Wandlungen des Feindbildes Islam vom europäischen Mittelalter bis zum «American Empire»

von Karin Rührdanz
10/05

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Statt diesen Beitrag «Wandlungen des Feindbildes Islam» zu überschreiben, hätte ich auch den Begriff «Kontinuität» verwenden können, denn die Ähnlichkeiten nicht nur in den Argumentationsmustern, sondern selbst hinsichtlich der realen Hintergründe in den ökonomischen und sozialen Umbrüchen und politischen Auseinandersetzungen sind oft verblüffend. Ich habe es bewusst nicht getan, um nicht ahistorischer Vereinfachung Vorschub zu leisten. Dabei bestünde die Gefahr, dass man zu dem Schluss kommt, Kriege gegen die islamische Welt seien nicht nur Begleiterscheinung europäischer Verständigung, sondern geradezu deren Bedingung. (1)

Ein Jahrtausend Islamophobie kann schwerlich im vorgegebenen Rahmen abgehandelt werden. Ich werde mich deshalb auf drei Entwicklungsetappen beschränken:

1. die Entstehung des Feindbildes Islam im späten 11. Jahrhundert;

2. antimuslimische Positionen in der frühen Neuzeit, also im 16. und 17. Jh.; und

3. den US-amerikanischen «Kreuzzug für Demokratie».

Nachdem im 7. Jahrhundert östlich und südlich jener im Entstehen befindlichen Staatenwelt, die sich als christlich definierte, ein neues Großreich entstanden war, in dem sich der Islam langsam, aber stetig zur dominierenden Religion entwickelte, wurden Konfrontationen - sofern es dazu kam - noch jahrhundertelang nicht vorrangig als «christlich versus muslimisch» begriffen. Das Kalifat wurde in westlicher Richtung zunächst auf Territorien ausgedehnt, die zuvor unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatten. Dann erreichte die Eroberungswelle im 8. Jahrhundert die iberische Halbinsel und im 9. Jahrhundert Sizilien und Süditalien. Mit arabischen Schiffen gelangten Händler und Räuber an italienische und französische Mittelmeerküsten, wo sie Stützpunkte errichteten und im 10. Jahrhundert schließlich bis in das mittlere Rhônetal vorstießen, Piemont attackierten und über die Alpenpässe bis in das Gebiet der heutigen Ostschweiz gelangten.

Sporadische Kontakte änderten nichts daran, dass auf christlicher Seite «totales Desinteresse» und «nicht überbietbare Unkenntnis» das Verhältnis prägten. (2) Die Gesandtschaft Karls des Großen 797 an den Kalifen Harun al-Rashid in Bagdad blieb auch noch für lange Zeit danach die Ausnahme und ist nur aus dem kurzzeitig erlangten neuen Selbstverständnis des auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befindlichen Karolingerreiches zu verstehen. Die Herrscher nahmen sich gegenseitig zur Kenntnis - zur Rivalität reichte es nicht, aus unterschiedlichen Gründen auf beiden Seiten. Auch auf ideologischer Ebene fehlte der Konfrontation die Spezifik: Die unmittelbare, regional begrenzte Auseinandersetzung war stets die jeweils wichtigste für die Betroffenen: An den italienischen Westküsten waren es im 9. Jh., besonders nach dem Angriff auf Rom 846, die Araber und Berber, und prompt tauchten in päpstlicher, gegen die Heiden gerichteter Rhetorik antimuslimische Elemente auf. (3) Das Echo darauf blieb aus, da man anderenorts weitaus mehr mit Awaren, Wikingern, Ungarn oder Slawen Sorgen hatte. Mit allgemeinen Verunglimpfungen der «Heiden» wurde aber bereits der Boden für spätere Entwicklungen vorbereitet.

Um die erste Jahrtausendwende wurden dann im Verhältnis zu den Muslimen als «Heiden» ebenso wie beispielsweise zu den Slawen andere Töne hörbar. Im Übergang von der Defensive zur Offensive «wurde jetzt der Kriegerberuf christianisiert». (4) Noch in der Karolingerzeit war das Verhältnis der Kirche zum Kriegerhandwerk von Zurückhaltung gekennzeichnet gewesen. Milites Christi (Streiter des Herrn) kämpften gegen die Dämonen in ihrem eigenen Innern, gegen die Laster: übrigens eine deutliche Parallele zum Verständnis des jihad im Islam, auch wenn der militia Christi eine starke weltverneinende Komponente eigen war, was so allgemein nicht für den jihad gilt. Zu den Streitern des Herrn konnte sich jeder Christ zählen, sofern er sich um einen entsprechenden Lebenswandel bemühte, besonders natürlich die Mönche. So schlussfolgert Erdmann denn auch: «Soviel aber hat zunächst in der katholischen Kirche immer festgestanden, dass der himmlische Heeresdienst rein geistlicher Art sei und dass der weltliche Kriegsdienst gerade den Gegenpol des christlichen bilde.» (5) Konsequenterweise war Klerikern das Waffentragen verboten und das «eigentliche Kriegerleben» galt als «Inbegriff des gottfernen, für das Seelenheil gefährlichen Weltlebens». (6)

