EU-KritikerInnen nicht erwünscht
Betrachtungen zur Linken und der EU-Mitgliedschaft der Türkei aus Anlass einer Jungle-World-Ausgabe zur Türkei.

von Peter Nowak
10/05

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Es ist ein guter Brauch der Berliner Wochenzeitung Jungle World, einmal im Jahr die Redaktionsarbeit für eine Woche ins Ausland zu verlegen und von Deutschland nur in den Auslandsspalten zu berichten.

In diesem Jahr hatte der Auslandstrip einen besonderen Reiz, weil der unmittelbar vor den Wahlen stattfand, an dem sonst alle Zeitungen selbst die unwichtigsten Ereignisse zu Schlagzeilen aufbauschen. Auch das Ziel der JournalistInnenreise, die Türkei war besonders interessant. Das Land steht seit Wochen in der Diskussion, sollen doch die Gespräche über eine mögliche EU-Mitgliedschaft beginnen. Das konservative und nationalistische Lager in Deutschland inszenierte Kampagnen gegen die EU-Mitgliedschaft, die Linke in Deutschland ging wie zu vielen aktuellen Fragen auf Tauchstation. Nur die Linke in der Türkei fragt ja gar niemand.

Die Jungle-World-Ausgabe hätte so den unterschiedlichen Positionen der türkischen Linken zur EU-Mitgliedschaft ein Forum geben können. Doch genau das scheint nicht das Ziel der Reise gewesen zu sein.

Die Jungle World 37, die die Redaktion in Istanbul produziert hat, liest sich wie eine Werbebroschüre für den schnellen EU-Beitritt. Die Beiträge wurden von türkischen Kolleginnen erstellt und die gehören eben mehrheitlich zum Kreis der weltoffenen Intellektuellen, die sich von einer schnellen EU-Mitgliedschaft Verbesserungen erhoffen. Das ist ein diskutierbarer Ansatz. Doch es gibt eben auch die Mehrheit der Menschen, die nicht in Istanbul leben, deren Arbeitsplatz nicht vernetzt ist. Vor allem kleine Gewerbetreibende und Landwirte könnten zu den VerliererInnen der EU-Mitgliedschaft werden, befürchtet der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Joachim Becker. Dann gibt es noch unterschiedliche Gruppen der türkischen Linken, die aus politischen Gründen eine EU-Mitgliedschaft ablehnen. Für sie handelt es sich bei der Europäischen Union um einen imperialistischen Block.

Eu-Standards zum Fürchten

Außerdem haben sie schon einige der vielzitierten EU-Standards kennen und fürchten gelernt. Dazu gehört beispielsweise die Isolationshaft, auch weiße Folter genannt. In den 70er Jahren wurde sie in der BRD wissenschaftlich entwickelt und an politischen Gefangenen des militanten Widerstands (RAF, Bewegung 2 Juni) ausprobiert. Sie wurde bald ein Exportprodukt nach Spanien, Frankreich, Italien, aber auch nach Peru, Chile und andere lateinamerikanische Staaten. Im Jahr 2000 war die Türkei an der Reihe.

Die Propaganda im Vorfeld war immer die gleiche. Es müsse Schluss sein mit den alten Gefängnissystem. Moderne, klinisch reine Verwahranstalten sollten her. Der Hintergrund war immer, dass Gefangenenkollektive zerschlagen werden sollten. Wo Gefangene noch mit ihren GenossInnen zusammen sind, bedeuten sie für die Herrschenden eine Gefahr. Sie könnten gegen die Regierung konspirieren, sich gemeinsam schulen, eben selbst unter Knastverhältnissen das Leben einigermaßen erträglich machen. Dagegen wehrten sich zahlreiche politische Gefangene in der Türkei mit einem am 20.Oktober 2000 begonnenen Hungerstreik, der bis heute andauert. Mittlerweile hat er 120 Gefangenen das Leben gekostet, noch mehr hat er die Gesundheit ruiniert. Doch davon steht in der Türkei-Ausgabe der Jungle World kein Wort. Dabei muss man auch bei einem Istanbul gar nicht weit fahren, um Menschen zu treffen, die im Hungerstreik waren, die den Sturm der Militärs auf die widerständischen Gefängnistrakte am 20.Dezember 2000 mit erlebt haben. Mehrere Organisationen, die sich für diese Gefangenen einsetzen, haben in Istanbul ihre Büros. Sie sind immer froh, wenn sich JournalistInnen aus EU-Staaten für ihre Anliegen einsetzen. Warum hat man nicht eine MitarbeiterIn aus diesen Kreisen die Möglichkeit gegeben, ihre Einschätzung zur gegenwärtigen Lage in der Türkei zu geben und ihre Meinung zur EU darzulegen? Warum kam keine JournalistIn zu Wort, die mehr im Knast als in der Redaktion verbringen muss. Für zahlreiche linken ZeitungsmacherInnen sind Polizeirazzia, Folter und Gefängnisaufenthalte alltäglich. Am Eingang ihrer Redaktionen finden sich Überwachungskameras, damit ein Polizeibesuch wenigstens schon vorher bekannt wird. Die Türen bestehen aus Metall, damit es den Repressionsorganen nicht ganz so schnell gelingt, in die Redaktion einzudringen. Von all dem erfährt man nichts, in der Jungle World. Selbst der Menschenrechtsverein IHD, der nicht weit von den angesagten Istanbuler Stadtvierteln sein Büro hat, wird ignoriert.

