Sowohl als auch
Karl Heinz Roth und der Zustand der Linken

von Christoph Jünke
10/05

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onlinezeitung

Im Frühjahr 2004, auf dem Höhepunkt außerparlamentarischer Opposition gegen den in der Agenda 2010 sich verkörpernden »rot-grünen� Neoliberalismus und zur gleichen Zeit, als sich die Initiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit sowie die Wahlalternative 2006 der Öffentlichkeit vorstellten, veröffentlichte Karl Heinz Roth einen vielbeachteten Beitrag über den deutschen Sozialkahlschlag (veröffentlicht u.a. in der Jungen Welt und in Analyse & Kritik, in Auszügen auch in SoZ 5/04.

Roth bot uns damals eine treffende Darstellung und weltpolitische Einordnung der »rot-grünen« Schleifung des Sozialstaats als »pausenlos zugreifender[r] und arbeitsteilig abgestimmte[r] Demontage der Arbeitsmärkte, des Gesundheitswesens, des Bildungssektors, der Altersrenten und der Migrationspolitik« und forderte ein breites soziales und basisdemokratisches Bündnis, »das von Subproletariern der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den selbstständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs mit einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft«.

Ein Jahr später ist die außerparlamentarische soziale Bewegung von der Straße verschwunden. Ein Teil der Bewegung traf sich jüngst zum ersten deutschen Sozialforum in Erfurt. Die beiden Parteiinitiativen haben sich zur Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) formiert, die wiederum sich in einem auf den bevorstehenden Einzug in den Bundestag zielenden Fusionsprozess mit der alten PDS befindet. Und Karl Heinz Roth hat seine Analyse von damals vertieft und als kleines Büchlein* veröffentlicht.

Der Zustand der Welt bietet gleichzeitig mehr und weniger als Roths damaliger Beitrag. Mehr bietet er dort, wo er seine Analyse des neoliberalen Angriffs auf den globalen Kontext ausweitet und eine globale Revolutionstheorie anbietet, weniger dagegen dort, wo es um die Umsetzung seiner politischen Strategien auf die deutsche Situation geht.

Vom Zustand der Welt

Den entscheidenden Motor der globalen klassenkämpferischen Offensive sieht Roth in der »Vertreibung der kleinbäuerlichen Familien von ihrem Land, die inzwischen die gesamte kapitalistische Peripherie erfasst hat«. Eine globale Landflucht und kontinentale Migrationsprozesse haben zur Herausbildung von Schattenökonomien und sog. Slum Cities geführt, in denen eine Milliarde land- und eigentumsloser Menschen in einem Prozess der Selbstghettoisierung gleichsam gefangen sind. Transkontinentale Umschichtungen der industriellen Arbeiterklasse, die Verfestigung und Ausbreitung einer weltweiten Massenarbeitslosigkeit und von ungeschützten, prekarisierten Arbeitsverhältnissen ergänzen dieses Bild und führen dazu, dass die überwiegende Mehrheit der globalen Unterklassen allenfalls noch von der Hand in den Mund lebe.

Aus dieser Globalperspektive leitet Roth nun die Aktualität einer sozialistischen Alternative ab. Für die globalen Unterklassen, »die überwiegende Mehrheit der derzeit 6,4 Milliarden Menschen«, habe der Kapitalismus »zweifellos« »seine sozialen Legitimationsgrundlagen verloren«, allerdings lasse sich daraus »noch lange nicht die Erwartung herleiten, dass die globalen Unterklassen über kurz oder lang gegen das Weltsystem revoltieren werden«. Gehe es in den Slum Cities darum, die elementaren Überlebensbedingungen (Wohnung und Elektrizität, Nahrung und Wasser, Gesundheit und Bildung) zu erkämpfen und zu sichern, gehe es in den Global Cities um Wiederaneignung und kommunale Sozialisierung der privatisierten Infrastrukturen und Sozialfonds: »Kommunale Versorgungsbetriebe, Nahverkehr, Gesundheitswesen, Wohnungswirtschaft, Stadtteil- und Jugendzentren, Bildung, Garantielöhne und soziales Grundeinkommen usw.«

