Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
10/05

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Die Geschichte des Sozialismus beginnt mit der Geschichte der Menschheit, nicht erst dort, wo die durch Daten begrenzte Geschichtsschreibung, wie sie uns etwa bis zum dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung vorliegt, einsetzt. Erst die neueren ethnologischen (völkerkundlichen) Forschungen haben über diese früheste Entwicklung des Menschengeschlechtes Aufklärung geschaffen.

Der Begriff des Sozialismus ebenso wie der des Kommunismus zur Bezeichnung einer auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln aufgebauten Wirtschaft und Gesellschaft bildet sich freilich erst etwa gleichzeitig mit Beginn der proletarischen Bewegung zu Anfang des XIX. Jahrhunderts. Die älteren sozialistischen Forderungen beziehen sich zumeist nur auf den Konsumtionsprozeß, d. h. die Güterverteilung. Erst in der wissenschaftlichen Formulierung durch Marx und Engels (vgl. Buch V, Kap. 4) erhält der Begriff des Kommunismus dann die für unsere Zeit gültige, eindeutige und abschließende Fassung.

Die Aufgabe dieses Buches ist es, den Weg des Sozialismus durch die Geschichte, die, abgesehen von der Vorzeit, nach Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, aufzuzeigen.

H. D.

1. Was bedeutet der Begriff Altertum?

Rein chronologisch oder einzig und allein nach der Zeitrechnung teilt man die Weltgeschichte bekanntlich in Altertum, Mittelalter, Neuzeit und neueste Zeit. Bei näherem Zusehen erweist sich diese Geschichtseinteilung als unzulänglich, weil so gar nichts sagend. Wenn wir vom Altertum sprechen, denken wir an die mesopotamischen Reiche, an Ägypten, an die alten Hebräer, Griechen und Römer. Hatten denn die Kelten, Germanen und Slawen gar kein Altertum? Und hatten die alten Völker gar kein Mittelalter und gar keine Neuzeit? Die Weltgeschichte handelt doch nicht von einer einheitlichen Menschheit, die etwa bis zur Völkerwanderung sich im Altertum befunden hätte, dann nacheinander in Mittelalter, Neuzeit und neueste Zeit eingetreten wäre. Sie handelt vielmehr von verschiedenen Staaten, Reichen, Stämmen und Völkern, die ihre eigenen Kulturstufen zu verschiedenen Zeiten durchgemacht haben, ohne also auf den gleichen Schritt mit den anderen zu warten. Sie erklärt uns nicht, wie es zum Beispiel kommen konnte, daß wir neuzeitliche Ideen im Altertum vorfinden, ja, daß der Beginn der Neuzeit in Europa — die Renaissance — wieder an das griechische „Altertum" anknüpfte oder daß wir Modernen oft zu Ansichten und Ideen zurückgreifen müssen, die vor mehr als 2000 Jahren von den „Alten" ausgesprochen wurden. Waren diese denn über Zeit und Raum erhaben? Erhielten sie ihre Weisheit durch Inspiration (himmlische Eingebung)?

Wir dürften der Wahrheit näher kommen, wenn wir annehmen, daß das Altertum keine geistige und geschichtliche Einheit bildete. Auch die alten Hebräer, Hellenen (Griechen) und Römer hatten ihr Altertum, ihr Mittelalter und ihre Neuzeit. Sie waren nur früher auf der Bühne der Menschheitsgeschichte erschienen als etwa die Germanen und die Slawen, und sie machten ebenfalls ihre verschiedenen Perioden durch, erzeugten gewisse Einrichtungen und Ideen, die diesen Perioden überall mehr oder weniger entsprachen, so daß die verschiedenen Völker zwar der Zeit nach aufeinander folgen, aber sozial und geistig parallel laufen. Wenn also die Romanen und Germanen im 15. und 16. Jahrhundert an die Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. geistig anknüpfen konnten, so geschah dies nur deshalb, weil die Griechen in jenen Jahrhunderten ihr Altertum und ihr Mittelalter schon hinter sich gehabt hatten und in ihrer Neuzeit lebten und diesem Zeitabschnitt entsprechende geistige Erzeugnisse hervorbrachten. Jede dieser Perioden hat ihre bestimmten sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Merkmale.

