Der Konflikt um die in Marseille
ansässige Schifffahrtsgesellschaft SNCM (Société nationale Corse –
Méditerranée) endete am Donnerstag, 13. Oktober mit der Beendigung des
Streiks, ohne dass die hinter dem Ausstand stehenden Forderungen
erfüllt worden wären. „Spätestens am Freitag“ sollten die
Fährverbindungen mit Korsika, die – zahlenmäßig vor dem Schiffsverkehr
von und nach Algerien rangierend – das Hauptgeschäft der SNCM bilden,
wieder aufgenommen werden.
Doch vor einer Untersuchung der Grüne dieser Niederlage, soll zuerst
ein Rückblick auf einen 23tägigen spektakulären Streik geworfen
werden.
Momentaufnahme eines Aufsehen erregenden Kampfes
Für spektakuläre Bilder sorgten die Seeleute der in Marseille
ansässigen Schifffahrtsgesellschaft SNCM in der letzten
Septemberwoche. Die Abfolge der Bilder ist beeindruckend: Man sah ein
am vorigen Mittwoch (28. September) von rund 40 Seeleuten aus dem
Marseiller Hafen ins nordkorsische Bastia „entführtes“ Schiff, die
Pascal Paoli. Dann die Erstürmung des Fährschiffes durch Mitglieder
des Sondereinsatzkommandos GIGN – eine militarisierte Polizeitruppe,
die dem Verteidigungsministerium untersteht -, die sich von
Helikoptern aus an Deck abseilen und den „Meuterern“ Handschellen
anlegen. Den spöttischen und fast heiteren Empfang, mit ironischem
Applaus, der dem Sturmkommando an Bord bereitet wurde. Schließlich der
Jubel, der die ersten Freigelassenen - am Freitag waren nu noch zwei
der „Meuterer“ in Haft - anschließend auf Korsika empfing. In
Marseille hätte ähnliches passieren können, deswegen hatte der GIGN
das „rückeroberte“ Schiff auch nicht dorthin zurück-, sondern nach
Toulon umgeleitet. Am Samstag, 30. September wurden auch die letzten
vier der Festgenommenen, die zunächst noch als „Rädelsführer“
festgehalten wurden, freigelassen, da ansonsten eine Eskalation auf
Korsika befürchtet wurde. Gegen die vier droht jedoch ein
Strafverfahren wegen „gefährlichen Eingriffs in den Schiffsverkehr“
eröffnet zu werden.
Dieser Aufsehen erregendste Moment des Ausstands gegen die drohende
Zerschlagung der SNCM, darf nicht vergessen machen, dass dahinter eine
breitere Streikfront stande. Der gesamte Hafen von Marseille, nicht
nur die Anlegestellen der SNCM, wurde über 14 Tage hinweg mit
wechselnder Intensität bestreikt. In Sète, 150 Kilometer weiter
westlich, wurden die unter Zeitvertrag stehenden Marseiller
Hafenarbeiter – die dort von ihrem Arbeitgeber zu Ersatzarbeiten
gezwungen werden sollten – durch ihre Kollegen von der CGT in der
letzten Septemberwoche solidarisch in Empfang genommen und vor dem
Arbeitszwang geschützt. In Fos-sur-Mer und Varéla, im weiteren Umland
von Marseille, lagen mehrere Tage lang die gesamten Ölhäfen lahm.
Worum geht es?
Hafenarbeiter und Seeleute wehr(t)en sich gegen den drohenden Verkauf
der SNCM, aber auch gegen Pläne zur Privatisierung des gesamten
Marseilles Freihafens (PAM, Port autonome de Marseille). Die
Gesellschaft, die seit Jahrzehnten die Fährlinien nach Korsika und
Algerien betreibt, ist seit der Öffnung ihres Sektors für private
Konkurrenz 1996 in die roten Zahlen gerutscht. Mit verantwortlich
dafür ist der französische Staat, dem bisher 100 Prozent der Anteile
gehörten: Als ideeller Gesamtvertreter des einheimischen Kapitals
verpflichtete er die SNCM dazu, nur Schiffe von französischen Werften
zu kaufen; so ließ er das Superschiff der SNCM (die zwischen Marseille
und Algier sowie Ajaccio verkehrende „Napoléon Bonaparte“) von 1994
bis 96 auf der Atlantikwerft von Saint-Nazaire bauen, um dort
Arbeitsplätze zu sichern. Dabei dachte der französische Staat aber
nicht daran, der Gesellschaft auch finanziell unter die Arme zu
greifen, wenn sie dadurch höhere Kosten hatten als ihre privaten
Konkurrenten (vor allem das aufsteigende Konkurrenzunternehmen Corsica
Ferries). Die SNCM hatte aber auch höhere Personalkosten, da sie mehr
Leute beschäftigt und kämpferische Gewerkschaften hat, die für die
Einhaltung nicht allzu ungünstiger Tarifverträge sorgten.
Die KP-nahe Tageszeitung „L’Humanité“ vom 6. Oktober behauptet, das
Konkurrenzunternehmen Corsica Ferries arbeite in Wirklichkeit mit
Verlust und schreibe dicke rote Zahlen (-7,9 Millionen Euro), lasse
aber keinerlei Transparenz über seine reale wirtschaftliche Situation
herrschen . Es halte seine Geschäftspolitik nur aufrecht, um das
öffentliche Unternehmen SNCM zu Fall zu bringen und um ein privates
Monopol errichten zu können, mit entscheidenden Komplizenschaft in der
regierenden Rechten (auf dem französischen Festland wie auf Korsika).
Fest steht, dass die im korsischen Bastia ansässige Gesellschaft
Corsica Ferries ein bisher völlig undurchsichtiges Geflecht von
italienischen, schweizerischen und luxemburgischen Firmen darstellt,
in dessen Konten niemand Einblick hat. Und die Zeitschrift „Politis“
(13. Oktober) stellt fest, dass dieses Unternehmen – obwohl in
Frankreich aktiv, wo es Subventionen für den (durch die öffentliche
Hand geförderten, da die strukturschwache Region Korsika betreffend)
Touristentransport von und nach Korsika einkassiert – seine Schiffe
unter italienischer Flagge fahren lässt. Damit profitiert es von den
niedrigen italienischen Lohnkosten, da der dortige Bruttolohn bei
Seeleuten um 30 Prozent niedriger liegt als in Frankreich und ferner
verschiedene soziale Vorteile, die den französischen Beschäftigten
garantiert werden, unbekannt sind.
Die Regierungspläne zur Privatisierung der SNCM
Der ursprüngliche Plan der Pariser Regierung, der am 19. September 05
bekannt gegeben wurde und zum unmittelbaren Auslöser des Konflikts
wurde, sah zuerst vor, die Gesellschaft zu 100 Prozent zu
privatisieren und geschlossen an einen französisch-amerikanischen
Investmentfonds zu verkaufen. Dieser hätte die SNCM freilich nicht
behalten, um sie zu nutzen – der Fonds, der bei 500 Millionen Euro an
z. Zt. verwaltetem Kapital nur 15 Angestellte zählt, hat keinerlei
Kompetenz im Transportsektor –, sondern das Ziel verfolgt, die SNCM
„auszuschlachten“ und ihre Reste weiter zu verkaufen. Es handelte sich
um die Investmentgesellschaft „Butler Capital Partners“.
