Und wieder wird es wohl ein Jahrmarkt der Möglichkeiten werden. Ein
Seminarprogramm, das Ähnlichkeiten zu einem Telefonbuch aufweist, und eine
breite Palette von gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen dürften auch
beim diesjährigen Europäischen Sozialforum (ESF) für ein schwer
überschaubares Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze sorgen. Dabei
koexistieren mitunter Konzepte, die, würde man sie direkt miteinander
konfrontieren, unvereinbar wären.
Eigentlich sollte es in diesem Jahr anders werden. Das ESF vom November
vorigen Jahres, das in Paris und dreien seiner Trabantenstädte stattfand,
hatte sich unter anderem durch seine Unübersichtlichkeit ausgezeichnet. Die
geographische Dezentralisierung, die ursprünglich dazu dienen sollte, auch
die Bewohner "sozialer Brennpunkte" wie der Banlieues besser einbeziehen zu
können, hatte für eine organisatorische Verzettelung gesorgt. Keine der
zentralen Initiativen, die vom damaligen Forum ausgehen sollten, hat in der
Folgezeit größere Effekte gezeitigt.
So wurde seinerzeit ein europaweiter Aktionstag gegen den
Sozialkahlschlag
mit gleichzeitigen Mobilisierungen überall in der EU beschlossen. Doch die
Initiative wurde in der Folgezeit durch die nationalen Gewerkschaftsapparate
vereinnahmt und zurecht gestutzt. Einzig in der Bundesrepublik kam es am 3.
April dieses Jahres, dem vereinbarten Aktionstag, zu größeren
Demonstrationen, die aber vor allem dem kreuzbraven Protest gegen die
Politik der Schröder-Regierung "zu Hause" dienten. Andernorts standen längst
andere Themen und Termine weiter oben auf der sozialen Agenda.
Nicht, dass man keinerlei Lehren daraus gezogen hätte. Nach dem Willen
einiger treibender Kräfte hätte es in London sogar ganz anders werden
sollen: Einige in den Mittelpunkt gerückte Großveranstaltungen und eine
überschaubare Zahl sonstiger Workshops und Seminare sollten dem ESF eine
zentrale Stoßrichtung verleihen. So lautete der anfängliche Vorschlag jener
britischen Kräfte, die bei der nationalen Vorbereitung führend sind. Allein,
die damit verbundene inhaltliche Ausrichtung behagte den meisten anderen
Initiativen, sozialen Bewegungen und Vorbereitungsgruppen nicht so richtig
aus guten Gründen.
Dominiert wird die innerbritische Vorbereitung des ESF vor allem durch
eine
Koalition, die im Wesentlichen aus der trotzkistischen Socialist Workers
Party (SWP) und einigen Fraktionen der Labour Party besteht. Die SWP ist die
britische "Mutterpartei" einer internationalen Strömung, die von London
aus unterstützte Ableger in mehreren anderen Ländern unterhält; dazu
gehören der deutsche Linksruck und die französische Kleingruppe Speb
(Socialisme par en bas, "Sozialismus von unten"). Diese Strömung, die nach
dem Zweiten Weltkrieg namentlich von Tony Cliff und Chris Harman begründet
wurde, zeichnet sich einerseits durch ihren atemlosen Aktionismus aus,
andererseits aber auch durch ihr rigide "kampistisches" Weltbild.
Dieser Begriff bezeichnet ein Denken, das die Welt in "zwei Lager"
einteilt
und eine entsprechend schematische Interpretation aller wichtigen Ereignisse
vornimmt. Zu den Spezialitäten der SWP, die sie von anderen trotzkistischen
oder der sonstigen Neuen Linken zugehörigen Strömungen unterscheidet, gehört
das verbale und mitunter auch konkrete Bündnis mit konservativ-moslemischen
oder auch islamistischen Kräften, wenn es "gegen den Imperialismus" geht.
Diese Orientierung wird in Europa weder von den ebenfalls starken
französischen Trotzkisten unterschiedlicher Couleur, noch etwa von
libertär-kommunistischen Gruppen geteilt. Aus taktischen Gründen hat die SWP
im Vorfeld des Sozialforums eine Allianz mit Strömungen der Labour Party
geformt vor allem, weil beiden daran liegt, kleinere kritische Strömungen
innerhalb der Linken zu dominieren. Zu ihren wichtigsten Bündnispartnern auf
Zeit zählt momentan der linkspopulistische Londoner Bürgermeister Ken
Livingston.