Das hat die Kirche nicht gehindert, Abwehrkämpfe gegen die Normannen, Araber oder Ungarn zu unterstützen. Ein solcher Krieg galt als gerecht, die Tötung eines Heiden aber nach wie vor als Sünde, für die – wenn auch oft nur symbolisch – Buße zu leisten war. (7) Die Propagierung der Auffassung, dass es Teil christlicher Verpflichtung und daher für das Seelenheil geradezu notwendig sei, zum Zwecke der Eroberung in den Krieg gegen die Heiden zu ziehen, setzte erst im 11. Jahrhundert ein. Ein herausragendes Beispiel psychologischer Kriegführung stellt dabei das im späten 11. Jh. abgefasste Rolandslied dar.

Ein heiliger Krieg

Sich auf das Beispiel einer Passage dort berufend, schreibt Rütten: «Der Missionierungsdrang der Christen steigert sich in diesen Versen des Rolandsliedes zu Fanatismus, der nicht mehr nur Bekehrung will, sondern Ausrottung der Unbekehrbaren fordert.

Diese Alternative ist eines der Wesensmerkmale der Kreuzzüge, sei es der Normannenzüge gegen die Muslime in Sizilien, der ,Reconquista’ in Spanien oder des ersten großen Kreuzzugs von 1096. Besonders jedoch die Kreuzzugsunternehmungen der französischen Ritter gegen die iberischen Muslime am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts prägt diese Atmosphäre der Intoleranz.» (8) Und um das Ideal des christlichen Ritters unmissverständlich klarzustellen, zitiere ich Bernhard von Clairveaux, den heiligen Bernhard: «Ein Soldat Christi tötet sicher, stirbt aber noch sicherer. Für ihn nämlich ist es gut, wenn er stirbt, für Christus aber, wenn er tötet. Nicht ohne Grund trägt er sein Schwert: als Diener Gottes ist seine Bestimmung, das Böse zu rächen, das Gute aber zu verherrlichen.» (9)

Ein im Namen Gottes gegen das Böse geführter Krieg, ein heiliger Krieg also, bedarf für die Gläubigen eigentlich keiner weiteren Rechtfertigung. Trotzdem ist festzustellen, dass zwei andere Konzepte eine wichtige Rolle spielten, der christliche Frieden und die Befreiung der von Ungläubigen unterdrückten Christen.

Was den innerchristlichen Frieden angeht, hatte eine solche Vorstellung sich bereits seit dem späten 10. Jh. ausgeprägt. Im Versuch, die sich mit dem Niedergang der königlichen Zentralmacht ausbreitende allgegenwärtige Gewalt und Anarchie einzugrenzen, hatten sich regionale Friedensbünde gebildet. (10) Die Kirche setzte sich bald an die Spitze dieser Bewegung und bemühte sich, die Friedenspakte auf Abmachungen zwischen Fürsten auszudehnen. Das klar ausgesprochene Argument lautete: wenn schon Krieg, dann nach außen und nicht zwischen Christen. Wer aber «außen» blieb und als Feind des Friedens angesehen wurde, das bestimmte nun die Kirche. Noch zur Zeit Gregors VII., in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 11. Jh. waren dies in erster Linie «falsche Christen», also Häretiker, unbotsame Fürsten einschließlich Kaiser Heinrichs IV., und ungehorsame Priester. (11) Erst Papst Urban II. (1088-1099) lenkte den Expansionsdrang europäischer Fürsten und die Gier der zu kurz gekommenen Ritter aus dem christlichen Territorium hinaus gegen die Muslime. Hier ist also der Ansatzpunkt für die eingangs erwähnte These Mastnaks zu suchen, der Friede in der Christenheit, resp. in Europa, setze den Krieg nach außen, speziell gegen die Muslime voraus.