Im Altertum — oder richtiger — in der Jugendzeit der Völker — sind die Menschen überall blutsverwandtschaftlich in Sippen und Stämme gegliedert, leben gemeinschaftlich nach den Grundsätzen urwüchsiger Gleichheit, kennen weder Klassenprivateigentum, noch Einehe oder Städte; das geistige Leben ist sehr primitiv; Herkommen und Gebrauch regeln das einfache Leben, das meistens nomadisch ist, auf jeden Fall ist es nicht an bestimmte Territorien gebunden. Älteste, Häuptlinge oder „Könige" stehen an der Spitze des Hordenverbandes, resp. der Stämme. Ein Schrifttum existiert in jener Zeit nicht. Die betreffenden Stämme selber beschreiben ihre gesellschaftlichen Einrichtungen nicht. Was wir über jene Zeit wissen, verdanken wir entweder Reisenden, die aus einem Lande einer höheren Kulturstufe die Gebiete der primitiven Stämme besuchten und durch den Kontrast zwischen den vorgefundenen Einrichtungen und ihren eigenen zum Nachdenken angeregt, uns hierüber schriftliche Dokumente hinterließen, wie z. B. Cäsar und Tacitus über die alten Germanen; oder aber wir — die Modernen — schließen aus den alten Sagen und Überlieferungen, sowie aus den Überresten der alten Einrichtungen, die in die geschrieben-geschichtliche Zeit hineinragen, auf die ursprünglichen Einrichtungen. Und da wir einen regelmäßigen Verlauf der Entwicklung der Völker entdeckten, so sind wir berechtigt, eine Verallgemeinerung — eine Theorie — aufzustellen, daß alle Völker auf primitiver, urgesellschaftlicher Stufe in urwüchsigem Kommunismus ohne soziale Klassenscheidung in blutsverwandtschaftlichen Gruppen oder Gruppen verbänden lebten.

Seitdem die Sozialisten diese Theorie in ihren gesellschaftlichen Lehren — in ihrer Soziologie — entwickelten, bemühen sich antisozialistische Gelehrte aller Länder, den Nachweis zu führen, daß von Kommunismus bei den primitiven Stämmen keine Rede sein könne. Allein man merkt deutlich die Absicht, und man geht über sie hinweg, denn es sind meistens Schriftsteller, die zu Hause sitzen und durch Stubengelehrsamkeit etwas abstreiten, was zeitgenössische Reisende und Augenzeugen aller Zeiten und Zonen in zweifelsfreier Weise feststellten und beschrieben, oder worauf soziale, religiöse und rechtliche Überreste zwingend hinweisen.

Die urgesellschaftliche Zeit hört auf, wenn die Stämme seßhaft werden, sich nach und nach territorial (nach Gemeinden, Dörfern, Städten, Bezirken und Ländern) organisieren und zur Landwirtschaft übergehen. Die Ansiedler versuchen die alte Gesellschaftsform fortzusetzen; denn eine andere kennen sie nicht; aber die neuen Wirtschaftszustände fordern eine Neuordnung, es beginnt die Zersetzung und die Klassenscheidung der früheren, einheitlichen Gesellschaft. Es werden größere befestigte Siedlungen (Städte) gebaut; Tauschhandel bürgert sich ein; das Privateigentum an Acker, Vieh und Sklaven verdrängt den Gemeinbesitz. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse geht nicht glatt vonstatten. Die Benachteiligten und Bedrückten, die Enterbten und Verschuldeten klammern sich an die alte entschwindende Gleichheit, halten sie in ihrer Erinnerung fest und idealisieren sie, teils als Paradies, teils als goldenes Zeitalter. Die biblische Schilderung des Gartens von Eden und die Vertreibung der ersten Menschen aus ihm (i. Buch Mosis, 2. und 3. Kapitel), sowie die Verse des griechischen Dichters Hesiod („Werke und Tage", Vers 108—170) über das goldene Zeitalter und dessen Verschwinden, sind die ältesten geschriebenen Äußerungen dieser das ganze Altertum durchdringenden Stimmung. Frühzeitig beginnen innere Konflikte; die alten Stammesführer — die sogenannten „Könige" oder Richter — weichen der aufkommenden Adelsherrschaft, der Großgrundbesitz schwingt sich zur Herrschaft auf. Wir sind hier schon tief im Mittelalter. Erst auf dieser Stufe entsteht das Schrifttum und das religiöse Dogma: es entsteht eine Mythologie oder eine Theologie; es werden Gesetze niedergeschrieben: Zehn Gebote in Israel, Drakos Gesetzbuch in Hellas, Zwölftafelgesetz in Rom. Bei den Israeliten begann das Mittelalter im 10. Jahrhundert v. Chr.; damals gaben die Israeliten sich zwar Könige, aber die wirkliche Herrschaft lag bei den Besitzenden — ausgenommen vielleicht zur Zeit Davids und Salomos. Bei den Griechen begann das Mittelalter um das Jahr 1000; bei den Römern im 6. Jahrhundert.