Die Folge dieser Konstellation ist, dass erstens auch
konservativ-reaktionäre islamische Kräfte zu einer Reihe von Foren
eingeladen werden sollten, andererseits eine starke inhaltliche
Konzentration der Großveranstaltungen auf die Themen Irak und Palästina
erfolgen sollte. Das aber behagte den Vorbereitungsgruppen in fast allen
anderen EU-Ländern in der vorgeschlagenen Form überhaupt nicht: Es kam zu
heftigen Konflikten. Wer noch vor drei Wochen das damalige vorläufige
ESF-Programm in französischer Sprache im Internet anklickte, konnte etwa die
Spuren dieses Streits unfreiwillig dokumentiert sehen. Mitten in die
Ankündigung eines Forums britischer Moslems zu "Islamophobie" und
Kopftuchverbot stand, ohne Überleitung, der Satz hineingeschrieben:
"Möglichst viele Seminare und Workshops zu den Rechten der Homosexuellen
vorsehen". Das war offensichtlich während der Dispute im Vorfeld eilig in
den Programmvorschlag aufgenommen und gleich mit transkribiert worden.
So soll nunmehr im Endeffekt wieder fast allen etwas geboten werden.
Wer
will, kann so auch zum Thema Hijab und a woman¹s right to choose
diskutieren. Nun ist es ja richtig, dass einzig die Frauen ein Recht haben,
sich für oder gegen das Kopftuch zu entscheiden, da sie dabei die einzigen
möglichen Subjekte von Emanzipation sein können. Nur bleibt es dann völlig
rätselhaft, warum man zu dieser Frage, neben fünf oder sechs weiblichen
Podiumsteilnehmerinnen, auch den männlichen Tariq Ramadan prominent reden
lassen soll. Der kommunitaristische moslemische Ideologe aus Genf soll
ferner auch auf dem Panel Voices of resistance and alternatives from the
global south zu Wort kommen neben einer Kolumbianerin und dem Vertreter
einer indischen Bergarbeitergewerkschaft. Dabei kommt der in der Schweiz
aufgewachsene und seit kurzem als Lehrkraft in die USA eingeladene Ramadan
nicht gerade aus dem "globalen Süden". Darin kommt eine Sichtweise zum
Ausdruck, die neben anderen Kräften auch "den Islam" oder aus ihm
abgeleitete gesellschaftliche Ideologien unter "Stimmen des Widerstands"
fassen will, ungeachtet des nicht gerade emanzipatorischen Projekts der
konkreten Bewegungen. Ramadan steht dabei freilich eher für einen
europäisch-moslemischen Kommunitarismus denn für die Idee eines
"Gottesstaates", die an seinen Wirkungsorten ohnehin chancenlos wäre.
Gleichzeitig gibt es aber auch einen Panel für Feministinnen aus
Südasien,
Kurdistan und der europäischen Immigration zu Themen wie resisting
patriarchy, state and religious based violence. Zu den verschiedenen Podien
über den besetzten Irak sind erfreulicherweise keine Islamisten oder
Baathisten eingeladenen, sondern Vertreter von Gewerkschafter, der
Elektrizitätsarbeiter aus Basra oder der in Großbritannien repräsentierten
Iraqi Democrats against occupation. Ebenso positiv zu vermerken ist, dass
die Seminare und Podien zum israelisch-palästinensischen Konflikt
ausnahmslos binational besetzt sind. So kommen israelische Piloten, die den
Einsatz in den besetzten Gebieten verweigern, linkszionistische
Friedensgruppen und die Israeli campaign against house demolitions zu Wort.
Insgesamt bleibt für jeden Ansatz etwas geboten, aber vieles steht
vermittlungslos nebeneinander. Ein mit der Tochter von Che Guevara und dem
ehemaligen algerischen Präsidenten von 1962 bis 65, Ahmed Ben Bella,
prominent besetztes Panel steht unter dem Motto Challenging US imperialism.
Die Kritik an den eigenen Militär- und Großmachtambitionen der EU findet
dennoch statt, aber abgetrennt in Form eigener Veranstaltungen etwa zum
Thema NATO und EU militarism. Zu Themen wie Asylrecht oder Flüchtlinge in
Europa und zur Auseinandersetzung mit der extremen Rechten finden jeweils
mindestens drei Veranstaltungen statt. Und wer sich richtig gruseln will,
der kann sich beim 9/11 truth movement über die ultimative "Wahrheit zum 11.
September", wofür es zum Glück nur einen small workshop gibt.
Editorische Anmerkungen
Diesen Artikel schickte uns
der Autor am 10.10. 2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.
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