Im Durchschnitt behält der Investmentfonds „Butler Capital Partners“
die aufgekauften Firmen sieben Jahre, bevor sie (oftmals nach
Zerlegung) wieder den Besitzer wechseln. Da diese Frist bei anderen
vergleichbaren Investmentfonds durchschnittlich nur vier bis fünf
Jahre beträgt, handelte die französischen Regierung den Anleger
zunächst als angeblich besonders humanen Vertreter seiner Zunft. In
Wirklichkeit dürfte ein Faktor eine größere Rolle bei der Auswahl des
Aufkäufers gespielt haben: Walter Butler, der Inhaber des
Investmentfonds, ist (rein zufällig natürlich) ein Studienfreund von
Premierminister Dominique de Villepin aus gemeinsamen Tagen bei der
Verwaltungshochschule und französischen Eliteschmiede ENA (Ecole
nationale de l’administration).
Im Rahmen des ursprünglichen Übernahmeplans schlug „Butler Capital
Partners“ vor, 35 Millionen Euro Kaufpreis für die SNCM zu zahlen.
Deren realer Wert wird auf mindestens 450 Millionen Euro geschätzt;
ihre Aktivposten sind über 500 Millionen wert, allerdings fährt die
SNCM (aus o.g. Gründen) Defizite ein, die im laufenden Jahr
voraussichtlich knapp 30 Millionen jährlich erreichen. Obendrein
forderte der Betreiber des Investmentfonds, die öffentliche Hand solle
die defizitbedingten Schulden der SNCM in Höhe von 113 Millionen Euro
bezahlen, damit er das Unternehmen schuldenfrei (für einen Bruchteil
des realen Werts) übernehmen könnte. Gleichzeitig kündigte der
Investmentfonds von vornherein an, er werde kurzfristig 350 bis 400
Arbeitsplätze bei der SNCM (das entspricht über 15 Prozent der
Beschäftigten) abbauen.
Nach den erheblichen sozialen Konflikten seit Ende September hat die
Regierung ihre Privatisierungspläne dann überarbeitet. Ihr neues
„Angebot“ sah zunächst noch so aus: „Butler Capital Partners“ sollte
weiterhin 40 % der Anteile an der bisher öffentlichen
Verkehrsgesellschaft SNCM übernehmen. Zusätzlich sollte ein anderes
Privatunternehmen einsteigen, der private Transportbetreiber Connex
(eine Filiale des Véolia-Konzerns, der ehemaligen Vivendi-Gruppe). Als
„industrieller Betreiber“ sollte Connex 30 % der Anteile übernehmen
und das Alltagsgeschäft betreiben. Connex wiederum gehört einem
persönlichen Freund – dieses Mal nicht von Premierminister Dominique
de Villepin (wie der Inhaber des Butler-Investmentfonds), wohl aber
einem Spezi von Präsident Jacques Chirac: Henri Proglio. Der
französische Staat sollte seinerseits noch 25 % der Anteile behalten
(gegenüber ursprünglich geplanten null Prozent), da die Gewerkschaften
und die um ihre Arbeitsplätze fürchtenden Beschäftigten ihn in die
politische Verantwortung nehmen möchten. Ferner sollten die abhängig
Beschäftigten selbst – 2.360 Personen arbeiten bei der SNCM –
insgesamt 5 % der Anteile übernehmen.
Dieses Vorhaben stieß wiederum auf spürbare Widerstände seitens der
Gewerkschaften, die – selbst wenn sie eine Teilprivatisierung nicht
ausschlossen - die Aufrechterhaltung eines Anteils der öffentlichen
Hand in Höhe von mindestens 51 % fordern.
Bei der Verhandlungsrunde vom Dienstag, 4. Oktober wollte die Pariser
Regierung dieser Forderung jedoch nicht nachgegeben. Der neue,
ultimative und letzte „Rettungsvorschlag“ der Regierung lautete
nunmehr folgendermaßen: Der Anteil der öffentlichen Hand bleibt bei 25
Prozent. Der Anteil der abhängig Beschäftigten (bei dem es sich
notwendigerweise um Streuaktien handeln würde, also um einen
weitgehend zersplitterten Aktienbesitz) sollte von 5 auf 9 Prozent
erhöht werden. Damit, so behauptete die Pariser Regierung, sei eine
„Sperrminorität“ (in Höhe von einem Drittel der Gesellschaftsanteile)
gewährleistet, da die Anteile des französischen Staates und der
abhängig Beschäftigten ja nunmehr 33 bzw. 34 Prozent betrügen.
Tatsächlich benötigen einige grundlegende, strategische
Unternehmensentscheidungen (wie beispielsweise der Verkauf größerer
Bestandteile der Gesellschaft) eine Zwei-Drittel-Mehrheite der
Stimmanteile unter den Aktionären. Dagegen wären diese
Minderheitsanteile im Alltagsbetrieb, den weiterhin Connex als
„industrieller Betreiber“ übernehmen soll, weitgehend bedeutungslos.
Der Investmentfonds „Butler Capital Partners“ soll weiterhin den
größten Anteil (nunmehr 38 %) übernehmen und die Firma Connex 28 %.
Beide privaten Übernehmer werden nur 35 Millionen Euro mitbringen,
wenn sie in die SNCM einsteigen, die fast 15 mal so viel wert ist.
Ein Bericht der KP-nahen Tageszeitung „L’Humanité“ vom 06. Oktober
rückte den durch die Regierung eingesetzten „industriellen Betreiber“,
Connex, in den Blickpunkt der Kritik. Die Zeitung berichtet über die
vorangegangenen Erfahrungen mit ebendieser Firma im britischen
Eisenbahnsektor. Connex hatte anlässlich der Privatisierung des
Eisenbahnnetzes unter der konservativen Regierung von John Major,
1996, den Betrieb von 2 der nunmehr 23 privatisierten Bahnnetze
übernommen: South Central und South East. Letztere umfasst den
Londoner Vorort- und Pendlerverkehr in Richtung Süden und Osten und
ist damit ein besonders lukratives „Beutestück“.
Die Verwaltung des Eisenbahnbetriebs unter Connex war jedoch dermaßen
desaströs (NutzerInnen beklagten sich täglich über dauernde
Verspätungen und schmutzige Züge), dass es zu einer Premiere kam: Die
britische öffentliche Hand entzog im Jahr 2003 erstmals dem privaten
Betreiber wieder seine Nutzungserlaubnis. Connex hatte bis dahin 58
Millionen Pfund (rund 85 Millionen Euro) an öffentlichen Subventionen
eingesteckt. Nunmehr forderte die Gesellschaft, dass ihr nochmals
zusätzliche 2 Millionen Pfund in den Rachen gestopft würden. Das war
dann sogar der neoliberalen britischen Regierung zu viel: Sie übernahm
vorläufig wieder selbst das Bahnnetz South-East (182 Bahnhöfe, 3.000
Beschäftigte, täglich 120.000 Passagiere) - sucht jedoch bereits nach
einem neuen privaten Betreiber, während die britischen Gewerkschaften
die Renationalisierung des gesamten Eisenbahnwesens fordern.
Dieselbe Zeitung berichtet auch, dass die Privatisierung des
Schifffahrtsbetriebs zwischen Marseille und Korsika anscheinend von
längerer Hand geplant ist. „L’Humanité“ enthüllt, dass die korsische
Regionalregierung (eine Koalition aus liberal-konservativen Rechten
und korsischen Nationalisten, wobei letztere sich nicht eben als
progressiv erwiesen haben) seit längerem für 2007 eine Neudefinition
der Auflagen für den öffentlichen Dienst im Transportbereich plant. An
dem Text wird demzufolge seit längerem gearbeitet. Demnach soll nur
noch eine Schrumpfversion, die allein den Gütertransport (aber nicht
mehr den besonders lukrativen TouristInnen-Transport) umfassen würde,
des als solcher definierten „öffentlichen Dienstes“ anerkannt werden.
Den Privatkonkurrenten, so die seit längerem gehegten Pläne, soll
damit der lukrativste Sektor vollständig „geöffnet“ werden. Bereits
heute erhält die private Konkurrenz für den Touristentransport in
Richtung Korsika– ebenso wie die SNCM – öffentliche Subventionen, im
Namen der Strukturförderung für die strukturschwache Region Korsika.
