LIBANON
Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2003

ai Jahresbericht 2004
10/04

trend

onlinezeitung
Im Berichtszeitraum nahmen die Behörden zahlreiche Menschen vielfach willkürlich in Haft, unter ihnen gewaltlose politische Gefangene. Die meisten kamen innerhalb von Stunden oder Tagen wieder frei. Etliche islamistische Aktivisten wurden unter dem Verdacht des »Terrorismus« festgenommen, andere Personen wegen angeblicher »Kollaboration« mit Israel. Eine Vielzahl von Zivilisten musste sich vor Militärgerichten verantworten, deren Verfahren internationalen Standards der Fairness nicht gerecht geworden sind. Das Recht auf freie Meinungsäußerung unterlag Einschränkungen, und auch Menschenrechtsverteidiger konnten ihrer Arbeit nicht ungehindert nachgehen. Gleichwohl entspann sich eine lebhafte Menschenrechtsdebatte, die ebenso wie Initiativen zum Schutz der Menschenrechte von den Behörden im Allgemeinen geduldet wurde. Es trafen erneut Berichte über Folterungen und Misshandlungen ein, die nach Kenntnis von amnesty international in keinem einzigen Fall Ermittlungen nach sich gezogen haben. Mindestens drei Menschen wurden zum Tode verurteilt. Ende des Berichtszeitraums schien es fraglich zu sein, ob ein seit fünf Jahren de facto in Kraft befindliches Hinrichtungsmoratorium weiterhin Bestand haben würde.

Hintergrundinformationen

Im April reichte Ministerpräsident Rafiq al-Hariri beim libanesischen Staatspräsidenten den Rücktritt seiner Regierung ein, letztlich blieb er jedoch im Amt und bildete ein neues Kabinett ohne größere personelle Umbesetzungen.

Der Rechtsausschuss des Parlaments schlug weit reichende Änderungen des Strafgesetzbuchs vor, die von Menschenrechtsverteidigern vehement abgelehnt wurden. Im Falle ihrer Verabschiedung würden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit erheblich beschnitten und die Rechte von Frauen noch weiter ausgehöhlt werden.

Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtsgruppen setzten eine lebhafte und weithin aufgegriffene Diskussion über Fragen der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Gang. Die Rechte von Frauen und Gewalt gegen Frauen waren Themen, die in den libanesischen Medien breiten Raum einnahmen und auf der Tagesordnung mehrerer nationaler und im Libanon abgehaltener regionaler Treffen standen. Im Oktober bekräftigte der libanesische Justizminister die Verpflichtung seines Landes, innerstaatliche Gesetze mit der UN-Frauenrechtskonvention in Einklang zu bringen, die Libanon bereits 1996 ratifiziert hat.

Im Berichtszeitraum waren im Libanon weiterhin Tausende syrische Soldaten stationiert. Ein vom US-Kongress im November verabschiedetes Gesetz – das Syria Accountability and Lebanese Sovereignty Restoration Law –, welches unter anderem die Wiederherstellung der territorialen Souveränität des Libanon forderte, stieß in politischen Kreisen im Libanon auf ein geteiltes Echo. Der im Exil lebende Oppositionsführer Michel Aoun, der im US-Kongress zu dem Gesetzentwurf angehört worden war, wurde im November von den libanesischen Behörden unter anderem wegen Schädigung der Beziehungen zu einem befreundeten Staat – gemeint war Syrien – unter Anklage gestellt.

Gewalt gegen Frauen

Libanesische Frauengruppen verstärkten ihre Kampagne gegen Gewalt an Frauen wie etwa Tötungen aus Gründen der »Familienehre«, Vergewaltigungen und familiäre Gewalt. Die vom Rechtsausschuss des Parlaments vorgeschlagenen Änderungen des Strafgesetzbuchs stießen bei Menschenrechtsverteidigern und Frauenrechtsaktivistinnen auf erbitterten Widerstand. Sie befürchteten, dass dadurch die untergeordnete Stellung der Frau weiter zementiert und eine Kultur der Straflosigkeit aufrechterhalten würde, da die geplanten Strafrechtsergänzungen nach wie vor die Möglichkeit offen ließen, dass Männer und Frauen, die aus Gründen der »Familienehre« Morde begehen oder unehelich gezeugte Kinder töten, mit geringen Strafen davonkommen.

Unfaire Gerichtsverfahren vor Militärgerichten

Prozesse vor Militärgerichten wurden internationalen Standards der Fairness nach wie vor nicht gerecht.