Erst Urban II. führte in Vorbereitung des 1. Kreuzzugs auch das zweite Argument ein, die nach Befreiung lechzenden Christen unter muslimischer Herrschaft. (12) Dass den Befreiten wenig Zeit blieb sich zu bedanken, bevor sie in den großen Massakern, wie in Jerusalem 1099, umkamen, kann als frühe Erscheinungsform des Kollateralschadens betrachtet werden.

Die entscheidende ideologische und organisatorische Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Kreuzzüge gegen die Muslime brachte die päpstliche Kurie auf den Höhepunkt ihrer Macht. Nicht verwunderlich, dass sie deshalb jedem Versuch, dem permanenten Krieg ein Ende zu setzen - vgl. ihre Haltung zum Vertrag zwischen Friedrich II. und al-Kamil - Widerstand leistete. Schließlich verlangte sie von jedem Christen die Verpflichtung zur Teilnahme am Kreuzzug gegen die Ungläubigen. Entsprechend dem jeweiligen Bedarf wollte Papst Innozenz III. dann seine «Koalition der Willigen» zusammenstellen. (13)

Doch mit Innozenz III. und seinem 5. Kreuzzug sind wir bereits im 13. Jh., das manchmal auch als das arabische Jahrhundert Europas bezeichnet, ja sogar als pro-islamisch (14) hinterfragt wird. Diese Einschätzung bezieht sich natürlich auf den Höhepunkt des Studiums der durch arabische Übersetzungen vermittelten griechischen und spätantiken Texte und der darauf aufbauenden arabischen Werke zur Philosophie, Mathematik, Medizin und den Natur- und Geheimwissenschaften, aber auch auf eine allgemeinere Anerkennung muslimischer Kultur als vorbildlich. So soll beispielsweise Albertus Magnus, als er 1245 in Paris ankam, arabisch gekleidet gewesen sein, um seine Position als Gelehrter auch nach außen zu verdeutlichen. (15) Der vor allem über Spanien und Sizilien vermittelte Einfluss der muslimischen Kultur auf Literatur, höfische Kultur, Wissenschaft und Geistesleben ihrer nördliche Nachbarn ist heute unbestritten. Wie funktionierte dies alles, während die höchste geistliche Autorität den Muslim zur Inkarnation des Bösen erklärte? - Die vielschichtige Gesellschaft des europäischen Hochmittelalters reagierte auf die Herausforderung durch den arabisch-muslimischen Kulturbereich offensichtlich sehr unterschiedlich, wobei sowohl die oberflächliche Aneignung einzelner kultureller Elemente wie auch die tiefer gehende Auseinandersetzung mit ihnen Elitenphänomene darstellten. Der Marktplatz blieb den religiösen Eiferern überlassen.

Ein zusätzlicher Beweis dafür könnte im Schmuck romanischer Kirchen vor uns stehen. Dieser Weg der Massenbeeinflussung wurde im vergangenen Jahr durch die Fotoausstellung «Islam in Kathedralen – Bilder des Anti-Christen in der romanischen Skulptur» im Berliner Museum für islamische Kunst ins Bewusstsein gerückt. (16) Sie zeigte seltsame, oft obszöne Darstellungen an romanischen Kirchen, vor allem in Nordspanien und Südfrankreich, und interpretierte sie als christliche Propaganda, die Hass und Verachtung gegenüber den Muslimen wecken sollte. Damit wurde erstmalig dezidiert nach dem Anteil antimuslimischer Darstellungen innerhalb der Bilder jener «heillosen, heilsfeindlichen oder heilsgefährdeten» (17) Gestalten gefragt, die seit dem 11. Jh. in befremdlicher Weise an Kirchen auftauchen. Außer Acht gelassen wurde dabei leider die noch recht spärliche Forschung zu diesen «Gegenbildern», (18) zu denen u. a. menschlich agierende Tiere, Spielleute, Narren und Gebärdenakteure gehören. Mit den «vom künftigen Heil Ausgeschlossenen» waren nicht nur soziale Randgruppen, sondern auch Häretiker und Heiden gemeint, denn moralische Verfehlungen, speziell im Bereich der Sexualmoral, gehörten zu den Standardvorwürfen gegen Ketzer und Heiden. Die visuelle Anprangerung sündhaften Seins konnte nach Bedarf in Bezug zu bestimmten Gruppen gesetzt werden, auch ohne dass die Figuren deutliche Kennzeichen trugen. Trotzdem wäre es zur Absicherung der These, dass die «Gegenbilder» das Feindbild Islam forcierten, wichtig, aus dem Spektrum der abgebildeten Feinde der Kirche jene herauszufinden, die deutlich als Muslime gekennzeichnet sind. Bisher kann ich einer solchen Zuweisung bei den meisten Beispielen nicht folgen. Ein musizierender Esel (19) beispielsweise, ist zunächst eine Verspottung von Musikanten und eine Warnung an die Gläubigen, sich nicht irdischen Lustbarkeiten hinzugeben. Musikalischer Einfluss aus dem islamischen Spanien verfällt damit automatisch ebenfalls der Ablehnung, muss aber nicht speziell und allein gemeint sein. Kopftücher oder Bärte sind für eine spezifizierte Aussage völlig unzureichend.