Im Laufe des Mittelalters entwickeln sich Handel l und Gewerbe, deren Träger das städtische Bürgertum — die Bourgeoisie — wird. Wenn diese hin- i reichend erstarkt ist, geht das Mittelalter seinem Ende entgegen. Der Adel verbürgerlicht sich oder geht unter; das alte mythologische und theologische Dogmensystem wird erschüttert und neue religiöse und philosophische Auffassungen brechen sich Bahn; die Naturwissenschaft kommt zu Ehren; die Kunst wird freier und mannigfaltiger; die mittelalterlichen Verbände lösen sich in ihre einzelnen Elemente auf — die Neuzeit ist angebrochen. In Griechenland : begann sie im 6. Jahrhundert; in Rom im 2. Jahrhundert; in Israel wurde diese sozialwirtschaftliche Entwicklung durch die nationalen Katastrophen unterbrochen: im Jahre 722 wurde Israel (das hebräische Nordreich mit Samaria als Hauptstadt) von Assyrern besiegt und zerstört; im Jahre 586 verfiel Juda (das hebräische Südreich mit Jerusalem als Mittelpunkt) demselben Schicksal: es wurde durch die Babylonier vernichtet; aber der religiöse Entwicklungsprozeß wurde nicht nur nicht unterbrochen, sondern gefördert. Entsprechend dem Geiste der Neuzeit rangen die Juden sich zum ethischen Monotheismus durch (zum Glauben an eine einzige Weltgottheit, die hauptsächlich sittliches Leben von den Menschen fordert); die Griechen zur Moralphilosophie (daß das Wesen der Philosophie in Fragen über „gut" und „böse" besteht) und bei ihren leitenden Geistern zum Monotheismus und zur Sozialethik (Platonismus und die Stoa). Die im Mittelalter ausgebrochenen sozialen Kämpfe werden in der Neuzeit immer heftiger: in Israel die Armen gegen die Reichen; in Hellas die Volksmassen (der Demos) gegen die Wucherer und Enteigner, später das Proletariat gegen das Kapital; in Rom die Plebejer gegen die Patrizier, die Besitzlosen gegen die Reichen, die Sklavenmassen gegen die Bedrücker. Die Hauptforderungen sind: Schuldenkassierung, Neuverteilung des Grund und Bodens, Sklavenbefreiung. Es werden Sozialreformen in Angriff genommen: wahrscheinlich zu Anfang des 7. Jahrhunderts in Sparta; 621 in Judäa; 594 (Solon) in Athen; 367 und 133 in Rom. In Sparta wurde der Klassenkampf auf mehrere Jahrhunderte beseitigt; in Athen hingegen tobte er immer heftiger; ihm entsprang der größte Sozialphilosoph der antiken Zeit: Plato (geb. 427, gest. 347); ebenso wurden dort kommunistische Pläne entworfen und das Naturrecht begründet. In Rom übten die sozialen Kämpfe keinen tiefen revolutionären Einfluß aufs geistige Leben aus,,wie überhaupt die Römer kein intellektuelles Volk waren und für die Weiterentwicklung der Religion, Philosophie und der sozialen Ideen nichts leisteten; das römische Geistesleben ist ein blasser und verspäteter Abglanz des hellenischen. Die Römer scheinen ihre ganze geistige Energie auf Krieg und Unterjochung fremder Völker, sowie auf die Begründung des Privateigentumsrechts verwendet zu haben. In einer Geistesgeschichte (ausgenommen Rechtsgeschichte) nehmen die Römer eine untergeordnete Stellung ein. Wenn man Virgil (70—14 v. Chr.) als Dichter, Lucrez (96—55 v. Chr.) als Philosophen und Tacitus (55—120 n. Chr.) als Geschichtsschreiber nennt, so ist die römische Geistesgeschichte erschöpft.

