Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
10/04

trend

onlinezeitung
IV. DIE ZEIT VON 1750—1860 Zur Kapitelübersicht

II. ENGLISCHE SOZIALKRITIK IN DER ERSTEN PHASE DER WIRTSCHAFTLICHEN UMWÄLZUNG

1. Robert Wallace: Kommunismus und Übervölkerung.

Schon die Anfänge der wirtschaftlichen Umwälzung weckten das sozialkritische Denken und veranlaßten es, sich mit sozialistischen Problemen zu beschäftigen.

Einer der ersten dieser Denker war der Theologe Robert Wallace (1679—1771), der in seinem Buche „Various Prospects" (1761) die Frage stellte, warum der Mensch mit allen seinen Gaben und mit allen Naturschätzen sich noch auf einer so niedrigen Kulturstufe befände. Weder in der Moral noch in der Philosophie, weder in der Naturwissenschaft noch im sozialen Leben seien befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen. Diese Unzulänglichkeit rege den Gedanken an, ob die gerügten Mängel nicht durch die Einführung des Kommunismus beseitigt werden könnten. Wallace beantwortet diese Frage vorerst im bejahenden Sinne: der Kommunismus sei nicht gegen die menschliche Natur, denn im Urzustände der Menschheit herrschte die Gütergleichheit. Er könnte auch noch jetzt wiedereingeführt werden, obwohl die Großen und Mächtigen, die so ungeheure Vorteile aus dem Privateigentum ziehen, einer derartigen Umwälzung den größten Widerstand entgegensetzen würden. Der Kommunismus würde Armut, Überarbeit, Unwissenheit und Unsittlichkeit beseitigen. Dennoch sei er unmöglich. Das wirkliche Hindernis liege in der raschen Bevölkerungsvermehrung, die in einer kommunistischen Wirtschaftsordnung unvermeidlich Platz greifen und schließlich zum Kampf aller gegen alle führen würde, da die Vermehrung der Nahrungsmittel nie mit der Vermehrung der Bevölkerung Schritt halten könne.

Man sieht, wie alt dieser Einwurf gegen den Kommunismus ist. Er hat sich jedoch seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überlebt, denn seit jener Zeit werden eher Maßregeln ergriffen, die Beschränkung der Kinderzahl, die in allen Kulturstaaten sich bemerkbar macht, zu verhindern.

2. Spence und Bodenreform.

Thomas Spence (17 501814) war der erste munizipalsozialistische Bodenreform er. Ursprünglich Schuhmacher, Buchhalter und Lehrer in Newcastle, wandte er sich sozialen Forschungen zu und hielt 1775 vor der Philosophischen Gesellschaft in Newcastle einen Vortrag über die Unrechtmäßigkeit des Sondereigentums an Grund und Boden. Er ließ den Vortrag sofort drucken und kolportierte ihn selber zum Preise von wenigen Pfennigen, wofür er von der Philosophischen Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Der Vortrag wurde seitdem oft nachgedruckt und unter verschiedenen Titeln veröffentlicht: 1793 unter dem Titel „The real rights of man" (Die wirklichen Menschenrechte), 1796 „The meridian sun of liberty" (Der Sonnenhöhepunkt der Freiheit), 1882 „Nationa-lisation of the land" (Verstaatlichung des Grund und Bodens) usw. Die leitenden Gedanken Spences, wie , überhaupt der meisten seiner Nachfolger, sind: Im Urzustände des Menschengeschlechts war der Erdboden Gemeineigentum, so daß jedes neugeborene Kind ein unveräußerliches Recht auf einen gleichen Teil des Erdbodens hatte. Ebenso waren damals alle Menschen frei und lebten ohne staatlichen Zwang, ohne Menschengesetze. Wirtschaftliche Gleichheit und soziale Freiheit sind demgemäß die angeborenen Menschenrechte. Wie unsere Leser wissen, sind diese Lehren dem alten Naturrechte entnommen. Seit dem 18. Jahrhundert, seitdem man den Menschen in das Tierreich einreihte und ihn aus irgendeiner Affenart abstammen ließ, betrachtete man das Menschengeschlecht als eine Horde von menschlichen Tieren, deren gemeinsamer Weideplatz der Erdboden ist, ebenso wie die Wälder, Flüsse und Seen die gemeinsamen Atzungs- und Vermehrungsräume der übrigen Arten des Tierreichs sind. Dem Naturzustände des Menschen wurde nach und nach ein Ende gemacht, teils infolge der Vermehrung der Bevölkerung und der hieraus entstandenen Schwierigkeiten und Störungen, teils infolge der bösartigen Begierden und gewaltsamen Handlungen herrschsüchtiger Individuen, die große Teile des Bodens für ihren ausschließlichen Gebrauch besetzten; ebenso mögen Privateigentumsbegriffe in bezug auf diejenigen Dinge entstanden sein, die die Menschen durch eigene Arbeit schufen oder erheblich verbesserten. Also Bösartigkeit und Gewalt zerstörten den Naturzustand der Gemeinsamkeit und schufen Privateigentum an Grund und Boden, während eigene Arbeit Privateigentum schuf an beweglichen Dingen. Die alte, natürliche Ordnung war nicht mehr aufrechtzuerhalten; eine neue Ordnung wurde entweder durch stillschweigenden oder ausdrücklichen Gesellschaftsvertrag geschaffen, auf Grund dessen Privateigentum und Staat eingeführt wurden, um die Schwierigkeiten und Störungen zu beseitigen und Gewalt und Bösartigkeit einzelner in Schranken zu halten.