Auf der sicheren Seite befinden wir uns jedoch mit einer Darstellung zweier gefangener Muslime. (20) Bildformeln wie die des/der Nackten mit flach auf die Brust gelegter Hand (21) gehören nicht zu den gängigen Entblößer-Typen (22) und verdienten weitere Untersuchungen. Typisch muslimische Bethaltungen (23) zum Ausgangspunkt solcher Analysen zu machen, wäre m. E. sinnvoll, sofern sie sich klar genug von der mittelalterlichen Gebärdensprache absetzen lassen.

Der Effekt permanenter Anschauung solcher Diffamierungen auf ein illiterates Publikum sollte nicht unterschätzt werden, zumal der Vorwurf moralischer Verkommenheit sich verselbstständigen und auch ohne die Bindung an den religiösen Antagonismus überdauern konnte. Ein facettenreiches anti-islamisches Feindbild war damit in der Welt und entsprechend den jeweiligen Bedingungen abrufbar.

Kreuzzüge kultivieren das Feindbild

Dafür, dass das Feindbild in den nachfolgenden Jahrhunderten präsent blieb, sorgte schon eine Reihe weiterer Kreuzzüge, die sich nun gegen die Mamluken und dann gegen die Osmanen richteten. (24) Auf den ersten Blick erscheint es deshalb, als würden die Aufrufe zum Frieden zwischen europäischen Mächten im Dienst eines gemeinsamen Kampfes gegen «die Türken», wie sie beispielsweise von Thomas Morus bekannt sind, (25) nahtlos fortschreiben, was Papst Urban II. gefordert hatte. Aber abgesehen davon, dass es schon einen Unterschied macht, ob der Aufruf zum Kampf gegen den ungläubigen Feind der Abwehr osmanischer Expansion dienen sollte oder – wie in der Kreuzzugsphase – unprovozierte Aggression rechtfertigte, hatten sich auch andere äußere Bedingungen verändert. Die sich festigenden Territorialstaaten waren im Kampf um die «Neuordnung» Europas zu keinem einheitlichen Vorgehen gegen das Osmanische Reich zu bewegen, zumal der Zerfall der katholische Kirche deren Führungsanspruch obsolet werden ließ. Mit der Herausbildung protestantischer Kirchen spitzte sich der innerchristliche religiöse Disput in einer Weise zu, dass die Polemik gegen die „Heiden“ ihm untergeordnet wurde. So verlagerte sich die ideologische Auseinandersetzung mit den Osmanen zunehmend von der religiösen auf die politische Ebene, und der Feind wurde nun ethnisch-politisch als „Türke“ identifiziert, dessen Muslim-Sein nur noch ein Teil des neuen Feindbildes war. Mit Luther überlegten auch andere Führer der Protestanten, ob der Papst nicht eigentlich schlimmer als „der Türke“ sei. Innerhalb des Habsburger Reiches bildete sich auf protestantischer Seite, nachdem man von der weitgehend verfolgungsfreien Ausübung des Glaubens in den von den Osmanen eroberten Gebieten erfahren hatte, (26) eine starke Gruppe von Befürwortern eines Zusammengehens mit dem Osmanischen Reich gegen die katholischen Mächte heraus. Politische Opportunitäten wurden öffentlich gegen Glaubensverpflichtungen abgewogen. Zudem mischten sich Stimmen in die Berichterstattung, die aus eigenem Erleben von den Verhältnissen im Osmanischen Reich berichteten und ganz andere Töne anschlugen: Sie rühmten beispielsweise die soziale Mobilität, die im Gegensatz zur europäischen Ständegesellschaft eine Würdigung von Verdiensten erlaube. (27) In der frühkapitalistischen Gedankenwelt konnte die simple Vorstellung vom Muslimen/Türken als Antichristen offensichtlich nicht mehr so einfach Fuß fassen, obwohl sie keineswegs vollständig verschwand. Die Ablehnung des Kreuzzugsgedankens beispielsweise durch Luther (28) ist sicher auch im Zusammenhang mit dem Bemühen um die Schwächung des päpstlichen Einflusses zu sehen, bedeutete aber zugleich eine „Entklerikalisierung und Entsakralisierung des Weltlichen“ (29).