Am 6. Mai sprach ein Militärgericht die Angeklagten Muhammad Ramiz Sultan, Khaled ‘Umar Minawi, ‘Abdallah Muhammad al-Muthadi und Ihab Husyan Dafa, einen Staatsbürger Saudi-Arabiens, vage definierter »terroristischer« Straftaten schuldig und verurteilte sie zu jeweils drei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit. Khaled ‘Umar Minawi soll im Jahr 2002 im Haftzentrum des Verteidigungsministeriums in al-Yarze gefoltert worden sein. Eine Untersuchung dieser Vorwürfe hat – soweit bekannt – nicht stattgefunden.

Am 20. Dezember wurden Berichten zufolge Khaled ’Ali und Muhammad Ka’aki zu jeweils 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen zur Last gelegt, Sprengstoffanschläge auf US-amerikanische und andere »westliche« Einrichtungen geplant zu haben. Bei den Angeklagten handelte es sich vermutlich um führende Mitglieder einer von den Behörden als »terroristisch« eingestuften Organisation, gegen die der Verdacht bestand, zwischen Juli 2002 und April 2003 Bombenanschläge auf Schnellrestaurants im Libanon verübt zu haben. 16 Mitangeklagte in dem Prozess erhielten Haftstrafen von zwei Monaten bis hin zu zwölf Jahren, weitere acht wurden freigesprochen. Einige der Beschuldigten erhoben vor Gericht den Vorwurf, unter Folterungen Rippenbrüche davongetragen zu haben. Die Militärrichter unterließen es aber, eine Untersuchung dieser Vorwürfe zu veranlassen. Es bestand der Verdacht, dass sämtliche Verurteilungen auf der Grundlage von »Geständnissen« erfolgt waren, die die Angeklagten während ihrer achtmonatigen Untersuchungshaft Berichten zufolge unter Folterungen abgelegt hatten.

Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern

Ein Großteil der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen im Libanon konnte ihrer Arbeit ungehindert nachgehen, es gab aber auch Versuche, Menschenrechtsverteidiger in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit zu beschneiden.

Muhammad al-Mugraby, ein Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger, wurde am 8. August unter dem Vorwurf festgenommen, unbefugt als Rechtsanwalt tätig zu sein. Nach dreiwöchiger Haft kam er am 29. August gegen Kaution wieder auf freien Fuß. Muhammad al-Mugraby hatte sich über Teile der libanesischen Justiz und über die Beiruter Rechtsanwaltskammer kritisch geäußert und Reformen eingefordert. Im Januar war er von der Kammer ohne persönliche Anhörung von der Liste der zugelassenen Anwälte gestrichen worden. Die Rechtsgültigkeit einer solchen Entscheidung kann jedoch erst in Kraft treten, wenn Einsprüche dagegen verhandelt und abgewiesen worden sind. Im Fall von Muhammad al-Mugraby stand dies bei Jahresende noch aus.

Am 10. September wurde Samira Trad, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Frontier, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Randgruppen im Libanon einsetzt, festgenommen und über Nacht in Gewahrsam gehalten. Angehörige des Sicherheitsdienstes unterzogen sie in der Haft Verhören über die Arbeit der von ihr geleiteten Organisation und stellten deren Rechtmäßigkeit infrage. Samira Trad wurde nach Paragraph 386 des Strafgesetzbuchs wegen »Beschädigung der Ehre und Integrität« der libanesischen Behörden unter Anklage gestellt, ein Tatbestand, der mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug geahndet werden kann. Der Leiter des allgemeinen Sicherheitsdienstes erklärte gegenüber Vertretern von amnesty international, Samir Trad habe die für die Registrierung von Organisationen geltenden rechtlichen Verfahren nicht korrekt befolgt.

Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung

Die Medien stellten nach wie vor ein Forum für lebhafte und durchaus regierungskritische Diskussionen dar, es wurden allerdings auch Versuche bekannt, die Presse- und Publikationsfreiheit Einschränkungen zu unterwerfen.

Der Philosophieprofessor Adonis Akra wurde für sieben Stunden in Haft genommen und gezwungen, eine anlässlich der Veröffentlichung seiner Gefängnismemoiren geplante Signierveranstaltung abzusagen. Die Behörden beschlagnahmten mehrere hundert Exemplare des Buchs und ordneten die Schließung des Verlagshauses Dar al-Tali’ah an.