Sozialer Konflikt und korsischer Nationalismus
Den Privatisierungsplänen schlug, und schlägt, harte Opposition
entgegen. Dabei treffen sich aber in Wirklichkeit zwei verschiedene
Problemstränge: Der soziale Konflikt vermischt sich mit dem
Benachteiligungsgefühl eines Teils der korsischen Inselgesellschaft.
Diese Empfindung kann sich auf einen gewissen Realitätsgehalt stützen
– tatsächlich hat der französische Staat, der die Mittelmeerinsel 1768
der Republik Genua abkaufte, Korsika zwei Jahrhunderte lang weitgehend
unterwickelt belassen. Der Grund dafür war, dass Korsika lange Zeit
hauptsächlich als Reservoir für die Rekrutierung von Siedlern für die
Kolonien und von Freiwilligen für Armee und Polizei genutzt wurde.
Längst aber ist diese durchaus reale Benachteiligung in der
korsisch-nationalistischen Bewegung, die sich im letzten Drittel des
20. Jahrhunderts herausbildete, zum Mythos geworden: Ihr gilt Korsika
im Prinzip als „zu befreiende Kolonie“. Diese mystifizierende Idee von
der „Kolonialsituation“, die auf einer oberflächlichen Parallele
zwischen der Situation im französisch beherrschten Algerien und der
jetzigen auf Korsika beruht, übersieht dann doch eine Reihe von
Besonderheiten. Denn Korsen haben nicht nur volle Staatsbürgerrechte
in Frankreich (anders als frühere Kolonialuntertanen), sondern
stellten auch eine Reihe von Führungsfiguren des Staats – vom „Kaiser
der Franzosen“ Napoléon I. bis zum früheren Innenminister Charles
Pasqua. Für die wirklichen Kolonialsubjekte, von Algerien bis Vietnam,
war das undenkbar.
Der Mythos vom „nationalen Befreiungskampf auf Korsika“ hat sich
faktisch längst in Luft aufgelöst, viele der bewaffneten
Nationalistengrüppchen agieren längst wie reine Mafiosi. Übrig
geblieben ist ein subjektives rebellisches Gefühl, das jetzt auch den
teilweise spektakulären Aktionen des Syndicat des travailleurs corses
(STC, „Gewerkschaft der korsischen Arbeiter“) Nahrung gibt.
Diesem korsisch-nationalistischen Gewerkschaftsbund, bzw. der ihm
angeschlossenen Seeleutegewerkschaft, gehörten auch die 40 „Meuterer“
an Bord der Pascal Paoli an. Unter den vier „Rädelsführern“, denen
jetzt noch eine strafrechtliche Anklage droht, befinden sich der Chef
der STC-Seeleutegewerkschaft, Alain Mosconi, sowie zwei seiner Brüder.
Die 40 so genannten „Schiffsentführer“ hatten übrigens gar nicht nach
einem detaillierten, vorab ausgearbeiteten Plan gehandelt, sondern
reichlich spontan. In einem schönen Moment während des Konflikts
hatten sie beschlossen: „Wir gehen jetzt nach Hause“; da aber
konfliktbedingt alle Schiffsverbindungen nach Korsika blockiert waren,
entschieden sie daraufhin eben einfach, „das Schiff mitzunehmen“.
Mediterrane Spontaneität traf mit einem subjektiv empfundenen
Rebellentum und „Heimweh nach Korsika“ zusammen. Damit handelt es sich
weder um einen staats- und öffentlichkeitsgefährdenden
„gemeingefährlichen Plan“, wie die Staatsmacht felsenfest behauptet,
noch um eine geniale politische Aktion. Ein starkes Symbol hat ihre
spontane Aktion dennoch gesetzt...
Im aktuellen Konflikt sind die korsischen Nationalisten freilich
inkonsequent gegenüber ihren eigenen ideologischen Prinzipien, oder
Mythen: Der jetzige Kampf richtet sich gegen den Rückzug der
französischen öffentlichen Hand aus der SNCM, damit die Beschäftigten
nicht fallen gelassen werden. Derselbe französische Staat wird aber
gleichzeitig gern, wenngleich das mittlerweile eher zur Folklore
gehört, als „der kolonialistische Unterdrückerstaat“ bezeichnet. Nun
ist es sicherlich (ganz allgemein betrachtet) völlig legitim,
gleichzeitig die sozialen Funktionen des aktuell nun einmal
bestehenden Staates einzufordern, und dessen repressive Funktionen zu
bekämpfen. Dagegen richtet man aber an eine Kolonialmacht nicht
unbedingt die Forderung, präsent zu bleiben - sondern richtet seine
Anstrengungen eher darauf, diese möge sich doch bitte gefälligst
verpissen... (Allerdings hat der STC, zusammen mit den
korsisch-nationalistischen Abgeordneten im Inselparlament, auch die
Forderung aufgebracht, das bisherige öffentliche Unternehmen SNCM
solle vom französischen Staat auf die Region Korsika übertragen
werden. Die Frage stellt sich dabei, ob das alleinige Steueraufkommen
der Einwohner/innen Korsikas dafür genügen wird, die bisher durch die
öffentliche Hand finanzierte SNCM aufrecht zu erhalten – oder ob dazu
doch das Steueraufkommen „des Festlands“ benötigt wird.)
Diese politische Inkonsequenz der korsischen Nationalisten datiert
freilich nicht erst von gestern. Der STC war am 9. Mai 1984 im Umfeld
des damaligen FLNC („Nationale Befreiungsfront Korsikas“, bewaffnete
Organisation) gegründet worden. Der Hauptinitiator seiner Gründung und
jetzige Vorsitzende, Jacky Rossi, der früher der französischen KP
angehört hatte, hatte damals allerdings den FLNC bereits seit mehreren
Jahren (seit 1978, zwei Jahre nach dessen Gründung) wieder verlassen.
Noch 1989 hatte der STC aber einen Streik der anderen Gewerkschaften
auf denselben Fährlinien, auf denen auch jetzt der Arbeitskampf
abläuft, im Namen „korsischer Interessen“ boykottiert und bekämpft:
Die Anbindung der Insel an den Kontinent und ihre Versorgung dürfe
nicht gefährdet werden. Im September 2004 hatten der STC und die
anderen Gewerkschaften am Marseiller Sitz der Fährgesellschaft sogar
gegeneinander gestreikt. Zuerst hatte die korsische
Nationalistengewerkschaft für die bevorzugte Einstellung von
Einwohnern der Insel bei der SNCM gestreikt - im Anschluss dann hatten
die CGT und andere Organisationen für die Rücknahme dieser
„Diskriminierung“ zum Ausstand geblasen. Am Schluss stand eine Lösung,
die soziale Interessen über regionale Zugehörigkeit stellte: Alle
prekär, etwa mit Zeitverträgen, auf den Fähren Beschäftigten mussten
durch die SNCM festangestellt werden - egal wo sie wohnen.
Im aktuellen Konflikt um die Zukunft der SNCM versucht der korsische
Nationalismus, sich zu regenerieren, indem er sich an die sozialen
Aktionen „seiner“ Gewerkschaft (des STC) dranhängt und vom starken
Symbol der „Meuterei auf der Pascal Paoli“ zu profitieren versucht.