Auf der politischen Ebene allerdings wurde der «Integrationsfaktor ‹Türkengefahr›» dringend benötigt. (30) Der Anziehungskraft, die die soziale Ordnung im Osmanischen Reich auch auf die bäuerliche Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa ausübte, traten die Herrschenden dadurch entgegen, dass sie in der antitürkische Propaganda Anklagen wegen Grausamkeiten, Zerstörung der Familie, Vielweiberei und Homosexualität in den Vordergrund stellten. (31) Zum wichtigen Instrument bei der Vertiefung und Modifizierung des Feindbildes entwickelten sich seit dem späten 15. Jahrhundert die illustrierten Flugblätter. (32) Abgesehen von dem hohen Anteil der Blätter, die sich direkt mit «den Türken» beschäftigten, wurde das Feindbild auch durch den bereits erwähnten «Schlimmer-als-der- Türke»-Vergleich verfestigt, indem beispielsweise im Konfessionsstreit der jeweilige Gegner zum «Türken» in Bezug gesetzt wurde. (33) Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Europa mit fortschreitender Säkularisierung Stück für Stück sein auf dem alleinseligmachenden Glauben beruhendes Überlegenheitsgefühl verlor und sich anderen Welten mit einer gewissen Aufgeschlossenheit zuwandte. Ebenso sukzessive kompensierte es diesen Verlust allerdings durch die Herausbildung eines Überlegenheitsgefühls, das einen grundsätzlichen zivilisatorischen Unterschied behauptete und damit die geistige Grundlage für die Kolonisierung im 19. Jh. schuf. Als Ausgangspunkt diente das antike Weltverständnis mit seiner Einteilung in die zivilisierten und die barbarischen Regionen, dem entsprechend nun Europa mit Zivilisation, das heidnische Asien dagegen mit der Barbarei gleichgesetzt wurde. (34)

Mythen und Legenden

Zur Vielschichtigkeit des antitürkischen/anti- islamischen Diskurses in der frühen Neuzeit gehören aber auch Rückgriffe auf alte Mythen und ihre Verknüpfung mit Endzeitvorstellungen. Sie sind beispielsweise in die Deutung der türkischen Expansion als Strafe Gottes für die sündigen Menschen eingeflossen, (35) die auch zur theologischen Argumentation Luthers gehört. (36) Eine besonders merkwürdige Ausprägung erfuhren diese apokalyptischen Vorstellungen in einem Szenarium, das auf der sogenannten Wiedereinsetzung der Juden in Palästina beruhte. Demnach würden die Juden «ins verheißene Land zurückkehren, um gegen die Sarazenen und Türken zu kämpfen, zum Christentum konvertieren und dann in Palästina das protestantisch-englische Königreich Christi ausrufen». (37) Im 16. Jh. noch als ketzerisch verdammt, wurde diese Idee im 17. Jh. salonfähig. Unnötig zu betonen, dass die Juden, denen überhaupt erst nach 1655 und dann auch nur inoffiziell die Niederlassung in England möglich wurde, bei dieser Diskussion nicht um ihre Meinung gefragt wurden. Diese bizarre Episode englischer Geistesgeschichte wäre kaum der Erwähnung wert, erstreckte sich ihre Wirkung nicht bis in die Gegenwart.

Wenn ich jetzt schnell zur Gegenwart überleiten möchte, dann nicht, weil die dazwischen liegenden Jahrhunderte für die Ausprägung des Islambildes unbedeutend gewesen wären. Vor allem Publikationen über den Islam und den Propheten Muhammad sorgten das 18. Jahrhundert hindurch dafür, dass negative Stereotypen tradiert wurden, (38) mit denen wenig später die koloniale Expansion gerechtfertigt wurde. Das Zivilisationsargument, besonders die angebliche Unfähigkeit der muslimischen Völker, sich selbst zu regieren und eine „moderne“ Gesellschaft zu entwickeln, stand im 19. Jahrhundert aber eindeutig im Vordergrund.. (39) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bis in die inzwischen hinreichend publizierten Haremsphantasien europäischer Literatur und Kunst des 19. Jh. das Feindbild des hohen Mittelalters nachwirkte, inzwischen aber vom Feind zum Anderen, Exotischen und dabei zivilisatorisch Unterlegenen abgeschwächt wurde. Für ein zunehmend säkularisiertes Europa war der Islam nur noch ein Grund neben anderen für das Versagen der Gesellschaften des vorderen und mittleren Orients. Die Dekolonisierung im 20. Jh. bediente sich des nationalen Diskursfeldes, das den Europäern seit langem vertraut war. Erst seit ca. 30 Jahren kann man wieder von der Entwicklung eines Feindbildes Islam im eigentlichen Sinne sprechen.