Ein Blick auf Wirtschaft und Politik des „Altertums" offenbart den großen Unterschied zwischen damals und heute:

Vorerst fällt der vollständige Mangel an Maschinerie und feineren Werkzeugen auf. An deren Stelle finden wir Massen von Sklaven; anfangs waren es eigene Volksgenossen, die infolge von Verschuldung zu Sklaven gemacht wurden, dann sind es Kriegsgefangene, unterjochte Eingeborene, oder von Sklavenhändlern geraubte Menschen, die von Griechen und Römern massenhaft auf dem Markte gekauft und der rücksichtslosesten Ausbeutung unterworfen wurden; bei den Juden gab es wenig Sklaven.

Auch das Staatsleben sah anders aus. Der Staat war lange Jahrhunderte hindurch nur eine Stadt und ihre nächste Umgebung; die berühmtesten waren Athen, Sparta, Rom. Ein derartiger Stadtstaat hieß auf griechisch Polis (hiervon: Politik), aui lateinisch civüas (hiervon: Zivilisation). Diese Stadtstaaten waren also kleine Gebiete mit ursprünglich etwa 30000 bis 40000 freien Bürgern. In Hellas gab es mehrere derartiger Stadtstaaten, ebenso in Italien. Teils durch Krieg, teils durch Bundesverträge vereinigten sie sich zu einem großen Staate. Jeder freie Bürger war zugleich Soldat; die wirtschaftliche Arbeit fiel den Sklavenmassen zu. Erst die Römer schufen nach und nach ein Reich (Imperium) mit herrschenden Schichten und unterjochten Völkern.

Schließlich war die Ansicht über den Verlauf der Geschichte eine andere. Während wir Modernen annehmen, daß die Menschheit sich aus dem Tierreich zu einer immer höheren Stufe der Vervollkommnung emporringe, glaubten die Alten, daß die Menschheit im Laufe der Zeiten die Tendenz zur * Entartung zeige, daß also der Mensch ursprünglich € tugendhafter war und stufenweise schlechter werde. Religion und Gesetze seien dazu da, der Entartung zu steuern und die Menschheit zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückzuführen.

2. Theorie des antiken Kommunismus: das Naturrecht.

Es wurde oben bemerkt, daß die enterbten Volksschichten sich bei Beginn des Mittelalters an die Überlieferungen der alten Gleichheit klammerten und die Vergangenheit idealisierten. Der Naturzustand oder die Urgesellschaft wurde zum Ideal, zu dem man zurückkehren müßte. In seinem Werke „Über die Gesetze" (3. Buch, 2. und 3. Kapitel) sagt Plato über die Menschen der Urgesellschaft:

„Arm waren sie bei diesen Verhältnissen nicht in hohem Grade und gerieten auch nicht unter dem zwingenden Einfluß der Not in Händel gegeneinander. Aber auch reich konnte man nicht werden, wenn man weder Gold noch Silber besaß, wie dies damals bei den Menschen der Fall war. Gibt es jedoch in einer Gesellschaft weder Reichtum noch Armut, so müssen in derselben höchstwahrscheinlich die edelsten Sitten herrschen; denn da gibt es weder  Übermut noch Ungerechtigkeit und auch keine Äußerungen von Eifersucht und Neid. Es waren also ganz gute Menschen, — gut durch die genannten Umstände und durch das, was man Einfalt nennt. .. Folglich müssen wir sagen, daß viele Generationen, die stets ein derartiges Leben führten, im Vergleich mit ... dem heutigen Geschlecht in allen Künsten und Gewerben unerfahrener und ungeschickter gewesen seien.. . Dagegen war man in alter Zeit gutmütiger und tapferer, dabei gemäßigter und in allen Stücken gerechter .. . Diese Leute brauchten gar keinen Gesetzgeber. In jenem Zeitalter gibt es ja auch keine Buchstabenschrift, die Menschen richten sich in ihrem Leben nur nach Gewohnheiten und den sogenannten väterlichen Gebräuchen."