In diesem Kampf um elementare Überlebensbedingungen sieht Roth eine sozialistische Transformationsperspektive. Es gehe darum, »weltweit verortete kommunalsozialistische Initiativen« zu starten, die sich v.a. auf die Vernetzung von Migranten und Transport- und Kommunikationsarbeitern stützen sollen. Sobald nämlich diese Transport- und Kommunikationsarbeiter ihren eigenen Produktionssektor »in allen seinen regionalen, kontinentalen und transkontinentalen Verzweigungen in Selbstverwaltung übernehmen, verwandelt sich tendenziell die gesamte materielle wie immaterielle Güterproduktion und -verteilung der Welt in einen integralen Bestandteil des sozialistischen Transformationsprozesses. Die von den unmittelbaren Produzenten vorangetriebene Sozialisierung und Anpassung der übrigen Wirtschaftssektoren an die Erfordernisse der großen Umgestaltung wird Zug um Zug folgen. Auf diese Weise wird die kapitalistische Dynamik entscheidend gebrochen.«

Widersprüche Roths

Wer mit Roths früheren politischen Schriften vertraut ist, findet hier ebenso die wesentlichen Stärken wie Leerstellen seines aus der linksautonomen Tradition kommenden Ansatzes wieder. Sein hartnäckiges Insistieren auf sozialer Frage und Klassenkampf, sein Blick auf die Marginalisierten und ihre Selbstorganisationsformen bleibt kombiniert mit einem bemerkenswerten Unverständnis politischer Vermittlungsformen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Fallstricke werden umso deutlicher, sobald er am deutschen Beispiel konkreter wird und sich in Widersprüche verwickelt.
In Auseinandersetzung mit den »post- keynesianischen Sozialstaatsreformern« der neuen Linkspartei behauptet er schlicht, er »glaube … nicht mehr, dass die Staaten bzw. Supranationalstaaten adäquate Adressaten und Akteure von Reformprogrammen sein können«. Eine am National- und Sozialstaat orientierte linke Politik erklärt er für prinzipiell passé (Die Nationalstaaten seien »nur noch ein Problem« und es sei fraglich, ob die subalternen Klassen »heute noch an dauerhaften und sie alle erfassenden und subsumierenden kapitalistischen Arbeitsverhältnissen interessiert sind«), die repräsentative Parteiendemokratie hält er von links für nicht erneuerbar und auch die Gewerkschaften lässt er einmal mehr rechts liegen.

Im Widerspruch dazu stehen jedoch zum einen seine eigenen Vorstellungen, um was in den Kämpfen der Slum-Cities und Global-Cities geht. Was er hier skizziert (siehe oben) ist auch nichts anderes als die Umschreibung eines neuen sozialstaatlichen Programms. Und zum anderen nimmt er sich gerade gegenüber den neuen Sozialstaatsreformern wieder zurück, denn er lehnt sie nicht prinzipiell ab, betrachtet sie gar als ein zu akzeptierendes »kleineres Übel«, das im Einzelnen sogar »überaus wichtig« sei, uns aber nicht dazu veranlassen sollte, die basisdemokratischen Gegenperspektiven zurückzustellen.

Sozialistische Transformation müsse sich der postkeynesianischen Sozialstaatsreformer bedienen, schreibt er, »beispielsweise zur Stabilisierung und Homogenisierung der sozialen Einkommen und zur globalen Umverteilung und sozial gerechten Allokation der Reichtümer. Inakzeptabel ist und bleibt dagegen die ganz offenkundige Instrumentalisierung der sozialen Bewegungen als Druckmittel für einen Kurswechsel innerhalb der prinzipiell fortbestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse.«

Roth formuliert hier zu Recht kein Entweder- oder, sondern ein Sowohl-als-auch, doch die von ihm selbst in diesem Zusammenhang geforderte »dialektische Vermittlung der beiden hier diskutierten Extreme«, also von antikapitalistischer Basisdemokratie und institutioneller Sozialstaatsreform (von Zielen und Mitteln/Wegen) gelingt ihm nicht wirklich, weil Organisation bei ihm mit dem prinzipiellen Makel instrumenteller Herrschaftsförmigkeit behaftet scheint und er zweitens eine falsche Analyse der Globalisierung fortführt, die davon ausgeht, dass der Nationalstaat wenn schon nicht ganz obsolet, so deutlich im Niedergang begriffen sei.