Tahsin Kayyat, Eigentümer des privaten Fernsehsenders NTV, wurde im Dezember von der Militärpolizei wegen angeblicher Kontakte zu Israel einen Tag lang in Haft gehalten, bevor man ihn ohne Anklageerhebung wieder auf freien Fuß setzte. Der Sender NTV, andere Medienorgane und einige Politiker protestierten gegen die Festnahme von Tahsin Kayyat und bezeichneten sie als Versuch, auf NTV Druck auszuüben. Im Berichtszeitraum wurde der Sender mindestens einmal an der Programmausstrahlung gehindert, offenbar nachdem er einen Beitrag über US-Militärstützpunkte in Saudi-Arabien gebracht hatte.

Update

Im April wies der Kassationsgerichtshof Rechtsmittel ab, die gegen die Schließung des Fernsehsenders MTV und der Rundfunkstation Radio Mount Liban eingelegt worden waren. Den beiden der Opposition nahe stehenden Sendern war zur Last gelegt worden, unter Verstoß gegen Paragraph 68 des Wahlgesetzes nicht genehmigte Wahlspots ausgestrahlt zu haben. Mit der Entscheidung des Kassationsgerichtshofs ging ein achtmonatiger Rechtsstreit zu Ende, in dessen Verlauf grobe Verfahrensfehler festzustellen gewesen waren, die vermuten ließen, dass die Schließung von MTV und Radio Mount Liban politische Beweggründe gehabt hatte.

Folterungen und Misshandlungen

Nach wie vor trafen Berichte über Folterungen und Misshandlungen ein. Die Behörden verwehrten Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) den ungehinderten Zugang zu sämtlichen Hafteinrichtungen des Landes. Insbesondere dem Verteidigungsministerium unterstehende Haftzentren, in denen Zivilisten festgehalten wurden, blieben den IKRK-Mitarbeitern versperrt, obwohl ein Präsidialerlass aus dem Jahr 2002 solche Besuche ausdrücklich genehmigt hatte. Im Oktober beantragte der Parlamentsabgeordnete Saleh Honein eine parlamentarische Untersuchung der Frage, warum IKRK-Vertreter keinen Zugang zu Militärgefängnissen erhalten.

Am 17. Januar sollen die Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken und Tränengas gegen 17 Insassen des Rumieh-Gefängnisses vorgegangen sein, die sich geweigert hatten, an einer gerichtlichen Anhörung teilzunehmen. Ihab al-Banna und Sa’id Minawi mussten wegen der dabei erlittenen schweren Verletzungen zur stationären Behandlung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die 17 Häftlinge waren im Februar 2002 bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften auf dem Dhinniyyah-Plateau festgenommen worden. Nach dem Vorfall wurden sie als Strafsanktion in Einzelhaft verlegt. Erst im Juli erteilte die Staatsanwaltschaft den Gefangenen die Erlaubnis, zur Ausübung ihres Glaubens und um sich etwas Bewegung zu verschaffen ihre Zellen verlassen sowie sich Bärte wachsen lassen zu dürfen.

Im Dezember wurde Husayn Ahmad al-Qarahani von der Anklage freigesprochen, an einem Anschlag vom Juni auf den Fernsehsender al-Mustaqbal sowie an Sprengstoffschlägen auf US-amerikanische Restaurants beteiligt gewesen zu sein. Er gab an, zusammen mit anderen Gefangenen im Haftzentrum des Verteidigungsministeriums in al-Yarze ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam gehalten und gefoltert worden zu sein. Bei seiner Anhörung vor dem Militärgerichtshof erhob er den Vorwurf, er und andere Häftlinge seien mit Schlägen traktiert und der Ballanco-Folter – bei der das Opfer an auf dem Rücken gefesselten Handgelenken aufgehängt wird – unterworfen worden, um sie zu einem Geständnis zu zwingen. Soweit bekannt haben weder die von Husayn Ahmad al-Qarahani noch die von anderen Personen im Berichtszeitraum erhobenen Foltervorwürfe Ermittlungen nach sich gezogen.

Stellungnahmen der Regierung

In Reaktion auf Berichte von amnesty international über mutmaßliche Misshandlungen an Gefangenen ausländischer Staatsangehörigkeit erklärte die Regierung im September, inhaftierte Ausländer würden korrekt und in Übereinstimmung mit internationalen Standards behandelt. Im selben Monat kritisierte die Regierung eine Dokumentation von amnesty international über die Dhinniyyah-Häftlinge als auf »unglaubwürdigen Quellen« beruhend und wies die in dem Bericht enthaltenen Vorwürfe über Folterungen und das Fehlen gesetzlicher Schutzvorkehrungen zurück. Gleichwohl hat keine unabhängige Untersuchung der Justiz zur Aufklärung der gemeldeten Folterungen und Misshandlungen an den Gefangenen stattgefunden.