Eine Wiederbelebung

Aufgeschreckt wurde man in Europa durch die Verlagerung des Diskursfeldes. Die Auseinandersetzung um die politischen, ökonomischen und kulturellen Ansprüche der Bevölkerung in islamischen Ländern war plötzlich nicht mehr nationalistisch bestimmt, sondern islamistisch, (40) auch wenn nicht übersehen werden sollte, dass es in vielen muslimischen Ländern auf gesellschaftliche Veränderungen orientierte politische Kräfte gibt, die außerhalb des islamistischen Spektrums stehen. Das von den Protagonisten neoliberaler Hegemonie im Islamismus vermutete Potential zum Widerstand und zur Entwicklung alternativer Gesellschaftsmodelle (41) war einer der Gründe für die Wiederbelebung des Feindbildes Islam.

Dass aber gerade dieser Versuch des Ausbruchs aus der neoliberalen Globalisierung mit einer solchen Feindbildpropaganda beantwortet wird, hat eine ganze Reihe von Ursachen, auf die ich nicht eingehen möchte. Um nur drei in ungeordneter Reihenfolge zu nennen:

– das Kräfteverhältnis in Bezug auf das Haupthindernis bei der Durchsetzung US-amerikanischer Vorherrschaft – China;

– das Streben nach Verfügungsgewalt über die Energiereserven;

– die Verbesserung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten durch die Beseitigung des «Gürtels der Instabilität», an dem die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens einen großen Anteil haben.

Das alles kann man in den Strategiepapieren der so genannten Neocons explizit nachlesen. (42) Wie zu früheren Zeiten dient das Feindbild Islam zudem in starkem Maße der eigenen politischen Stabilisierung und der Disziplinierung der eigenen Bevölkerung. Hier soll uns aber vor allem interessieren, wie das Feindbild wiederbelebt worden ist und welche Facetten es entwickelt hat.

In Europa, aber auch in der vorzugsweise für Europa bestimmten US-Propaganda wird dabei vor allem an das Überlegenheitsgefühl des aufgeklärten Europäers angeknüpft. Es wird ein Wesen des Islam beschworen, zu dessen Kennzeichen Militarisierung, Unfähigkeit zur Demokratie und Negierung der Menschenrechte gehören. Die essentialistische Betrachtungsweise der Religion wird dann auf die von ihr maßgeblich beeinflusste Kultur ausgedehnt – und schon sind wir bei Huntington. (43) Versuche, die Einschätzung des «Wesens» zu korrigieren, wie sie vor allem den interreligiösen Dialog dominieren, werden da wenig ausrichten. Die Gegenargumentation kann nur aus einer soliden historischen Betrachtung abgeleitet werden.

Der Verweis auf eine wesenhafte Fortschrittsunfähigkeit, Demokratiefeindlichkeit und Gewaltneigung des Islam zielt allerdings bereits auf ein Publikum mit gewissen intellektuellen Ansprüchen. Auf einer niederen Ebene lassen sich offensichtlich einzelne Elemente des mittelalterlichen Feindbildes reaktivieren, von der Verspottung des Gebets und anderer ritueller Vorschriften bis zur Anklage der Amoralität.

