellschaft bilden können – vorübergehend.

Angesichts der Tatsache, dass so offenkundig persönliche Spezis von Präsident Chirac und Premierminister de Villepin bedient werden, qualifizierte die linke Wochenzeitung „Politis“ vom 13. Oktober diesen Privatisierungsplan als „einer Bananenrepublik würdig“.

Andere Brennpunkte

Ein weiterer Konfliktpunkt bei der SNCM, der bisher nur durch allgemeine Versprechungen seitens der Regierung „gelöst“ ist, betrifft die Forderung der Gewerkschaften, dass die jüngst begonnene Einrichtung eines französischen Billigflaggenregisters im Mittelmeer nicht auf die Personalpolitik der SNCM Anwendung finden soll. Das französische Billigflaggenregister unter dem Namen „Registre international français“ (RIF) erlaubt den Rückgriff auf bis zu 75 Prozent Arbeitskräfte aus „Drittländern“ (außerhalb der EU) mit Beschäftigungsbedingungen wie in ihren Herkunftsländern. Die Gewerkschaften fordern, diese Möglichkeit der Beschäftigung zu Billiglöhnen nicht für die SNCM gültig werden zu lassen. Die Regierung hat sich bisher lediglich dazu verpflichtet, in dieser Sache „Gespräche“ mit den hinter dieser Idee stehenden Reedereiverbänden anzustrengen. Für die Linien zwischen dem französischen Festland und Korsika soll aber nach bisherigem Stand der Diskussionen die Anstellung von Beschäftigten zu „Dritte-Welt“- Arbeitsbedingungen ausgeschlossen werden. Aber für die Schiffsverbindungen zwischen Marseille und den Maghrebländern ist bisher keinerlei Festlegung solcher Art getroffen worden. Der französische Staat wird lediglich „versuchen“, in Gesprächen mit den Reedereiverbänden „Garantien“ zu erhalten.

Nach wie bestreikt ist in Marseille unterdessen das Metro- und Busliniennetz der städtischen Verkehrsbetriebe (RTF). Die RTM-Beschäftigten hatten sich im Zuge des Konflikts um die SNCM, zunächst aus Solidarität, in den allgemeinen Ausstand zahlreicher Branchen in Marseille eingereiht. Derzeit führen sie ihren eigenen Arbeitskampf fort, mit Lohnforderungen sowie zur Abwehr drohender Privatisierungstendenzen auch bei den Marseiller Verkehrsbetrieben.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 13.10. 2005 zur Verfügung gestellt.