Der Zustand der Vorwegnahme von Massenerfahrungen

von Ingo Stuetzle
10/05

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Karl-Heinz Roth, der es inzwischen sogar zu einem Eintrag in wikipedia geschafft hat, ist mal wieder ein Glanzstück gelungen. Er teilt nach allen Seiten aus, diskutiert in der Vergangenheit formulierte Kritik (u.a. durch Detlef Hartmann) und schafft es gleichzeitig Joseph Schumpeter, Michel Foucault, Edward P. Thompson, Nikolai D. Kondratieff, Karl Kautsky und John Holloway in seinem synthetischen Essay "Der Zustand der Welt. Gegen-perspektiven" zu versöhnen (VSA-Verlag).

Der Essay basiert vor allem auf zwei Vorträgen.

Zum einen beim Abschlussplenum zum 5jährigen Bestehen von attac Deutschland und auf einem Vortrag dem Bremer Sozialplenum. Kritik, Ergänzungen etc. seien in die Überarbeitung eingeflossen (S.13). Der "vorliegende Essay" sei "nur das zerbrechliche Produkt eines zweimonatigen Brainstorming" (S.13). Ohne diesen Versuch gleich zertrümmern zu wollen, sind doch ein paar Anmerkungen angebracht, die keineswegs eine hinreichende und erschöpfende Besprechung des Buchs für sich beanspruchen.

Schon die die Eröffnung des ersten Kapitels beginnt mit der bekannten These, dass das "kapitalistische Weltsystem durch die metropolitanen Sozialrevolten, die Arbeiterresistenz der osteuropäischen Übergangsgesellschaften und die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen der Peripherie in eine tiefe strukturelle Krise gestürzt worden" sei (S. 14). Der klassisch operaistische Grundtenor, den man von Roth gewohnt ist. Ebenso gewohnt ist man von ihm, dass er alles rezipiert, was er zwischen die Finger bekommt und seiner Fragestellung dienlich ist.

Was leider bei derart globalen und synthetischen Versuchen immer der Fall ist, ist auch bei Roth zu finden: Die Arbeit am Detail, die sich gerade bei dem Versuch, eine neue theoretische Grundlage zu skizzieren bzw. eine eine Theoriedebatte anzuregen (S. 46ff.) notwendig ist. So kommen viele theoretische Ansätze bzw. Theoretiker "ungeschoren" davon. So Rudolfs Hilferdings Analyse des Finanzkapitals, die bis in zu Beginn der 1970er Jahre Geltung gehabt habe. Hier wiederholt sich, was u.a. auch bei Toni Negri und anderen immer wieder zu finden ist. Die Vorstellung, dass die klassischen Theorien ihre Zeit hatten, aber für die Analyse des gegenwärtigen "Zustands der Welt" nicht mehr viel hergeben würden. Das sehr eingeschränkte Verständnis Hilferdings, aber auch Lenins (der nicht diskutiert wird) vom Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie bleibt unangetastet. Dass diese den Imperialismus gerade als ein Phase verstanden, in welcher personale Herrschaftsverhältnisse strukturell in den Vordergrund rücken und die Unterscheidung von Staat und Ökonomie verschwinden, wird nicht ins Blickfeld genommen. Eine Schwachpunkt der auch bei David Harvey wieder auftaucht (1), der auch ziemlich unkritisch rezipiert wird (S. 21, S. 53). Roths Plädoyer für eine neue Theoriedebatte ist durchaus angebracht. Aber dann gilt es durchaus radikal bestimmte Theorietraditionen zu durchleuchten, was durchaus bereits begonnen wurde (Imperialismus-Debatte in der Jungle World 2002). Ähnliches gilt für die Diskussion der marxschen Theorie, die noch recht ausführlich ist (S. 46ff.).

An anderer Stelle teilt Roth dann doch deutlicher aus. So kritisiert er auf der einen Seite nicht nur die Instrumentalisierung sozialer Bewegungen durch die Linkspartei (S. 76), sondern auch deren staatszentrierte und retronormative Programmatik. Auf der anderen Seite wirft er den Sozialrevolutionären einen "praxislosen revolutionären Attentismus" (S. 66) vor.
Etwas erstaunlich ist, dass Roth in seiner Entgegnung auf die Kritik Detlef Hartmanns, er habe einen "Metropolenblick" durchaus adäquat antwortet, aber zugleich hinter sein eigenes Niveau zurückfällt. Er kritisiert zurecht, dass die globalen Kämpfe in Indien und China nicht per se emanzipatorisch sind, sondern zum Teil reaktionär, traditionalistisch und fundamentalistisch religiös. Vor diesem Hintergrund ist durchaus ein wenig verwunderlich, wenn er recht objektiv festhält: Die "globalen Unterklassen [fordern] heute soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Existenzsicherung jenseits des Arbeitsdespotismus der industriekapitalistischen Entwicklungs- und Wachstumsperioden, aber auch jenseits der sozialstaatlichen Integrationsklammern der Nationen" (74). Es ist wohl eher genau das, was Roth selbst konstatiert, nämlich über weite Strecken eine "Vorwegnahme von Massenerfahrungen" (80). Im Großen und Ganzen ein echter Roth. Die Debatte scheint eröffnet.


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1) Das zeigt sich darin, dass Harvey eigentlich keine klare Aussage darüber trifft wie das Verhältnis zu denken ist. Es bleibt phrasenhaft: „Es ist grundlegend, die territoriale und kapitalistische Logik der Macht als voneinander verschieden zu begreifen. Und doch ist ebenso unbestreitbar, dass die beiden Logiken auf komplexe und manchmal widersprüchliche Weise miteinander verwoben sind. […] Die Beziehung zwischen diesen beiden Logiken sollte daher als problematisch und oft widersprüchlich (also dialektisch) angesehen werden statt als funktionell und einseitig. […] Die Schwierigkeit bei konkreten Analysen tatsächlicher Situationen ist, gleichzeitig auf beiden Seiten dieser Dialektik anzusetzen und weder in eine ausschließlich politische noch in eine überwiegend wirtschaftliche Argumentationsweise zu verfallen.“ (Seite 36f. der deutschen VSA-Ausgabe von "Der neue Imperialismus")
 

Editorische Anmerkungen

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