Das verkennt, dass staatliche Regulierung in einem anarchischen Gesellschaftssystem wie dem bürgerlich-kapitalistischen unabdingbar konstitutiv ist. Gerade die in den letzten Jahren vor sich gehende Militarisierung der Globalisierung bestätigt diese traditionell marxistische Analyse. Roth selbst hat mehrfach ausgeführt, dass ohne den pausenlos regulierenden Zugriff des parlamentarisch verfassten Staates und die arbeitsteilige Abstimmung von Kapitalkreisen und Staatsapparat die neoliberale Offensive undenkbar wäre.
Es ist deswegen legitim und notwendig, diesen politischen Staat auch (auch!) auf seinem eigenen Terrain anzugreifen. Wie kann man eine solche Bastion des bewaffneten Zwangs einfach rechts liegen lassen?

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Bewegung und Organisation

Was für die Organisationsform Staat gilt, gilt auch für andere Organisationsformen, bspw. parteiförmige. Sicherlich können Bewegungen auch ohne Organisationen mächtig und geschichtswirksam sein und sicherlich ist ohne breite Bewegung »von unten« alles andere nur wenig wert. Aber Bewegung, auch dies lehrt uns die Geschichte — zumal die jüngste des Widerstandes gegen die Agenda 2010 —, kann verpuffen, wenn sie nicht Organisationsformen entwickelt, die elastisch genug sind, sich von Bewegungen positiv verändern zu lassen, und die fest genug sind, Bewegungen zu befördern und eine Richtung zu geben. Nicht das Ob von Organisationsformen sollte deswegen zur Debatte stehen, sondern das Wie und zu welchem Zweck, schrieb ich in einer ersten Antwort auf Roth in SoZ 5/04.

Wollen wir nur ein paar Gesetze rückgängig und andere an deren Stelle setzen, so dürfte die Eroberung des Parlaments ausreichend sein. Wollen wir jedoch ein grundsätzlich anderes Leben und Arbeiten durchsetzen, eine andere Gesellschaftsform, die den emanzipativen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung zum auch institutionellen Durchbruch verhilft, so wird dies sicherlich nicht ohne breiteste, basisdemokratische Selbsttätigkeit denkbar sein.

Wie muss eine politische Organisationsform strukturiert sein, die solche Selbsttätigkeit befördern kann? Keine neue, aber noch immer eine aktuelle Frage.

Interessanter Weise hat gerade Karl Heinz Roth das hierzu notwendige ausgeführt — nicht in seinem neuen Büchlein, wohl aber in seinem Beitrag von vor einem Jahr. »Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen«, schrieb er damals und forderte konsequente Basisdemokratie nicht nur in der sozialrevolutionären Bewegung, sondern auch bei allen ihren Bündnispartnern.

Doch warum hat Roth diesen Argumentationsstrang nicht weiter ausgebaut und eine solche Kritik selbstbewusst an die neue Linkspartei gerichtet? Diese entscheidende Frage an ihn und das linksradikale Milieu, dessen organischer Intellektueller er ist, richtet sich allerdings gleichzeitig an die Sozialstaatsreformer. Warum haben sie selbst diese entscheidende Frage bisher nicht einmal symbolisch auf die Tagesordnung gestellt haben.

Der Zustand der Welt ist deswegen mit allen seinen Stärken und Schwächen eher ein Essay über den Zustand der deutschen Linken, der zudem zeigt, dass die notwendige Einheit der politischen Linken, die vor anderthalb Jahren aufzublitzen schien, wieder in größere Ferne zu rücken scheint.

  • Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven, Hamburg: VSA 2005, 95 Seiten, 8,80 Euro.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde auszugsweise gespiegelt von
http://members.aol.com/sozrst/050919.htm  

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