„Die Gewerkschafter wissen (...) dass die soziale Bewegung auf Korsika
dazu beiträgt, die Nationalisten aus der Sackgasse herauszuholen, in
der sie sich seit dem Scheitern des Referendums (über die von den
Nationalisten unterstützte Reform der Institutionen auf Korsika) vom
Juli 2003 befindet“, analysiert Le Monde. Dieselbe Pariser Zeitung
zitiert den linksliberalen Vorsitzenden der Menschenrechtsliga auf der
Insel, André Paccou („Die nationalistischen Politiker laufen der
sozialen Bewegung hinterher... In Korsika ist die soziale Frage dabei,
dem Nationalismus den Rang abzulaufen“) und analysiert: „Nach seinen
aufeinanderfolgenden Misserfolgen ... versucht der korsische
Nationalismus, sich wieder aufzurichten, indem er die soziale Frage
aufgreift. Ein Ausdruck davon, das die wirtschaftliche
Unterentwicklung, an der Korsika leidet, ein wichtigeres Problem ist
als die Entwicklung der Institutionen, denen (der nationalistische
Abgeordnete) Talamoni und seine Freunde in den letzten Jahren all ihre
Aufmerksamkeit widmeten,“ Tatsächlich bedeutet es, die richtige(n)
Frage(n) anzuschneiden, wenn man jene der wirtschaftlichen und
sozialen Situation auf Korsika stellt. Dort liegen die Löhne der
abhängig Beschäftigten (vor allem im öffentlichen Dienst, Tourismus
und Handel) im Durchschnitt um 20 Prozent unterhalb derer des
französischen Festlands. Die Preise dagegen liegen um15 Prozent über
denen des „Kontinents“, ein Ausfluss der Inselsituation und der
Transportnotwendigkeiten (laut Zahlenangaben des STC-Vorsitzenden
Jacky Rossi, die in „Le Monde“ vom 8. Oktober zitiert werden).
Dabei unterscheidet sich der Aktionsmodus des STC, als kollektiv
handelnder Beschäftigtenorganisation, grundsätzlich von dem der
übrigen korsischen Nationalisten: Diese kennen ansonsten nur entweder
das parlamentarisch-institutionelle Agieren und Gestikulieren im
Abgeordnetenhaus (etwa des Anwalts Jean-Guy Talamoni, Hauptvertreter
der korsischen Nationalisten im Inselparlament und Chef des
parlamentarischen Ausschusses für EU-Angelegenheit, der versucht,
positiv an das Projekt eines neoliberalen „Europa der Regionen“
anzudocken und sich so gegen Paris auf Brüssel zu stützen) oder aber
den „bewaffneten Kampf“ respektive „Terrorismus“. Bei letzteren
handelt es sich um verdeckte Aktionen bewaffneter Klein- und
Kleinstgruppen, die nächtlich operieren (im Gegensatz zu den
Gewerkschaftern des STC, die – selbst als „Piraten auf der Pascal
Paoli“ – kollektiv und mit offenem Gesicht agieren). Der Kampfbegriff
„Terrorismus“ ist dabei sicherlich etwas hoch gegriffen, denn oft
haben diese Aktionen – gegen Staatsgebäude – eine eher folkloristisch
wirkende Note. Jedenfalls haben sie, in aller Regel, weit weniger
tödliche Konsequenzen als die mörderischen Aktionen der ETA, von den
Massakern des islamistischen Terrorismus in Algerien völlig zu
schweigen. Anders sieht es mit der Gewalt zwischen rivalisierenden
Fraktionen des korsischen Nationalismus aus, die in den Jahren des
„Bruderkriegs“ in den 1990ern über 30 Tote forderte. Im Hintergrund
stehen dabei freilich eher mafiöse (Eigen)interessen.
Derzeit gelingt es dem STC (der seine Mitgliederzahl mit 4.600 angibt
- eine weit höhere Zahl als die „politischen“ oder bewaffneten
Organisationen des korsischen Nationalismus) seit kurzem, als führende
Gewerkschaftsorganisation auf Korsika aufzutreten und auch erfolgreich
Bündnispolitik mit anderen Gewerkschaften zu betreiben. Bei den
Arbeitsgerichtswahlen von Dezember 2002 (in ganz Frankreich handelt es
sich um Laiengerichte, die – landesweit am selben Tag – per
Listenwahlen besetzt werden) konnte der STC auf Korsika erstmals die
CGT an Stimmen überrunden. Nunmehr stellt der STC auf der Insel 19
gewählte Arbeitsrichter/innen, die CGT hingegen 18.
Bei den Demonstrationen vom 1. Oktober 2005, anlässlich des Konflikts
um die SNCM-Privatisierung, konnte der STC eine intersyndicale (ein
übergewerkschaftliches Streik- oder Organisationskomitee) um sich
herum scharen und als Hauptveranstalter auftreten. Erstmals arbeiteten
die CGT auf Korsika, die (ebenso wie die KP) den korsischen
Nationalismus grundsätzlich ablehnt und an der Einheit der
französischen Republik festhält, und der STC dabei zusammen und zogen
an einem Strang. Die korsisch-nationalistische Gewerkschaft wird dabei
jedoch ihrerseits in den letzten Jahren zunehmend in Widersprüche
geraten: So muss sie in jüngerer Zeit des öfteren (von der Insel oder
auch vom Festland stammende) Lohnabhängige gegen
korsisch-nationalistische Arbeitgeber verteidigen. Und letztere
stellen dabei mitunter auch korsisch-nationalistische Militante als
Sicherheitsdienst oder Prügelcombo ein...
Wenn das korsische Rebellentum jetzt mit dem sozialen Widerstand der
übrigen Mitarbeiter bei der SNCM zusammentrifft und alle
Gewerkschaften an einem Strang ziehen, dann ist das vom Ergebnis her
nur zu begrüßen. Jedoch wäre es Zeit, sich von den Mythen des
korsischen Nationalismus zu verabschieden.
Eine bewaffnete Splittergruppe auf der Insel, eine der Fraktionen des
vielfältig zersplitterten FLNC (Front de libération nationale de Corse,
„Nationale Befreiungsfront Korsikas“) laut Bekennerbrief, versuchte
von dem entstandenen Aufruhr zu profitieren. Am Donnerstag abend (29.
September) schoss sie eine Rakete, eine Art Panzerfaust – aber ohne
Sprengladung – auf die Präfektur in der Inselhauptstadt Ajaccio ab.
Verletzt wurde niemand; aber eine Telefonistin, neben der das Geschoss
einschlug, erlitt einen Schock. Dieses Attentat erlaubte es dem
hyperaktiven französischen Innenminister (und voraussichtlichen
Präsidentschaftskandidaten 2007) Nicolas Sarkozy, sich in den Konflikt
einzuschalten und seine Rübe in Kamera zu halten – auf Besuch in
Korsika „aus Solidarität mit den bedrohten Staatsrepräsentanten“. Der
Mann hatte gerade noch gefehlt..., Ende September hatte Sarkozy sich
noch öffentlich beklagt, er „habe (s)eine Ideen für die Rettung der
SNCM“, aber ihn habe „ja niemand nach meiner Meinung gefragt“. (Die
Rivalität zwischen Präsident Chirac und Premierminister de Villepin
einerseits, dem „Herausforderer“ Sarkozy andererseits ist notorisch.)
Später meldeten sich die bewaffneten Nationalistengrüppchen erneut zu
Wort. Am Samstag (8. Oktober) drohte der „FLNC des 22. Oktober“, eine
der bewaffneten Fraktionen oder Fraktiönchen, mit Attentaten gegen die
beiden Firmen, die als potenzielle private Übernehmer der SNCM bereit
stehen – also gegen den Investmentfonds „Butler Capital Partners“ und
die Konzernfiale Connex. Am Abend desselben Tages, des 8. Oktober,
explodierte in einem – leeren – Zollgebäude im Hafen von Bastia eine
Sprengladung, es gab keine Verletzten. Bisher wurde kein
Bekennerschreiben bekannt, allgemein wird jedoch eine „Warnung“ durch
den „FLNC des 22. Oktober“ vermutet. Weitere Anschläge folgten, etwa
ein Raketenanschlag auf die Präfektur von Bastia am 13./14. Oktober,
der knapp sein Ziel verfehlte.