Statt dessen kommen JournalistInnen zu Wort, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben und deren ganzes Sehnen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ist. Das Land soll offiziell Teil des Club eines großen kapitalistischen Machtblocks werden und mit an der Ausplünderung und Ausbeutung der Menschen im Trikont profitieren. Von den dadurch erzielten Extraprofiten könnte die Türkei dann auch einen Teil abbekommen. Das ist im Kern die Vision dieser zivilgesellschaftlichen EU-FreundInnen. Das schreiben manche auch offen. So gilt es für Ömer Laciner „die internationalistische Komponente des EU-Projekts anzuerkennen."

EU-GegnerInnen gleich NationalistInnen?

Wer es anders sieht, ist gleich ein „Lakai des Nationalismus". Der Nationalismus-Vorwurf ist in der Jungle World-Ausgabe überhaupt der durchgängige Vorwurf auch an linke EU-GegnerInnen. Dabei wird aber die tatsächlich nationalistische „Arbeiterpartei der Türkei" (Tip) einfach mit der Linken zugerechnet, obwohl sie von den real existierenden türkischen Linken total abgelehnt und als Staatsprojekt eindeutig bekämpft wird. Nicht erwähnt wird, dass es in der Türkei tatsächlich linke Gruppierungen gibt, die gegen den türkischen Nationalismus und die EU-Mitgliedschaft kämpfen. So ist gerade der Kemalismus, der besondere türkische Nationalismus, für viele radikalen Linken das größte Feindbild. Sie sehen in den Auseinandersetzungen um die EU-Mitgliedschaft eine Scheindebatte. Der Kemalismus hatte immer das Ziel, sich an imperialistischen Blöcken zu beteiligen. Manche suchen das Bündnis mit der EU, andere eher mit der USA, andere wollen zwischen beiden Blöcken lavieren, in der Hoffnung, dass so die Türkei am besten profitieren könne.

Diskussionen gab es nicht

Natürlich gibt es Intellektuelle, die tatsächlich die Stärkung der Menschenrechtssituation von einer EU-Mitgliedschaft erhoffen. Es wäre spannend gewesen, darüber eine Diskussion in der Jungle World zu lesen. Schließlich gibt es dort allwöchentlich die Disco-Seite. Doch dort konnte man in der Türkei-Ausgabe ein mäßig witziges Geplänkel darüber lesen, ob Deutschland aus der EU ausgeschlossen soll oder doch noch eine Schonfrist anberaumt werden soll.

Dabei hätte die Redaktion besser die deutsche Politik konterkariert, wenn sie zum Beispiel MitarbeiterInnen von Gefangenenorganisationen das Wort gegeben hätten, die im Zusammenhang mit den Isolationsgefängnissen vom Stammheimexport an den Bosporus gesprochen haben, eine Parole, die sich auch linke Gruppen in Deutschland zu eigen gemacht hatten. So bleibt trotz einiger interessanter Beitrage, beispielsweise über die Verfolgung türkischer Antimilitaristen der Eindruck, EU-GegnerInnen sollen generell zu NationalistInnen gestempelt werden, so dass sie außerhalb jeder Diskussion stehen. Dann bleiben nur noch die EU-BefürworterInnen übrig. Bleibt nur die Frage, woher die Sympathie zur EU bei einer Zeitung kommt, in der die EU vor nicht zu langer Zeit mehrheitlich als deutschdominiertes gegen die USA gerichtetes Projekt eingeschätzt wurde. Ist diese Einschätzung Makulatur oder wurde sie nur mal für eine Woche außer Kraft gesetzt? Wenn aber diese begründete Einschätzung gegenüber der EU noch gelten sollte, ist zu Fragen, warum mensch dann nicht alles tut, um eine Stärkung dieser Organisation zu verhindern, in dem den EU-KritikerInnen und –gegnerInnen in der Türkei mindest genau so ein Forum geboten wird wie den EU-BefürworterInnen. Schließlich hat 1989/1990 eine deutschlandkritische Linke die Wiedervereinigung abgelehnt, deren KritikerInnen in Ost- wie Westdeutschland Raum gegeben und sich nicht mit der Begründung, die Menschen im Osten wollen es ja, zurückgelegt oder gar den VereinigungsbefürworterInnen den Raum überlassen.

P.S.: Ein Veranstaltungstipp für alle, die die Argumente von linken EU-GegnerInnen aus der Türkei kennen lernen wollen: Mittwoch, der 5.10.05, 20.30 Uhr, im Berliner Sama-Cafe, Veranstaltung. Linke aus der Türkei gegen die EU und ihre Standards. Dort soll nachgeholt werden, was die Jungle World leider versäumte: die kontroverse Debatte unter Linken zur Thematik. Mehr dazu siehe: www.interkomm.tk

Editorische Anmerkungen

Peter Nowak stellte uns den Artikel am 29.9.05 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Der Autor ist Mitherausgeber des Buches „Bei lebendigem Leib - Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen – Gefängnissystem und Gefangenenwiderstand in der Türkei", das es beim Unrast-Verlag noch käuflich zu erwerben gibt
Infos dazu: http://www.notrix.de/peter.nowak