So entstand die bürgerliche Gesellschaft oder die Zivilisation. Sie hat zwar den Reichtum vermehrt, Ackerbau, Handel und Gewerbe, Wissenschaft und Kunst gefördert, aber auch die Menschheit in Arme und Reiche gespalten, große Gegensätze und Klassen-kämpfe erzeugt, die Selbstsucht, die Herrschsucht, die Geldgier, den Schwindel, die Ausbeutung und das Verbrechen, kurz, das ganze soziale Elend hervorgebracht. Deshalb ist eine Reform nötig, die die Vorzüge des Naturzustandes (Gleichheit und Freiheit) mit denen der Zivilisation (Reichtumsvermehrung, Aufschwung von Wissenschaft und Kunst) verbinden könnte.

Spence erblickte eine solche Reform in der Munizipalisierung des Grund und Bodens. Die Nation soll in off entlicher Versammlung den Gesellschaftsvertrag kündigen und lösen, die Grundherren enteignen und den Boden den Gemeinden zurückgeben, die ihn den Bauern gegen einen mäßigen Mietszins (Grundrente) überlassen sollen. Mit den Einnahmen aus den Pachtgroschen sollen die Ausgaben für Verwaltung und Unterricht bestritten werden. Andere Steuern sind nicht zu erheben. Hingegen sollen Handel und Gewerbe weiter frei bleiben und im liberalen Sinne betrieben werden.

Das sind die Grundgedanken die positiven und negativen —, die der ganzen Bodenreformbewegung bis auf den heutigen Tag eigen sind, wozu noch die Rententheorie Ricardos hinzukommt. Die verschiedenen Richtungen derselben weichen voneinander in ihren positiven Vorschlägen nur dem Grade nach ab. Es hat deshalb keinen Zweck, sie und ihre Führer:

Ogilvie, Paine, Dove, Henry George und deren belgische, französische und deutsche Nachfolger einzeln zu behandeln. Sämtlich nehmen sie eine Mittelstellung zwischen Sozialismus und Liberalismus ein: sie sind sozialliberal, in der Regel mehr liberal als sozial. Dies gilt noch am wenigsten von Spence, der eine durchaus ehrliche proletarische und konsequente Natur war und sich bis ans Ende seines Lebens an allen revolutionären Arbeiterbewegungen unter großen Opfern und Leiden beteiligte.