Diese auf der Insel weithin mystifizierte Form von vermeintlichem
„Widerstand“ ist der absolut falsche Weg. Vielversprechender ist die
breite soziale Streikfront, die den Ausstand der Seeleute bei der SNCM
unterstützt – auf dem Kontinent genauso wie auf der Insel.
Auswirkungen der Verkopplung von sozialer Frage und korsischem
Nationalismus
Konkret hat die Mischung aus sozialem Konflikt und Ausdrucksformen des
korsischen Nationalismus, die das in den Medien widergespiegelte Bild
vom Kampf um die SNCM-Privatisierung prägt, unterschiedliche
politische Auswirkungen. Auf der Insel sorgt sie dafür, dass fast alle
aktiven Kräfte (aber aus unterschiedlichen Motiven, sozialen und/oder
nationalistischen) hinter dem Ausstand der SNCM-Beschäftigten stehen.
Auf dem französischen Festland aber sind die Wirkung und die
Nachwirkungen des Konflikts weitaus diffuser.
Protestgeneigte politische und soziale Kräfte in der „Metropole“
Frankreich begrüßen den Kampf und oftmals auch seine
Austragungsformen, wobei die „Meuterei auf der Pascal Paoli“ ein
prägendes Symbol anbietet. Immerhin 48 Prozent der befragten
Französinnen und Franzosen betrachten die so genannte
Schiffsentführung als „gerechtfertigt“ oder jedenfalls „verständlich“,
während 47 Prozent der Befragten sie als „kritikwürdig“ oder gar
„unakzeptabel“ ansehen (Zahlen nach „Le Nouvel Observateur“ vom 6.
Oktober), Dabei dürften die Befragten vorwiegend den sozialen Konflikt
um die SNCM im Blickfeld gehabt haben.
Manche betrachten die Verbindung mit dem korsischen Nationalismus
dabei eher als Konfliktverstärker denn als Hindernis. (Ein Autonomer
mit maoistischer Vergangenheit begrüßte gegenüber dem Autor dieser
Zeilen, im oben zitierten Sinne, gar auch die Rakete gegen die
Präfektur von Ajaccio als „kraftvolle Unterstützung für den Kampf der
Streikenden“ – mit dieser Bewertung dürfte er auf
gesamtgesellschaflicher Ebene freilich ziemlich alleine dastehen.)
Dagegen ist das Echo in der breiten Öffentlichkeit weit weniger
ungeteilt positiv. Vielmehr bietet die, anscheinend kontradiktorische,
Vermengung zwischen den Anliegen der CGT und jenen der korsischen
Nationalisten eher zu Misstrauen, Unverständnis („Was haben die denn
miteinander zu schaffen?“) oder gar Ablehnung Anlass.
Denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die den Anliegen der
Streikfront wahrscheinlich ohnehin ablehnend gegenüber gestanden
hätten, liefert die scheinbar widersprüchliche Verbindung ein neues
Argument für ihre Ablehnung: „Die CGT schließt sich jetzt schon mir
gewalttätigen Separatisten zusammen“. Dabei kommt zum Teil auch ein
gewisser anti-korsischer Chauvinismus zum Tragen. Denn ebenso wie es
einen gewissen Anteil von Chauvinismus – und, vor allem in jüngerer
Zeit, von handfestem Rassismus gegen arabischstämmige Immigranten – im
korsischen Nationalismus gibt, existiert auch ein Chauvinismus auf dem
Festland gegen die Inselbewohner. Auch die zuletzt zitierte Position
ist der politische Standpunkt einer - eher konservativen- Minderheit,
aber sie dürfte dazu beigetragen haben, dass außerhalb des Marseiller
Raums, in den Regionen abseits des Konflikts, eine eher abwartende
denn euphorische Position überwog.
Zunächst: Scheitern aller Verhandlungen
Zur Mitte der ersten Oktoberwoche wurde das vorläufige Scheitern der
Verhandlungen zwischen den verschiedenen Gewerkschaften bei der SNCM
und der Pariser Regierung bekannt. Die Gewerkschaften lehnten
weiterhin das von der französischen Zentralregierung verfolgte, doch
„abgemilderte“ Privatisierungsvorhaben ab. Die Verhandlungsrunde vom
5. Oktober, die durch die Regierung zunächst als die letzte
präsentiert worden war, endete ergebnislos.
Am Freitag, den 7. Oktober sollten die Unterhändler – auf
gewerkschaftlicher Seite angeführt von Jean-Paul Israel,
Generalsekretär der CGT-Seeleutegewerkschaft – erneut zusammentreffen.
Doch die wichtigsten der bei der SNCM vertretenen Gewerkschaften
ließen am Freitag früh die Zusammenkunft platzten. In der Tat
weigerten sie sich nämlich, die Vertreter der beiden
Privatunternehmen, die nach den Regierungsplänen in die SNCM eintreten
sollen, zu treffen: Walter Butler für den Investmentfonds „Butler
Capital Partners“ und den Generaldirektor der privaten Transportfirma
Connex, Stéphane Richard. Beide sollten an einer Diskussionsrunde in
der Präfektur (juristische Vertretung des Zentralstaats) in Marseille
teilnehmen, wo der Staat einen „Kompromiss“ einfädeln wollte. Da die
Gewerkschaften weiterhin jede Privatisierung von Mehrheitsanteilen der
SNCM verweigerten, blieben sie standhaft bei der Auffassung, sie
hätten sich mit den Firmenvertretern schlichtweg nichts zu sagen.
So blieben die „postkommunistische“ CGT, die eher populistische FO,
aber auch die sozialdemokratische CFDT und die
Angestelltengewerkschaft CGC sowie die Seeleutegewerkschaft des
korsisch-nationalistischen Gewerkschaftsverbands STC der Besprechung
in der Präfektur fern. Lediglich die Standesgewerkschaften der
Bordoffiziere, die aber nur eine kleine Minderheit der knapp 2.400
Beschäftigten bei der SNCM repräsentieren, nahmen an den Gesprächen
mit den Übernahmekandidaten teil. Der Inhaber des Investmentfonds
„Butler Capital Partners“, Walter Butler, erklärte daraufhin, er werde
nur dann in die SNCM einsteigen, wenn die Gewerkschaften Bereitschaft
zeigten, sich mit ihm zu treffen, und ihre Oppositionshaltung ihm
gegenüber aufgäben.
„Wir werden uns nicht mehr von der Stelle bewegen“ verkündete jedoch
bereits am Vorabend (6. Oktober) der französische Wirtschaftsminister
Thierry Breton. Er hatte bereits angekündigt, den überarbeiteten
Privatisierungsplan alsbald in die Tat umzusetzen. Sonst, so drohte er
(etwa auf der Titelseite der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ vom 7.
Oktober), werde er „als Alternative“ im Namen der bisher noch in
öffentlicher Hand befindlichen SNCM alsbald den Konkurs eröffnen.
Privatisierung oder Einleitung des Konkursverfahrens:: Auch in den
Medien wurde dies teilweise als glatte Erpressung bezeichnet. Die
Konkursrichter am Handelsgericht von Marseille, die für die SNCM
zuständig sein werden, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ernannt
worden, und der amtierende SNCM-Direktor Bruno Vergobbi drohte in der
Regionalzeitung „La Provence“ mit den Worten: „Wenn bis zum Montag
(10. Oktober) keine Entwicklung stattfindet, wird der Konkurs in den
folgenden Tagen stattfinden“. Der Arbeitskampf, beklagte sich der
Direktor der Schifffahrtsgesellschaft, koste diese derzeit 1,5
Millionen Euro pro Tag.