In mancher Hinsicht stellt die Behauptung von den grundsätzlich verschiedenen –  in der Zuspitzung antagonistischen – Zivilisationen, bei der die positiven Werte ausnahmslos der einen, nämlich der «westlichen» zugeordnet werden, lediglich die säkularisierte Variante christlich-fundamentalistischer Vorstellungen vom Kampf des Guten gegen das Böse dar. Deren in den USA virulente Form wird als dispensationalism bezeichnet, zurückgehend auf die Einteilung der Heilsgeschichte in dispensations, aufeinanderfolgende göttliche Ordnungen, in denen Gott der Menschheit die Möglichkeit zur Erlösung bietet. In der jetzigen Epoche soll es nach einer siebenjährigen Herrschaft des Anti-Christ zur großen Entscheidungsschlacht am Hügel von Megiddo kommen. (44) In einer Umfrage stimmten 1996 42 Prozent der US-Amerikaner der Aussage zu, dass die Welt in der Schlacht von Armageddon zwischen Jesus und Anti-Christ ihr Ende finden wird. (45) In dieser Grundform kann die Prophezeiung gegen unterschiedliche Gegner eingesetzt werden, und sie wurde es nach dem Ende des zweiten Weltkriegs vor allem gegen den Kommunismus und die Sowjetunion. Inzwischen sind diejenigen Elemente der Prophezeiung, die sich auf die spezifische Rolle der Juden dabei beziehen, wieder in den Vordergrund getreten, der Islam hat den Part des Erzfeindes übernommen und Russland stellt nur noch Hilfstruppen. (46)

Wenn von den Anhängern dieser Endzeitprophezeiungen über den islamischen Fundamentalismus behauptet wird, der Islam versuche nicht nur den Staat Israel zu zerstören, sondern auch die jüdisch-christiliche Kultur zu Fall zu bringen, (47) wird deutlich, an welche Einstellungen Huntington mit seinem Weltbild anknüpfen kann. Die apokalyptische Vision mit ihrer simplen Einteilung der Welt in Gut und Böse und der abschließende Sieg über das Böse entsprechen bestens, so meint Boyer, der politischen Kultur in den USA. (48) Auf demselben Boden ist auch der «Clash of Civilizations» erwachsen, nur dass er Milieus außerhalb oder am Rande der christlichen Fundamentalisten bedient.

