Europäisches Sozialforum in London: Same procedure as every year?
Ein Vorausblick


Von Bernhard Schmid, Paris
10/04

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Und wieder wird es wohl ein Jahrmarkt der Möglichkeiten werden. Ein Seminarprogramm, das Ähnlichkeiten zu einem Telefonbuch aufweist, und eine breite Palette von gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen dürften auch beim diesjährigen Europäischen Sozialforum (ESF) für ein schwer überschaubares Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze sorgen. Dabei koexistieren mitunter Konzepte, die, würde man sie direkt miteinander konfrontieren, unvereinbar wären.  

Eigentlich sollte es in diesem Jahr anders werden. Das ESF vom November vorigen Jahres, das in Paris und dreien seiner Trabantenstädte stattfand, hatte sich unter anderem durch seine Unübersichtlichkeit ausgezeichnet. Die geographische Dezentralisierung, die ursprünglich dazu dienen sollte, auch die Bewohner "sozialer Brennpunkte" wie der Banlieues besser einbeziehen zu können, hatte für eine organisatorische Verzettelung gesorgt. Keine der zentralen Initiativen, die vom damaligen Forum ausgehen sollten, hat in der Folgezeit größere Effekte gezeitigt.  

So wurde seinerzeit ein europaweiter Aktionstag gegen den Sozialkahlschlag mit gleichzeitigen Mobilisierungen überall in der EU beschlossen. Doch die Initiative wurde in der Folgezeit durch die nationalen Gewerkschaftsapparate vereinnahmt und zurecht gestutzt. Einzig in der Bundesrepublik kam es am 3. April dieses Jahres, dem vereinbarten Aktionstag, zu größeren Demonstrationen, die aber vor allem dem kreuzbraven Protest gegen die Politik der Schröder-Regierung "zu Hause" dienten. Andernorts standen längst andere Themen und Termine weiter oben auf der sozialen Agenda.  

Nicht, dass man keinerlei Lehren daraus gezogen hätte. Nach dem Willen einiger treibender Kräfte hätte es in London sogar ganz anders werden sollen: Einige in den Mittelpunkt gerückte Großveranstaltungen und eine überschaubare Zahl sonstiger Workshops und Seminare sollten dem ESF eine zentrale Stoßrichtung verleihen. So lautete der anfängliche Vorschlag jener britischen Kräfte, die bei der nationalen Vorbereitung führend sind. Allein, die damit verbundene inhaltliche Ausrichtung behagte den meisten anderen Initiativen, sozialen Bewegungen und Vorbereitungsgruppen nicht so richtig ­ aus guten Gründen.  

Dominiert wird die innerbritische Vorbereitung des ESF vor allem durch eine Koalition, die im Wesentlichen aus der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) und einigen Fraktionen der Labour Party besteht. Die SWP ist die britische "Mutterpartei" einer internationalen Strömung, die ­ von London aus unterstützte ­ Ableger in mehreren anderen Ländern unterhält; dazu gehören der deutsche Linksruck und die französische Kleingruppe Speb (Socialisme par en bas, "Sozialismus von unten"). Diese Strömung, die nach dem Zweiten Weltkrieg namentlich von Tony Cliff und Chris Harman begründet wurde, zeichnet sich einerseits durch ihren atemlosen Aktionismus aus, andererseits aber auch durch ihr rigide "kampistisches" Weltbild.  

Dieser Begriff bezeichnet ein Denken, das die Welt in "zwei Lager" einteilt und eine entsprechend schematische Interpretation aller wichtigen Ereignisse vornimmt. Zu den Spezialitäten der SWP, die sie von anderen trotzkistischen oder der sonstigen Neuen Linken zugehörigen Strömungen unterscheidet, gehört das verbale und mitunter auch konkrete Bündnis mit konservativ-moslemischen oder auch islamistischen Kräften, wenn es "gegen den Imperialismus" geht. Diese Orientierung wird in Europa weder von den ebenfalls starken französischen Trotzkisten unterschiedlicher Couleur, noch etwa von libertär-kommunistischen Gruppen geteilt. Aus taktischen Gründen hat die SWP im Vorfeld des Sozialforums eine Allianz mit Strömungen der Labour Party geformt ­ vor allem, weil beiden daran liegt, kleinere kritische Strömungen innerhalb der Linken zu dominieren. Zu ihren wichtigsten Bündnispartnern auf Zeit zählt momentan der linkspopulistische Londoner Bürgermeister Ken Livingston.  