3. Godwin und der anarchistische Kommunismus.

Sein Zeitgenosse William Godwin (1756—1836), der Begründer des anarchistischen Kommunismus, stand zwar intellektuell viel höher als Spence, aber an moralischer Kraft tief unter ihm. Godwin war ursprünglich Theologe, wurde jedoch auf dem Seminar mit den Schriften der französischen Aufklärung bekannt und mußte schließlich sein Predigeramt aufgeben. Hingerissen von den ersten Stürmen der französischen Revolution, schrieb er ein zweibändiges Werk „Political Justice" (Soziale Gerechtigkeit), das 1793 veröffentlicht wurde und großes Aufsehen erregte. In diesem einst sehr berühmten Werke versuchte Godwin, das Fehler- und Lasterhafte der bestehenden Gesellschaftsordnung sowie deren Ursachen aufzudecken, ferner den logischen Beweis zu führen, daß das allgemeine Wohl nur durch die Annahme und Ausführung der Gebote der Gerechtigkeit erreicht werden könnte. Die „Political Justice" ist also eine sozialphilosophische Untersuchung vom Standpunkte der Ethik. Sie ist in acht Bücher eingeteilt und wird von folgenden Grundgedanken durchzogen: Die mächtigste Fähigkeit des menschlichen Geistes ist die Vernunft; sie veranlaßt die unfreiwilligen und freiwilligen Bewegungen des Menschen; sie liefert die unmittelbare Triebkraft der menschlichen Handlungen; von ihr (von der Vei-nunft) hängt also die Moral des Menschen ab. Die Politik (im alten griechischen Sinne genommen: also, die gesellschaftliche Betätigung) besteht aus menschlichen Handlungen, also aus der moralischen oder unmoralischen Betätigung des Menschen, von Gruppen von Menschen, von der Regierung usw. Politik als Lehre deckt sich demgemäß mit Ethik. Das Ziel des Menschen ist Glückseligkeit, geistiges und körperliches Wohl. Glückseligkeit kann aber nur erreicht werden durch Tugend, Gerechtigkeit, sittliches Handeln. Der Mensch ist ein fortschrittliches Wesen und ist in höchstem Maße vervollkommnungsfähig. Es kommt nur darauf an, alles zu beseitigen, was die Vernunft behindert, zur klaren Erkenntnis der wahren Gerechtigkeit zu gelangen und sie zur Triebkraft der menschlichen Handlungen zu machen. Da nun die Vernunft ihre Erkenntnisse aus den Eindrücken der Außenwelt schöpft, so kann die Vernunft nur dann gute Eindrücke empfangen und sie in richtige und sittliche Erkenntnisse und Motive umformen, wenn die Außenwelt oder das Gesellschaftsleben gut und gerecht geordnet ist. Es gilt also, das Gesellschaftsleben nach sittlichen Grundsätzen umzugestalten.

Die Haupthindernisse eines sittlichen sozialen Lebens sind Sondereigentum und Staatsgewalt. Insbesondere gilt dies vom Eigentum. „Von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Ansichten, die wir über diesen Gegenstand haben, hängt es ab, bis zu welchem Grade wir die Folgen einer einfachen (natürlich-kommunistischen) Gesellschaftsform ohne Regierung begreifen und die Vorurteile hinwegräumen, die uns an die komplizierte Gesellschaft (d. h. wo Sondereigentum, Staatsgewalt, Polizei, Handel, Schacher usw. herrschen) binden" (8. Buch, Kapitel i). Die heutige Verteilung des Reichtums ist schlecht; die Entlohnung der Arbeit ist ungerecht. Überfluß und Hunger, Willkür und Unfreiheit, Hochmut und Knechtseligkeit sind die untrüglichen Kennzeichen der gefährlichen Erkrankung unseres Gesellschaftslebens. Die Herrschaft des Privateigentums machte die Selbstsucht zur stärksten Triebfeder der menschlichen Handlungen. Hieraus fließen Lasterhaftigkeit, Unwissenheit, Morde und Kriege, Menschen- und Völkerhaß, so daß der Mensch sein Ziel: die Glückseligkeit, nicht erreichen kann.