Die Lehre vom gleichheitlichen Naturzustande wurde dann fortentwickelt; denn zu Zeiten des Aristoteles, des Schülers von Plato und Lehrers Alexanders des Großen (um das Jahr 340 bis 325), war schon die Ansicht verbreitet, „daß die Botmäßigkeit des Herrn über den Sklaven gegen die Natur sei, und daß der Unterschied zwischen Freien und Sklaven nur durch Menschengesetz, aber nicht durch die Natur gemacht worden sei; und da dies ein Eingriff in das Naturwirken bedeute, so sei es eine Ungerechtigkeit" (Aristoteles „Politik" I. 3.).

Die beiden Zitate aus Plato und Aristoteles geben uns schon ein gutes Stück Naturrecht. Seinen Ausbau und seine Verbreitung verdankt es jedoch den Stoikern (im 3. Jahrhundert). Der Begründer der stoischen Schule war Zeno, der um das Jahr 300 wirkte. Die Lehren dieser Schule haben seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. einen sehr erheblichen Einfluß auf den hellenischen Kulturkreis, auf die Denker des Römischen Reiches, sowie auf das ganze christliche und zivilisierte Europa bis auf den heutigen Tag ausgeübt. Die utopisch-sozialistische und anarchisch-kommunistische Gedankenwelt steht vielfach unter ihrem Einfluß.

Das Naturrecht ist ein Protest gegen die auf Grund des Sondereigentums entstandenen zivil- und staatsrechtlichen Einrichtungen. Es ist eine Idealisierung der gleichheitlichen und demokratischen Zustände der kommunistischen Urzeit. Der Appell an die Natur, der Ruf: Zurück zur Natur! ist eine Verurteilung der Zivilisation, ebenso eine Aufforderung, entweder zu den alten Zuständen zurückzukehren oder diese zum Ideal für die rechtliche und soziale Umgestaltung der neuen Zustände ins Auge zu fassen. Die Neuzeit mit ihrem Aufschwung der Städte, des Handels und der Gewerbe und mit ihrer Vernichtung aller Überreste des Gemeinbesitzes an Grund und Boden stellt sich dar als eine Abkehr von der Natur, von der Landwirtschaft, von den einfachen Sitten des Landlebens und als Zuwendung zum unnatürlichen, künstlichen Leben, zum Luxus, zur Vielgeschäftigkeit, zu einem Labyrinth von Gesetzparagraphen und staatlichen Regulierungen. Im Urzustände gab es keine Menschengesetze, keinen Staat, keine äußeren Zwangseinrichtungen. Die Natur, durchströmt und erfüllt vom göttlichen Geiste, regelt ihren Gang nach dem ihr innewohnenden göttlichen Gesetz, das das Gute, Rechtschaffene und Billige befiehlt. Das ethische Gottnaturgesetz ist schlechthin gültig; es ist das Vernunftrecht; es steht höher als die Menschensatzungen oder das sogenannte positive Recht. Es gilt für alle Wesen, die Menschenantlitz tragen: alle Menschen sind frei und gleich. Im Urzustände der Menschen, im goldenen Zeitalter, im Zeitabschnitt vor dem Sündenfall herrschte das Gottnaturgesetz oder das Vernunftrecht; die Menschen lebten ohne Staat, ohne äußeren Zwang, ohne gesetzliche Regulierung und Bevormundung, sondern folgten den natürlichen Geboten des Guten, Rechtschaffenen und Billigen. Aber die späteren Geschlechter wurden verdorben; Habsucht, Unzufriedenheit, innere Kämpfe entstanden, und die Menschen schufen den Staat, das Privateigentum und die vielen Gesetze, ohne jedoch imstande zu sein, die alte Glückseligkeit zu erreichen. Die menschliche Gesellschaft krankt und leidet. Das einzige Heilmittel kann nur darin bestehen, die künstlichen Einrichtungen zu verlassen und zu den natürlichen zurückzukehren: in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Stoiker waren anarchische Kommunisten und international gesinnt. Sie gleichen hierin den jüdischen Propheten, nur nahmen diese eine personifizierte Gottheit „Jahwe" ein, während jene in der gotterfüllten Natur ihren Gesetzgeber erblickten. Beide Richtungen trafen im Urchristentum zusammen.

 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 9 - 18

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html