Anmerkungen

1 Tomaž Mastnak, «Europe and the Muslims: The Permanent Crusade?», in The New Crusades: Constructing the Muslim Enemy, eds. Emran Qureshi and Michael A. Sells, New York 2003, 205-248.
2 Ekkehart Rotter, Abendland und Sarazenen: Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin, New York 1986, 256.
3 Tomaž Mastnak, Crusading Peace: Christendom, the Muslim World, and Western Political Order, Berkeley, Los Angeles, London 2002, 107.
4 Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935, 51.
5 Ebenda, 11.
6 Ebenda.
7 Tomaž Mastnak, Crusading Peace: Christendom, the Muslim World, and Western Political Order, Berkeley, Los Angeles, London 2002, 17.
8 Raimund Rütten, Symbol und Mythos im altfranzösischen Rolandslied, Braunschweig 1970, 88.
9 Zitiert nach Rütten, ebenda, 90.
10 Für einen neueren Überblick vgl. Thomas Head and Richard Landes, Introduction to id. (eds), The Peace of God, Ithaca and London 1992, 1-20.
11 Tomaž Mastnak, Crusading Peace: Christendom, the Muslim World, and Western Political Order, Berkeley, Los Angeles, London 2002, 80-83.
12 Ebenda, 94.
13 Ebenda, 146-147.
14 Franco Cardini, Europa und der Islam: Geschichte eines Missverständnisses, München 2000, 126.
15 Ebenda, 136.
16 Claudio Lange, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst, Berlin 2004.
17 Katrin Kröll, «Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters (Einführung)», in Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, hrsg. Katrin Kröll und Hugo Steger, Freiburg/Br. 1994, 58.
18 Für einen Überblick vgl. ebenda 11-105, mit ausführlichem Literaturverzeichnis.
19 Claudio Lange, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst, Berlin 2004, 55.
20 Ebenda, 60.
21 Ebenda, 48-49, 58
22 Ebenda, 46, 76, vgl dazu Katrin Kröll, «Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit», in Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters, hrsg. Katrin Kröll und Hugo Steger, Freiburg/Br. 1994, 239-294.
23 Claudio Lange, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst, Berlin 2004, ev. 69-71.
24 Für einen Überblick über diese weniger bekannten Kreuzzüge vgl. Norman Housley, The Later Crusades, 1274-1580, Oxford 1992.
25 Tomaž Mastnak, «Europe and the Muslims: The Permanent Crusade?», in The New Crusades: Constructing the Muslim Enemy, eds. Emran Qureshi and Michael A. Sells, New York 2003, 215.
26 Klaus Schwarz, «Die Türken als Hoffnung der deutschen Protestanten zur Zeit des Interims», in Europa und der Orient 800-1900 (LeseBuch), Hrsg. Gereon Sievernich und Hendrik Budde, Berlin 1989, 51-55.
27 Salomon Schweigger, Zum Hofe des türkischen Sultans, hrsg. Heidi Stein, Leipzig 1986, 159-160.
28 Herbert Blöchle, Luthers Stellung zum Heidentum im Spannungsfeld von Tradition, Humanismus und Reformation, Frankfurt/M. 1995, 176-177.
29 Ebenda, 179.
30 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, München 1978, 36.
31 Ebenda, 57-58.
32 Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit, Tübingen 1990, 175-177; Jutta Schumann, «Das politisch-militärische Flugblatt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Nachrichtenmedium und Propagandamittel», in Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit, hrsg. Wolfgang Harms, Michael Schilling, Frankfurt/M. 1998, 229-230.
33 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, München 1978, 54; Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, II: Wolfenbüttel, 2, hrsg. Wolfgang Harms, München 1980, 10-13.
34 Franco Cardini, Europa und der Islam, München 2000, 191.
35 Constantinos A. Patrides, «‹The Bloody and Cruell Turke›: the Background of a Renaissance Commonplace», Studies in the Renaissance, X (1963), 126-135.
36 Herbert Blöchle, Luthers Stellung zum Heidentum im Spannungsfeld von Tradition, Humanismus und Reformation, Frankfurt/M. 1995, 35-35, 172-173, 180-182.
37 «This ‹Restorationist› heresy stated that the Jews would ‹restore› to the promised land in order to fight the Saracens and the Turks, convert to Christianity and then declare in Palestine the Protestant English kingdom of Christ.» Nabil Matar, Islam in Britain 1558-1685, Cambridge 1998, 168.
38 Marc-Oliver Rehrmann, Ehrenthron oder Teufelsbrut: Das Bild des Islams in der deutschen Aufklärung, Zürich 2001.
39 Edward Said, Orientalism, New York 1979.
40 Die in der Forschung umstrittenen Begriffe «Islamismus» und «islamischer Fundamentalismus» bezeichnen oft ein und dasselbe vielschichtige Phänomen. Ich ziehe es vor, Islamismus als Oberbegriff für alle politischen Strömungen zu verwenden, die sich vorrangig auf den Islam berufen. Das lässt Raum auch für jene Richtungen, die sich vorrangig auf die ethischen Grundforderungen des Islam beziehen. Islamischer Fundamentalismus wäre aus dieser Sicht nur Teil des Islamismus und das Pendant, beispielsweise, zum christlichen Fundamentalismus., vgl. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und «Kampf der Kulturen», München 2000. Im welthistorischen Kontext erscheint dann der Islamismus in all seinen Formen als die ideologische Vorbereitung und Begleitung einer nachholenden Entwicklung im Zeitalter neoliberaler Globalisierung. Zum Modernisierungspotential vgl. z.B. Bjørn Olav Utvik, «The modernizing force of Islam», in Modernizing Islam, eds. John L. Esposito, François Burgat, London 2003, 43-67.
41 François Burgat, «A Different View on the ‹Decline of the Islamists›», in Islam and the West, ed. Werner Ruf, Münster 2002, 73-86.
42 Eine Zusammenfassung bietet beispielsweise Rainer Rilling, «American Empire» als Wille und Vorstellung. Die neue große Strategie der Regierung Bush. Standpunkte 5/2003, hrsg. Rosa-Luxemburg-Stiftung.
43 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen - The Clash of Civilizations: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 19987. Repräsentativ für diese Betrachtungsweise sind auch die Arbeiten von Bernard Lewis, beispielsweise Der Atem Allahs. Die islamische Welt und der Westen: Kampf der Kulturen?, München 1994. Zur Kritik: John Trumpbour, «The Clash of Civilizations: Samuel P. Huntington, Bernard Lewis, and the Remaking of the Post-Cold War Order», in The New Crusades: Constructing the Muslim Enemy, eds. Emran Qureshi and Michael A. Sells, New York 2003, 88-130; Gazi Çaglar, Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen, München 2002.
44 Paul Boyer, «The Middle East in Modern American Popular Prophetic Belief», in Imagining the End: Visions of the Apocalypse from the Ancient Middle East to Modern America, eds. Abbas Amanat and Magnus Bernhardsson, London, New York 2002, 313-314.
45 Ebenda, 315.
46 Ebenda, 324-335.
47 «This movement seeks not only to destroy the state of Israel but also the overthrow of Judeo-Christian culture.» Hal Lindsey, zitiert ebenda, 329.
48 Ebenda, 316.

 

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von
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