Ab dem 6. Oktober flammte der Streik der Bediensteten des Freihafens
von Marseille (PAM, Port autonome de Marseille, dessen Privatisierung
durch die Angestellten ebenfalls befürchtet wird) erneut auf. 25
Schiffe blieben am An- und Ablegequai blockiert, 47 im Hafenbecken. Am
Freitag, 7. Oktober rief die CGT, um eine Stärkedemonstration in der
Mittelmeermetropole bemüht, zu einem allgemeinen Aktionstag in
Marseille auf. Der Aktionstag wurde etwa bei den städtischen
Transportbetrieben (RTM) deutlich befolgt. Auch aus der
Privatindustrie, namentlich von STMicroelectronics (wo die
Beschäftigten von Entlassungen bedroht sind) und dem
Nahrungsmittelkonzern Nestlé (dessen Beschäftigte in Marseille vor
kurzem einen wichtigen Erfolg gegen den Konzern erzielten, der
gerichtlich zur Wiedereinstellung von 427 „betriebsbedingt“
entlassenen ArbeiterInnen gezwungen wurde), nahmen bedeutende
Abordnungen an der Großdemonstration teil, die um 11 Uhr vom Alten
Hafen losging.
Der Haupt-Arbeitgeberverband MEDEF forderte am Freitag Vormittag (7.
Oktober), in Gestalt seiner neuen Vorsitzenden Laurence Parisot, die
Regierung von Premierminister de Villepin „feierlich“ dazu auf,
„dringend“ den Marseiller Freihafen zu „entblockieren“, also die
Streikenden polizeilich räumen zu lassen. Natürlich im Namen der
bedrohten Arbeitsplätze, da viele Betriebe im Hafenbecken akut
„gefährdet“ seien. Nachdem im Laufe des Freitag die
Bereitschaftspolizei CRS im Freihafen eingegriffen hatte und im
Anschluss auch das Güterterminal des Freihafens in der Nachbarstadt
Fos-sur-Mer gewaltsam „geöffnet“ hatte; kam es zur neuerlichen
Eskalation. Ähnlich wie in der Vorwoche, schlossen sich auch dieses
Mal die Arbeiter der verschiedenen Privatunternehmen im Hafenbecken
den öffentlich Bediensteten des Freihafens (Port autonome de
Marseille, PAM) an und traten erneut ihrerseits in den Streik. Die
Streikposten am Hafeneingang wurden entfernt, wozu 160 CRS-Beamte,
eine Einheit des Sondereinsatzkommandos GIGN und ein Wachhelikopter
eingesetzt wurden. Aber es war zunächst völlig „undenkbar, Schiffe im
Hafengebiet be- oder entladen zu lassen“ (Radiobericht vom Samstag
früh).
Am Samstag Nachmittag diskutierten die streikenden Arbeiter der
Privatfirmen im Hafen anlässlich einer Vollversammlung über den
Vorschlag eines Abkommens, das ihrem Ausstand ein vorläufiges Ende
setzen sollte. Deswegen rief die CGT am Wochenende dazu auf, ab Montag
Vormittag (10. Oktober) die Arbeit wieder aufzunehmen bzw. „eine Pause
in ihrer Streikbewegung einzulegen“. Dieser Aufruf wurde jedoch am
Montag durch die Hafenarbeiter zunächst nicht befolgt. Die
Raffineriearbeiter im Ölhafen streiken ihrerseits weiter und hatten
ihre Arbeitsniederlegung jetzt unter eine eigene Forderung gestellt:
Sie fordern, dass ihnen endlich eine Gefahrenprämie ausbezahlt wird,
wenn sie mit gesundheitsschädlichen chemischen Substanzen und
Gefahrstoffen hantieren. Die Bediensteten des Freihafens (PAM) blieben
ebenfalls im Ausstand gegen die, den Hafen betreffende
Privatisierungsdrohung.
Bei der Schifffahrtsgesellschaft SNCM selbst war zunächst keinerlei
Lösung des Konflikts in Sicht: „Die Blockadesituation ist total“, hieß
es in einem Radiobericht vom Samstag Abend. Der Streik ging
unterdessen in seine vierte Woche. Am Montag Vormittag (10. Oktober)
platzte ein Verhandlungstermin zwischen den Gewerkschaften und dem
Transportminister (Dominique Perben) sowie dem Wirtschaftsminister
(Thierry Breton) der neokonservativ-neoliberalen Pariser Regierung.
Diese Verhandlungsrunde war durch die Regierung als „Verhandlung der
allerletzten Chance“ präsentiert worden. Da die Gewerkschaften und vor
allem die CGT der Regierungsforderung, Privatkonzerne müssten deutlich
über 50 Prozent der Anteile an der Transportgesellschaft übernehmen,
weiterhin Ablehnung entgegen setzten, verließen die beiden Minister
die Sitzung vorzeitig: nach nur anderthalb Stunden. Transportminister
Perben hatte sich im Wesentlichen damit begnügt, die Wiederaufnahme
der Arbeit zu fordern und die Nichtbezahlung sämtlicher Streiktage
anzukündigen. (Anmerkung: in Frankreich erhalten die Lohnabhängigen
bekanntlich kein Streikgeld, sondern bezahlen den Ausstand aus eigener
Tasche, sofern sie nicht in Verhandlungen die teilweise Übernahme
durch den Arbeitgeber durchsetzen können.) Die CGT prangerte ein
„Diktat der Regierung“ an.
Am Nachmittag tagte der Aufsichtsrat der SNCM, doch dieses Mal erhoben
sich mehrere Gewerkschaftsvertreter der CGT vorzeitig und ließen die
übrig bleibende Runde sitzen. Von 5 Repräsentanten der verschiedenen
Gewerkschaften verließen 3 (die beiden der CGT und der Vertreter der
STC-Seeleute) die Sitzung. Am Abend drohte SNCM-Direktor Bruno
Vergobbi erneut damit, das Konkursverfahren einzuleiten, falls der
Streik nicht schnell ein Ende nehme. „Bis zum Ende der laufenden
Woche“ sei die SNCM ruiniert, behauptete er am Dienstag früh (11.
Oktober) im Radio.
In ihrer Ausgabe, die am frühen Nachmittag des Montag in Paris (und
bis zum Abend in anderen französischen Städten) erschien, hatte die
Pariser Abendzeitung „Le Monde“ noch versucht, sich als Geburtshelfer
eines Abkommens zu betätigen. In dem Briefwechsel, den er am Sonntag
mit Premierminister Dominique de Villepin hatte, habe
CGT-Generalsekretär Bernard Thibault nicht mehr die Forderung erwähnt,
die öffentliche Hand müsse mindestens 51 % der Anteile an der SNCM
behalten, unterstrich die Zeitung. Dies bestätigte sich auch
tatsächlich. In seinem Schreiben an den Regierungschef forderte
CGT-Generalsekretär Thibault Garantien für den Erhalt der
Schifffahrtsflotte der SNCM, die nicht zerschlagen werden dürfe, und
der vorhandenen Arbeitsplätze – erwähnte aber nicht die Frage der
Gesellschaftsanteile, die respektive vom Privatsektor und der
öffentlichen Hand zukommen sollen. Daraufhin hatte er auch eine
positive Antwort des Premierministers erhalten. „Le Monde“ zeichnete
so die Konturen eines neuen Kompromisses, der sich in Gestalt eines
Deals abzeichne: Die CGT nehme (unter den genannten Bedingungen) die
Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM hin, im Tausch gegen
das Unterbleiben der Börseneinführung des
Energieversorgungsunternehmens EDF (Electricité de France), über die
bis zum 18. Oktober entschieden werden soll. Schon einige Tage zuvor
hatte ein Leitartikel in „Le Monde“ die Vermutung aufgestellt, die CGT
wolle die (Verhinderung der) Börseneinführung von EDF zu jenem starken
Symbol machen, das die Führung des Gewerkschaftsverbands für ihre
Bestätigung beim nächsten CGT-Kongress (der vom 24. bis 28. April 2006
in Lille stattfinden wird) benötigt. „Le Monde“ malte also den
Kompromiss aus: Die CGT erhält ihr wichtiges Symbol, die Regierung
kann die Privatisierung der Mehrheitsanteile an der SNCM durchsetzen
und garantiert dafür, „für die Dauer von mindestens 18 Monaten“ (Le
Monde) als Minderheits-Aktionär bei der SNCM auf die Einhaltung von
Garantien bezüglich des Erhalts der Flotte und der Arbeitsplätze zu
wachen.