Die Folge dieser Konstellation ist, dass erstens auch konservativ-reaktionäre islamische Kräfte zu einer Reihe von Foren eingeladen werden sollten, andererseits eine starke inhaltliche Konzentration der Großveranstaltungen auf die Themen Irak und Palästina erfolgen sollte. Das aber behagte den Vorbereitungsgruppen in fast allen anderen EU-Ländern in der vorgeschlagenen Form überhaupt nicht: Es kam zu heftigen Konflikten. Wer noch vor drei Wochen das damalige vorläufige ESF-Programm in französischer Sprache im Internet anklickte, konnte etwa die Spuren dieses Streits unfreiwillig dokumentiert sehen. Mitten in die Ankündigung eines Forums britischer Moslems zu "Islamophobie" und Kopftuchverbot stand, ohne Überleitung, der Satz hineingeschrieben: "Möglichst viele Seminare und Workshops zu den Rechten der Homosexuellen vorsehen". Das war offensichtlich während der Dispute im Vorfeld eilig in den Programmvorschlag aufgenommen und gleich mit transkribiert worden.  

So soll nunmehr im Endeffekt wieder fast allen etwas geboten werden. Wer will, kann so auch zum Thema Hijab und a woman¹s right to choose diskutieren. Nun ist es ja richtig, dass einzig die Frauen ein Recht haben, sich für oder gegen das Kopftuch zu entscheiden, da sie dabei die einzigen möglichen Subjekte von Emanzipation sein können. Nur bleibt es dann völlig rätselhaft, warum man zu dieser Frage, neben fünf oder sechs weiblichen Podiumsteilnehmerinnen, auch den männlichen Tariq Ramadan prominent reden lassen soll. Der kommunitaristische moslemische Ideologe aus Genf soll ferner auch auf dem Panel Voices of resistance and alternatives from the global south zu Wort kommen ­ neben einer Kolumbianerin und dem Vertreter einer indischen Bergarbeitergewerkschaft. Dabei kommt der in der Schweiz aufgewachsene und seit kurzem als Lehrkraft in die USA eingeladene Ramadan nicht gerade aus dem "globalen Süden". Darin kommt eine Sichtweise zum Ausdruck, die neben anderen Kräften auch "den Islam" oder aus ihm abgeleitete gesellschaftliche Ideologien unter "Stimmen des Widerstands" fassen will, ungeachtet des nicht gerade emanzipatorischen Projekts der konkreten Bewegungen. Ramadan steht dabei freilich eher für einen europäisch-moslemischen Kommunitarismus denn für die Idee eines "Gottesstaates", die an seinen Wirkungsorten ohnehin chancenlos wäre.  

Gleichzeitig gibt es aber auch einen Panel für Feministinnen aus Südasien, Kurdistan und der europäischen Immigration zu Themen wie resisting patriarchy, state and religious based violence. Zu den verschiedenen Podien über den besetzten Irak sind erfreulicherweise keine Islamisten oder Baathisten eingeladenen, sondern Vertreter von Gewerkschafter, der Elektrizitätsarbeiter aus Basra oder der in Großbritannien repräsentierten Iraqi Democrats against occupation. Ebenso positiv zu vermerken ist, dass die Seminare und Podien zum israelisch-palästinensischen Konflikt ausnahmslos binational besetzt sind. So kommen israelische Piloten, die den Einsatz in den besetzten Gebieten verweigern, linkszionistische Friedensgruppen und die Israeli campaign against house demolitions zu Wort.  

Insgesamt bleibt für jeden Ansatz etwas geboten, aber vieles steht vermittlungslos nebeneinander. Ein mit der Tochter von Che Guevara und dem ehemaligen algerischen Präsidenten von 1962 bis 65, Ahmed Ben Bella, prominent besetztes Panel steht unter dem Motto Challenging US imperialism. Die Kritik an den eigenen Militär- und Großmachtambitionen der EU findet dennoch statt, aber abgetrennt in Form eigener Veranstaltungen etwa zum Thema NATO und EU militarism. Zu Themen wie Asylrecht oder Flüchtlinge in Europa und zur Auseinandersetzung mit der extremen Rechten finden jeweils mindestens drei Veranstaltungen statt. Und wer sich richtig gruseln will, der kann sich beim 9/11 truth movement über die ultimative "Wahrheit zum 11. September", wofür es zum Glück nur einen small workshop gibt.

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 10.10. 2004  in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.