Todesstrafe

Gerichte verhängten mindestens drei Todesurteile. Ende des Berichtszeitraums war fraglich, ob ein seit 1998 in Kraft befindliches Hinrichtungsmoratorium weiterhin Bestand haben würde, da es in Meldungen hieß, die Unterzeichnung von 27 oder mehr Hinrichtungsbefehlen durch den libanesischen Präsidenten stünde möglicherweise unmittelbar bevor.

Tötungen von Zivilisten

Zivilisten fielen Tötungen zum Opfer, bei denen es sich um gezielte oder wahllose Anschläge gehandelt haben könnte.

In der Nacht des 6. Oktober kam der fünfjährige Ali Nadir Yassin ums Leben, als das Haus seiner Familie in der im Südlibanon gelegenen Ortschaft Hula von einer Rakete getroffen wurde, deren eigentliches Ziel offenbar israelische Militärs gewesen waren. Nach Angaben der im Libanon stationierten UN-Friedenstruppe UNIFIL hatte es sich um eine von libanesischen Widerstandsgruppen üblicherweise verwendete Rakete vom Typ Katjuscha gehandelt. Die islamistische Gruppe Hizbullah, die sporadische Raketenangriffe auf israelische Einheiten in den von Israel besetzten Sheeba-Farmen verübt, bestritt jede Verantwortung für den Zwischenfall.

Am 9. Dezember wurden der Student Mahmoud Hadi und der Mechaniker Khodr ’Arabi in der Nähe der Ortschaft Ghajar, durch deren Mitte sich die Grenze zwischen dem Libanon und den von Israel besetzten Golan-Höhen zieht, in ihrem Fahrzeug von israelischen Soldaten erschossen.

Flüchtlinge

Palästinensische Flüchtlinge

Palästinensische Flüchtlinge sahen sich weiterhin systematischer Diskriminierung ausgesetzt. Sie unterlagen unter anderem in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihren Möglichkeiten, einer Berufsarbeit nachzugehen oder Grundbesitz zu erwerben, weit reichenden Einschränkungen. Ein dem Parlament zugeleiteter Gesetzentwurf, der vorsah, das Verbot des Grundbesitzerwerbs aufzuheben, wurde im Oktober vom Parlamentssprecher zurückgezogen.

Andere Flüchtlinge

Es bestand der Verdacht, dass von Maßnahmen der libanesischen Regierung zur freiwilligen Rückführung von Irakern auch Flüchtlinge und Asylbewerber betroffen gewesen sein könnten, denen in ihrer Heimat schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Im September unterzeichneten die Regierung und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) eine Gemeinsame Absichtserklärung, die als wichtiger Schritt angesehen wurde, die Rolle des UNHCR beim Schutz von Flüchtlingen und Asylbewerbern im Libanon auf eine formale Grundlage zu stellen. Einige Bestimmungen der Absichtserklärung stießen jedoch auf Kritik, weil sie beispielsweise vorsahen, dass Asylbewerber nur innerhalb einer festgelegten Frist Zugang zu einem Verfahren zur Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft erhalten.

Berichte und Missionen von amnesty international

Bericht

Lebanon: Torture and unfair trial of the Dhinniyyah detainees (ai-Index: MDE 18/005/2003)

Missionen

In den Monaten Mai und Juni hielten sich Delegierte von amnesty international im Libanon auf. Sie nahmen an einer Regionalkonferenz zum Thema Gewalt gegen Frauen teil, recherchierten vor Ort die Situation palästinensischer Flüchtlinge und andere menschenrechtsrelevante Fragen und trafen mit Regierungsvertretern, Mitgliedern örtlicher Menschenrechtsorganisationen und Rechtsanwälten zusammen. Im Oktober fanden zwischen Vertretern von amnesty international und der libanesischen Regierung weitere Gespräche statt.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel ist eine Spieglung von http://www2.amnesty.de

amnesty international,
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/983 73-0 - Telefax: 0228/63 00 36 - E-mail: info@amnesty.de
Spendenkonto: 80 90 100 - BfS Köln - BLZ 370 205 00