Doch diese Rechnung (sofern der Bericht der Pariser Abendzeitung, die
damit freilich selbst aktiv in den Konflikt einzugreifen suchte,
zutrifft) schien ohne die CGT vor Ort gemacht worden zu sein. Ihre
Bezirkssektion im Département von Marseille gehört übrigens zu den
gegen die aktuelle CGT-Führung oppositionellen Verbänden, deren
Mehrheit teils zu radikaleren Basiskräften und teils zu den orthodoxen
Kommunisten (die gegen die „reformistische Aufweichung“ ihrer
post-realsozialistischen Partei kämpfen) gehört.
Vor Ort hielt die CGT bei der SNCM ihren Streik am Dienstag (11.
Oktober) aufrecht. Dagegen riefen zwei Minderheitsgewerkschaften, die
beiden Ableger der populistisch-„unpolitischen“ FO (Force Ouvrière)
und des christlichen Gewerkschaftsbunds CFTC, ab Dienstag morgen zur
Beendigung des Streiks auf. Beide Gewerkschaften vertreten bei der
SNCM nur die Bordoffiziere, nicht das sonstige Personal; die
CFTC-Gewerkschaft der Bordoffiziere hatte bereits am Freitag (im
Gegensatz zu den übrigen Gewerkschaften) die Vertreter der beiden
Privatkonzerne, die zusammen zwei Drittel der SNCM aufkaufen sollen,
getroffen. In einem Radiointerview tönte ein CFTC-Delegierter am
Dienstag Vormittag, ihm sei „egal, ob mein Arbeitgeber ein Privater
oder die öffentliche Hand ist“. Ab dem Mittwoch wurde daher in den
öffentlichen Medien eifrig der Eindruck erweckt, der Wind blase in
Richtung Wiederaufnahme der Arbeit, und der Film der Ereignisse haben
den Wendepunkt überschritten.
Die Beendigung des Streiks: Unter Erpresserischer Drohung
Am Donnerstag früh ließ die CGT von ihr organisierten Streikenden über
die Wiederaufnahme der Arbeit, nach 22 Streiktagen, abstimmen. Die
„postkommunistische“ Gewerkschaft CGT bildet mit Abstand die stärkste
Organisation der abhängig Beschäftigten bei der öffentlichen
Transportgesellschaft SNCM. Die den Streikenden von ihr zur
Urabstimmung vorgelegte Frage – Entweder „Ja zur Wiederaufnahme der
Arbeit und Nein zum Konkurs“ oder „Nein zur Wiederaufnahme der Arbeit
und Ja zum Konkurs“ – enthielt einen impliziten, aber unverkennbaren
Hinweis auf die Stimmpräferenz der OrganisatorInnen der Befragung.
Dagegen verweigerte die Führung der CGT-Seeleutegewerkschaft bei der
SNCM jeden offiziellen Aufruf zu eine bestimmten Stimmabgabe. Auch
Jean-Paul Israel, der landesweite Generalsekretär der CGT-Seeleute,
enthielt sich jeder offiziellen Empfehlung für das Votum, ließ seinen
Standpunkt aber ebenfalls durchblicken: „Wenn man in einem Unternehmen
ist, kann der Kampf weitergehen. Wenn es kein Unternehmen mehr gibt,
was dann...“
Das Votum fand unter dem Druck einer eindeutigen, von der Regierung
(und der von ihr eingesetzten SNCM-Direktion unter Bruno Vergobbi)
ausgehenden Erpressung statt: Entweder würde die Arbeitsniederlegung
beendet, oder es würde zum Ende dieser (laufenden) Woche das
Konkursverfahren für die SNCM eröffnet. Am Ende wirkte die Drohung mit
der Konkurseröffnung, die das Risiko beinhaltet hätte, die 2.360
bestehenden Arbeitsplätze bei der SNCM allesamt vernichtet zu sehen.
Die Urabstimmung fand am Donnerstag Vormittag an Bord des Fährschiffs
Méditerranée (Mittelmeer) statt, das seit dem 20. September durch die
Streikenden besetzt war und im Marseiller Hafen lag. Aus diesem Anlass
wurde nicht (wie oft in französischen Streikversammlungen) mit
erhobener Hand, sondern in geheimer Wahl per Bulletin abgestimmt. Die
Abstimmung endete mit einer „überwältigenden Mehrheit“ (so die
Formulierung in einem Radiobericht) für die Beendigung des Streiks.
Konkret stimmten zwischen 87 und 88 Prozent einer Wiederaufnahme der
Arbeit zu.
Die GewerkschafterInnen hatten zu der Vollversammlung, bei der die
Urabstimmung stattfand, auch einen Rechtsanwalt eingeladen, der den
Anwesenden genau auseinandersetzen sollte, was die durch die Regierung
für die nächsten Tage angedrohte Konkurseröffnung für die
Beschäftigten bedeutet. Den Ausschlag scheint ferner auch eine
Unterredung von CGT-Vertretern sowie des Betriebsratsvorsitzenden bei
der SNCM, Bernard Marty (CGT), mit dem Präsidenten des Marseillers
Handelsgerichts am Mittwoch gegeben zu haben. Die Repräsentanten der
Beschäftigten verließen das Treffen vom Mittwoch mit der festen
Überzeugung, die Staatsvertreter und die Justiz seien fest dazu
entschlossen, die Drohung mit dem Konkurs wahr zu machen und ihr
fatale Taten folgen zu lassen.
Positionen der unterschiedlichen Gewerkschaften
Die örtliche CGT war die treibende Hauptkraft hinter dem Ausstand, der
am Donnerstag (13. Oktober) erfolglos zu Ende ging. Weder konnte die
drohende Privatisierung von zwei Dritteln der Gesellschaftsanteile
verhindert, noch die Bezahlung der 23 nicht gearbeiteten Tage in
Verhandlungen durchgesetzt werden. Die Regierung hat sich im Zuge der
Streikbeendigung lediglich – schriftlich – dazu verpflichtet, dass die
öffentliche Hand für „4 bis 5 Jahre“ in Höhe von 25 Prozent der
Anteile im Kapital der SNCM präsent bleibe. „Danach werden die
staatlichen Aktienanteile verkauft, mit einem Vorkaufsrecht für (die
privaten Übernehmer) Butler und Connex“, so lautet die prägnante
Zusammenfassung in der (Gratis-)Tageszeitung „20 minutes“ vom Freitag,
14. Oktober.
Auch wenn der sozialdemokratische Abgeordnete Henri Besson am
Donnerstag Abend die Regierung aufforderte, die Einstellung des
Streiks nicht als Niederlage der Streikenden, sondern als Aufforderung
zu Gesprächen mit den Beschäftigten betrachten: Nach dem
Realitätsprinzip muss man freilich davon ausgehen, dass die
Ausständischen und die CGT unterlegen sind. Die Regierung konnte sich
mit einer (relativ) kompromisslosen Linie durchsetzen. Am Freitag
Vormittag, 14. Oktober verkündete Premierminister Dominique de
Villepin laut, die Börseneinführung des zur Privatisierung anstehenden
Energieversorgungsunternehmens EDF müsse nun „so schnell wie möglich“
erfolgen. Damit droht die CGT einer neuen, schweren und
symbolkräftigen Niederlage entgegen zu gehen, falls sie es nicht
schafft, sich der Börseneinführung von Electricité de France
erfolgreich zu widersetzen.