Das Heilmittel ist deshalb nur zu finden in der Herstellung der wirtschaftlichen Gleichheit, die durch : die Abschaffung des Privateigentums bewirkt werden " kann. Die Anwendung dieses Heilmittels darf aber '. nicht durch Gewalt und Zwang erfolgen, sondern durch Aufklärung und Erziehung. Die Volksmassen 1 müssen und können durch friedliche Propaganda zur Überzeugung gebracht werden, daß eine Gesellschaft ohne Sondereigentum und Zwangsregierung möglich sei. Dringt diese Überzeugung einmal durch, so hat die Vernunft freie Bahn und wird die Menschheit zur höchsten Erkenntnis und Tugend führen. Die zukünftige Gesellschaft wird nicht straff organisiert sein; die Einzelmenschen werden sich frei bewegen; jedermann wird seine Arbeit verrichten im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.

Im Jahre 1796 heiratete Godwin die Vorkämpferin der Frauengleichberechtigung, Mary Wollstonecraft (Verfasserin der „Vindication of Woman Rights" = Verteidigung der Frauenrechte). Aus der Ehe entsproß Mary Godwin, später die Frau Percy Bysshe Shelleys, eines der revolutionärsten und größten Dichter aller Zeiten.

Die Schriften, die Godwin nach 1798 verfaßte, sind unbedeutend; auch seine Handlungsweise bedeutete einen Rückfall ins bürgerliche Literatentum. Er überlebte seinen Ruhm.

4. Charles Hall: Theoretiker des Klassenkampfes.

Der bedeutendste Sozialkritiker der ersten Phase der wirtschaftlichen Umwälzung war ohne Zweifel der Arzt Charles Hall (1740—1820), der 1805 sein Buch „Effects of civilisation" (Wirkungen der Zivilisation) veröffentlichte und den unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit formulierte und statistisch zu begründen suchte. Auch er geht von der naturrechtlichen Auffassung aus, daß die Urgesellschaft weder Sondereigentum noch staatliche Regierung kannte; erst in der Zivilisation entfalteten sich diese beiden Einrichtungen und spalteten die Gesellschaft in Arme und Reiche, in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Herren und Untertanen. Reichtum ist Macht; er verleiht den Besitzern den Oberbefehl über die Armen; er zwingt sie in die Fabriken und Bergwerke, läßt sie die gefährlichsten und schmutzigsten Arbeiten verrichten. Die Arbeiter erzeugen Werte, erhalten aber nur Löhne. Aus dem Unterschied zwischen Wert und Lohn entsteht der Profit, in den sich Grundbesitzer, Unternehmer und Händler teilen. Das Mittel, das die Reichen befähigt, einen Teil des Arbeitsertrags den Arbeitern abzunehmen, ist das Kapital oder derjenige Teil der Güter, den der Unternehmer den Arbeitern in Form von Produktionsmitteln, Rohstoffen und Lohn zur Verfügung stellt, um sie instandzusetzen, mehr Güter zu erzeugen. Aber auch die Güter, die das Kapital ausmachen, sind die Erzeugnisse der Arbeit der Armen.

Warum aber gehen die Arbeiter in ein derartiges Verhältnis ein? Der Vertrag zwischen beiden Parteien ist nicht freiwillig. Die Armen haben keine Wahl; sie müssen die Bedingungen der Kapitalbesitzer annehmen oder aber verhungern. Es herrscht absoluter Zwang auf Seiten des Arbeiters. Besitzende und Nichtbesitzende, Kapitalisten und Arbeiter stehen im direkten Gegensatz zueinander.