Die konservative Tageszeitung „Le Figaro“ vom Freitag schreibt: „Die
CGT streckt die Waffen“, und die Wirtschaftszeitung „La Tribune“
titelt ihrerseits: „Die SNCM nimmt ihre Fahrt in Richtung
Privatisierung wieder auf“. Dagegen äußerten Vertreter der
CGT-Seeleutegewerkschaft: „Künftig geht der Kampf gegen einen privaten
Unternehmer weiter. Er riskiert sein eigenes Geld zu verlieren, und
der Kampf wird viel härter werden“; ihr Generalsekretär Jean-Paul
Israel wünschte deswegen ironisch „den privaten Übernehmern viel
Spaß“. Am Samstag um 15 Uhr rufen die am soeben beendeten Streik
beteiligten Gewerkschaften in Marseille zu einer Großdemonstration am
Alten Hafen auf. An ihr wollte auch der Generalsekretär des
Dachverbands CGT, Bernard Thibault, teilnehmen.
Am Vortag der CGT-Urabstimmung hatten kleinere, minoritäre
Gewerkschaften vor ihr für die Wiederaufnahme der Arbeit plädiert. Die
eher populistische FO, Force Ouvrière (die bei der SNCM vorwiegend die
Schalterangestellten und kaum das „schwimmende“ Personal an Bord der
Schiffe repräsentiert), die christliche CFCT (die lediglich die
Bordoffiziere vertritt) und eine weitere „Offiziersgewerkschaft“
riefen ab Mittwoch zur Beendigung des Streiks auf. Damit erhielten sie
breiten Raum in den Medien eingeräumt, etwa im laufenden Infoprogramm
des öffentlichen Rund-um-die-Uhr-Sender „Radio France Info“, was den
Eindruck eines „Abbröckelns der Streikfront“ erwecken sollte. Die
beiden Bordoffiziers-Gewerkschaften hatten freilich bereits am Freitag
voriger Woche das Gespräch mit den privaten Übernehmern der SNCM
akzeptiert. – Dagegen hatten, neben der CGT, in den letzten Tagen noch
die korsisch-nationalistische Gewerkschaft STC sowie die
Transportgewerkschaft der CFDT (die in Opposition zu ihrer
rechtssozialdemokratischen Verbandsspitze steht) den Ausstand
unterstützt.
Der korsisch-nationalistische Gewerkschaftsverband STC (Syndicat des
travailleurs corses) bzw. dessen Seeleutegewerkschaft ließ am
Donnerstag die CGT vor seinen eigenen Leuten abstimmen. Im Anschluss
rief auch die STC-Seeleutegewerkschaft im weiteren Verlauf des
Donnerstag dazu auf, die Arbeit wieder aufzunehmen, aber erklärte sich
„von der CGT verraten“ und sprach von einer „Pariser Manipulation
durch die CGT und ihre verlängerten Arme vor Ort“. Dabei handelt es
sich freilich (vorangegangene Verhandlungsversuche von Bernard
Thibault hin oder her) zuvörderst um einen taktischen Winkelzug, der
allein der CGT den schwarzen Peter zuschieben soll. Tatsache ist, dass
es eher die Auswirkung der knallharten Erpressung mit der
Konkurseröffnung (und nicht so sehr der subjektive Wille der CGT) ist,
der den überwiegenden Teil der Ausständischen für die Beendigung des
Streiks und die Arbeitsaufnahme stimmen ließ – und dass die Niederlage
einer gemeinsame Niederlage aller beteiligten Akteure ist.
Privatisierung „wie in einer Bananenrepublik“
Mit dem Ergebnis des über dreiwöchigen Streiks ist der Regierungsplan,
wie er den Beschäftigten am 5. Oktober vorgeschlagen wurde, faktisch
angenommen worden. D.h. er konnte durch die Erpressung mit der
Konkursdrohung gegen den Willen einer breiten Mehrheit der
Beschäftigten durchgesetzt werden. Der französisch-amerikanische
Investmentfonds „Butler Capital Fonds“ (der dem Finanzinspektor, und
ehemaligen Studienfreund von Premierminister Dominique de Villepin,
Walter Butler gehört) wird damit 38 Prozent der Anteile an der SNCM
übernehmen. Die private Firma Connex, Ableger des Véolia- (ehemals
Vivendi-)Konzerns, die einem persönlichen Freund von Präsident Jacques
Chirac namens Henri Proglio gehört, wird ihrerseits 28 Prozent
übernehmen. Der Staat behält einen Kapitalanteil von 25 Prozent, den
er nach derzeitigen Versprechungen „vier bis fünf Jahre“ zu behalten
verspricht. Damit soll er zusammen mit den 9 Prozent der
Kapitalanteile, die den Beschäftigten als Streuaktienbesitze übergeben
werden sollen, eine „Sperrminorität“ gegen eine eventuelle
Zerschlagung der Gesellschaft bilden können – vorübergehend.
Angesichts der Tatsache, dass so offenkundig persönliche Spezis von
Präsident Chirac und Premierminister de Villepin bedient werden,
qualifizierte die linke Wochenzeitung „Politis“ vom 13. Oktober diesen
Privatisierungsplan als „einer Bananenrepublik würdig“.
Andere Brennpunkte
Ein weiterer Konfliktpunkt bei der SNCM, der bisher nur durch
allgemeine Versprechungen seitens der Regierung „gelöst“ ist, betrifft
die Forderung der Gewerkschaften, dass die jüngst begonnene
Einrichtung eines französischen Billigflaggenregisters im Mittelmeer
nicht auf die Personalpolitik der SNCM Anwendung finden soll. Das
französische Billigflaggenregister unter dem Namen „Registre
international français“ (RIF) erlaubt den Rückgriff auf bis zu 75
Prozent Arbeitskräfte aus „Drittländern“ (außerhalb der EU) mit
Beschäftigungsbedingungen wie in ihren Herkunftsländern. Die
Gewerkschaften fordern, diese Möglichkeit der Beschäftigung zu
Billiglöhnen nicht für die SNCM gültig werden zu lassen. Die Regierung
hat sich bisher lediglich dazu verpflichtet, in dieser Sache
„Gespräche“ mit den hinter dieser Idee stehenden Reedereiverbänden
anzustrengen. Für die Linien zwischen dem französischen Festland und
Korsika soll aber nach bisherigem Stand der Diskussionen die
Anstellung von Beschäftigten zu „Dritte-Welt“- Arbeitsbedingungen
ausgeschlossen werden. Aber für die Schiffsverbindungen zwischen
Marseille und den Maghrebländern ist bisher keinerlei Festlegung
solcher Art getroffen worden. Der französische Staat wird lediglich
„versuchen“, in Gesprächen mit den Reedereiverbänden „Garantien“ zu
erhalten.
Nach wie bestreikt ist in Marseille unterdessen das Metro- und
Busliniennetz der städtischen Verkehrsbetriebe (RTF). Die
RTM-Beschäftigten hatten sich im Zuge des Konflikts um die SNCM,
zunächst aus Solidarität, in den allgemeinen Ausstand zahlreicher
Branchen in Marseille eingereiht. Derzeit führen sie ihren eigenen
Arbeitskampf fort, mit Lohnforderungen sowie zur Abwehr drohender
Privatisierungstendenzen auch bei den Marseiller Verkehrsbetrieben.
Editorische Anmerkungen
Der Text wurde uns vom Autor am
13.10. 2005 zur Verfügung gestellt.
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