Der Durchschnittslohn des englischen Arbeiters pro Jahr beträgt 25 Pfund Sterling. Die Zahl der Arbeitermassen beläuft sich auf acht Zehntel der Gesamtbevölkerung. In einer Nation von 10 Millionen Menschen gehören also 8 Millionen zum Arbeiterstand. Rechnet man, daß eine Arbeiterfamilie aus 5 Personen besteht, so gibt es 1600 ooo Arbeiterfamilien.  Ihr Gesamteinkommen pro Jahr ist 1600000 x 25 oder 40 Millionen Pfund Sterling. Was ist das Nationaleinkommen pro Jahr? Um das Jahr 1780 wurde die Bodenrente Englands auf 20 Millionen geschätzt. Seit jener Zeit ist sie um 10 Millionen gewachsen; sie beträgt demnach jetzt (1804) 30 Millionen. Nach Annahme von Adam Smith stellt die Bodenrente ein Drittel des Ertragswertes des Bodens dar. Der Ertragswert beträgt also 90 Millionen Pfund Sterling. Nach anderen Berechnungen beträgt er 112 Millionen Pfund Sterling. Von der Landwirtschaft gehen wir zu den Gewerben über. Wie der Premierminister Mr. Pitt im Jahre 1804 mitteilte, belief sich der Wert der Manufakturwarenausfuhr auf 50 Millionen. Der heimische Markt solcher Waren absorbiert das Doppelte oder Dreifache der Ausfuhr. Diese Posten stellen den Jahresertrag der Arbeit dar. Insgesamt belaufen sie sich auf 312 Millionen. Hiervon erhalten die Erzeuger dieses Ertrags, d.h. die Armen: 40 Millionen Pfund Sterling, also etwa den achten Teil ihrer Arbeitsausbeute. Acht Zehntel der Bevölkerung erhalten ein Achtel, zwei Zehntel der Nation erhalten sieben Achtel des jährlichen Nationaleinkommens. Und jene sind die Erzeuger des Reichtums!

Der Schaden der Armen ist der Nutzen der Reichen. Je weiter die Zivilisation um sich greift, desto größer wird der Reichtum in den Händen seiner Besitzer. Die Zunahme des Reichtums zeigt sich in dem Anwachsen der Bodenrente; in dem Anwachsen der Staatsschulden, die den Staat immer mehr von den Geldleuten abhängig macht; in der Zunahme der Manufakturen, Geschäftshäuser, Werften, Reedereien, Warenhäuser, der Straßen, der Wasserwege, der Ein- und Ausfuhr. Die Vermehrung des Reichtums geht Hand in Hand mit einer Vermehrung der Zahl der Armen, denn die Mittelschichten, die sich noch einigermaßen oberhalb der Linie der Armut halten konnten, sinken unter diese Linie. Die Armen aber sinken noch tiefer, da mit dem Wachsen des Reichtums auch die Ansprüche der Reichen und ihr Bedürfnis nach Verfeinerungen und Luxusgegenständen wachsen, wodurch die Arbeit anstrengender und länger wird. Die Gegensätze verschärfen sich hierdurch derart, daß zu befürchten ist, die Armen könnten schließlich gewaltsame Versuche machen, sich von dem auf ihnen lastenden Druck zu befreien. Diese Versuche würden von den Reichen mit Repressivmaßregeln beantwortet werden. In diesem Bürgerkrieg würde es zur Militarisierung des Staates und vielleicht zur Prätorianerherrschaft kommen.

Die Reichen sind ohnehin leicht geneigt, die Kriegsfackel zu entzünden. Der Zweck aller Kriege ist entweder die Ausdehnung des Handels und der Manufakturen oder des Territoriums oder Rache zu üben. Die Konkurrenz der Reichen aller Handels- und Manufakturnationen um die Rohstoffe und Luxusgegenstände fremder Länder führt zu Kriegen, die den Armen absolut nichts nützen, obwohl die Reichen immer vorgeben, daß sie zum Wohle des Volkes in den Krieg gehen. Die Gier nach stärkerer Ausbeutung treibt die Reichen, fremde Völker zu unterjochen, woraus sich weitere blutige Konflikte ergeben. Der Hochmut und der aggressive Charakter der Reichen lassen sie schließlich beim mindesten Widerstand, auf den sie im Ausland stoßen, zu den Waffen greif en, um die sogenannte nationale Ehre zu schützen. Aber immer und überall sind es die Armen, die die Kriegslasten zu tragen haben. Deshalb sind die Reichen so rasch bei der Hand, wenn es sich darum handelt, fremde Völker zu überfallen. Es gibt indes für die Reichen noch andere Motive zum Krieg. Sobald sie sehen, daß die Armen daran sind, ihre Rechte zu fordern oder den Versuch zu machen, ihre Lage zu verbessern, da bricht irgendein internationaler Konflikt aus und die Armen werden gegeneinander gehetzt, aufeinander zu schießen. Der Krieg, in dem wir uns seit Jahren mit Frankreich befinden(1), ist höchstwahrscheinlich aus derartigen Motiven entsprungen. Als das französische Volk sich erhob, politische Gleichheit herzustellen und auch manche wirtschaftliche Reform durchzuführen, gerieten die Herrscher und die Reichen aller Länder in Schrecken, Sie befürchteten, daß die Revolution sich von Frankreich aus über Europa ausbreiten würde, wenn die Franzosen in ihren Bestrebungen erfolgreich sein sollten. Um diesen Erfolg zu verhindern, griffen die Reichen zum Krieg gegen Frankreich und zwangen die Armen, die Möglichkeit einer Besserung ihrer Lage zu vernichten. Es schneidet einem ins Herz, wenn man dies alles bedenkt. Die Armen selber mußten ihre Hoffnungen zerschlagen und obendrein sich noch die Lasten dieses schrecklichen Unternehmens aufbürden. Die Reichen kennen den Nutzen des Krieges sehr wohl. Deshalb ist es ihr Bemühen, schon den Schulkindern den Kriegsgeist einzuimpfen. Die Geschichtsbücher sind voll von Kriegsschilderungen. Den Krieg nennen sie prächtig, glänzend und erhebend; sie preisen die Helden und die Heldentaten, d. h. die blutigen Krieger und das Blutvergießen und die Schlächter. Sie vermeiden es aber sorgfältig, die schrecklichen Szenen zu schildern, die der Krieg hinterläßt: die zerfetzten Leiber, das herzbrechende Stöhnen der Verwundeten, die Haufen von Leichen und die gefüllten Hospitäler.

Es muß schon eine eherne Gewalt sein, die, trotz aller Vernunft, trotz aller Gefühle der menschlichen Natur, die Kriegsfurien über Völker und Länder entfesseln kann. Und diese Gewalt ist der Reichtum, das Kapital, das aus der Zerstörung der ursprünglichen Gleichheit entstanden ist. Der Krieg ist wohl auch bei den sogenannten Wilden zu finden. Aber dort entsteht er aus Mangel an den notwendigen Lebensmitteln oder aus Unkenntnis der Landwirtschaft, die imstande wäre, die Bedürfnisse aller Mitglieder zu befriedigen. In der Zivilisation aber entsteht er infolge der Sucht nach Luxus, nach überflüssigen, nutzlosen Dingen, die nur zur weiteren Unterdrückung der Armen dienen. Und es ist sicher, daß es heute keine Kriege geben würde, wenn das Volk über das Wirtschaftsleben und über Krieg und Frieden zu entscheiden hätte.

All das wurde vor 125 Jahren geschrieben!

So scharf Hall als Kritiker ist, so milde und unentschieden ist er als positiver Reformer. Er schlägt vor: Vergesellschaftung des Grund und Bodens, Rückkehr zum Handwerk, Lebenseinfachheit, Abschaffung des Luxus.

Wir werden später die englische Sozialkritik der zweiten Phase der wirtschaftlichen Umwälzung behandeln. Wenden wir uns jetzt ähnlichen Vorgängen in Frankreich und Deutschland zu, um uns über den sozialkritischen Charakter des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert in den führenden Kulturländern jener Zeit klar zu werden.

Anmerkungen:

1) Hall bezieht sich auf den Krieg Englands gegen die französische Revolution.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 373 - 383

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html