Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 16. September 2002  
Der “große Wurf” der Hartz-Kommission:
Arbeitslosigkeit als neue Lohnform    

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Nach der großen Einsicht der Hartz-Kommission steht felsenfest:

Mit der sozialstaatlichen Verwaltung des Arbeitslosenheeres, für das per Umverteilung von Lohnbestandteilen ein - tendenziell sinkender, zeitlich befristeter - Lohnersatz organisiert wird;

mit der Vermittlung von Arbeit Suchenden - nach verschärften Zumutbarkeitskriterien, in zunehmend schlechtere Stellen; mit der Kürzung und Streichung von Bezügen vom Arbeitsamt bei Ablehnung ‚zumutbarer‘ Beschäftigung;

mit Arbeitsbeschaffungs- und Qualifikationsmaßnahmen, denen sich die Klientel der Behörde zu unterziehen hat, damit sie sich nicht “in ihrem Arbeitslosendasein einrichtet” - kurz:

Mit all dem, was der Sozialstaat bislang unternommen hat, um den Arbeitslosen Beine zu machen, ihnen das Leben auf Kosten der Sozialkassen, das sie sich gar nicht ausgesucht haben, zu verleiden, ist es nicht mehr getan. Was Not tut, sind grundlegendere Änderungen: Es gilt, die nationale Arbeitskraftreserve zu einem durchgreifend verbesserten Angebot an die Arbeitgeber aufzumöbeln.

Die­ser großen Einsicht der Hartz-Kommission folgt der großartige Einfall auf dem Fuße: Aus der Arbeitslosenverwaltungsbehörde muss ein echter Dienstleister für Arbeitgeber werden, der Firmen zu “Kunden” hat und diesen bedarfsgerecht Personal anbietet. Dafür wird das Amt selbst aktiv, tritt als eine Art Zwischenhändler an seine Firmenkundschaft heran und räumt dieser für den zeitweiligen Ankauf der öffentlich feilgebotenen Ware Arbeitskraft Konditionen ein, denen kein Arbeitgeber widerstehen kann.

Zur Verwirklichung dieses Einfalls der Hartz-Kommission wird eine arbeitsamteigene Gesellschaft ins Leben gerufen. An die werden diejenigen Arbeitslosen überstellt, denen das ebenfalls aufzubauende behördeninterne Job-Center innerhalb eines halben Jahres keine Stelle vermitteln konnte:

“Jedem Arbeitsamt gliedern wir eine so genannte Personal-Service-Agentur an, die wie eine private Zeitarbeitsfirma arbeitet oder sogar eine ist. Dort werden die Arbeitslosen angestellt - mit allen Rechten und Pflichten. Praktisch sind sie dann nur eine Sekunde lang arbeitslos.” (Hartz in: Der Spiegel 26/02)

In Gestalt der Personal-Service-Agenturen übernimmt das Arbeitsamt diejenigen Arbeitslosen, die es dafür “für geeignet hält” (Handelsblatt 15.8.), selbst in ein arbeitsrechtliches Verhältnis. Damit tritt ihnen die Behörde in der Rechtsposition eines Arbeitgebers entgegen, der ihnen einen Lohn zahlt und sie dafür - “wie eine private Zeitarbeitsfirma” - interessierten Unternehmen überlässt; zu Bedingungen, die das Arbeitsamt mit denen vereinbart. Im Unterschied zu dem, was in der Welt der Arbeit, auch der der Leiharbeit, immer noch für normal gilt, kommt dieses arbeitsrechtliche Verhältnis allerdings nicht erst darüber zustande, dass die Arbeit Suchenden die Verfügung über ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn und zu sonst noch ausgemachten Bedingungen an einen Arbeitgeber abtreten. Das Arbeitsverhältnis ergibt sich vielmehr “automatisch” als Rechtsfolge daraus, dass sich nicht sofort ein neuer Käufer für ihre Arbeitskraft finden lässt: Nach einem halben Jahr erfolgloser Vermittlungsbemühungen verlieren sie das Recht auf freie Verfügung über ihre Arbeitskraft - es geht, ohne dass sie daran irgendwelche Bedingungen knüpfen könnten, an die staatliche Arbeitsbehörde über. Und die bestraft ihrerseits Arbeitsverweigerung mit Leistungs­verweigerung: “Lehnt” ein Arbeitsloser seine Anstellung bei der Agentur “ab, wird nach drei oder sechs Monaten das Arbeitslosengeld gekürzt.” Die Vorteile dieser Neuerung liegen für den Vorsitzenden der Kommission klar auf der Hand:

“Während es für das Arbeitsamt heute ausgesprochen schwierig ist, Arbeitslose zur Annahme bestimmter Jobs zu zwingen, kann die Service-Agentur so etwas künftig einfach durchsetzen. Denn anders als das Amt ist die Agentur ein echter Arbeitgeber und kann, genauso wie ein Unternehmen, die bewährten Sanktionsprinzipien des Arbeitsrechts nutzen … Wer nicht arbeiten will, fällt auf - und bekommt dann eine erheblich geringere Unterstützung.” (Hartz in: Der Spiegel 32/02)

Unverhohlen gibt Hartz zu Protokoll, dass seine Kommission an der Einrichtung einer modernen Form staatlich organisierter Zwangsarbeit arbeitet. Wie kann man Leute zur Annahme von Jobs zwingen? Diese Frage beschäftigt seine Kommission, ohne damit Anstoß zu erregen. Und die sieht er innerbetrieblich so hervorragend durch das Arbeitsrecht beantwortet, dass er diesen “bewährten” Hebel zur Durchsetzung der Befehlsgewalt des Arbeitgebers über seine Mitarbeiter nun auch im Verhältnis zwischen Arbeitsamt und Arbeitslosen wirksam werden lassen will; im Verhältnis dazu befindet er alles, was das Arbeitsamt bislang an Sanktionsprinzipien zur Anwendung gebracht hat, für eine matte Sache.

Das Programm der Hartz-Kommission ist damit klar: Es gilt, einen Arbeitsdienst an einer Wirtschaft zu organisieren, in der Rentabilität der Arbeit oberstes Gebot ist. Und angesichts dessen, dass sich vor diesem Kriterium ein stattlicher Anteil der nationalen Arbeitskraft als unbrauchbar erweist, bedarf es dazu eines differenzierteren Konzepts. Nämlich folgendes: Der Staat erledigt für die Unternehmer im Lande als Erstes das leidige Problem mit dem Lohn. Den zahlt nämlich erst mal die Agentur - selbstverständlich nicht in der Höhe, wie er in den privaten Entleihfirmen nach Tarif gezahlt wird. Nach letzten Meldungen soll vom ersten Tag an nach einem extra PSA-Tarif bezahlt werden, der niedrigere Einstiegslöhne vorsieht. Zur Finanzierung dieses Lohnes benutzt der Sozialstaat Teile des Lohns der arbeitenden Bevölkerung, die er sowieso schon für seine Arbeitslosenverwaltung beschlagnahmt. Was er sich dann für verliehene Arbeitskraft vom ausleihenden Unternehmen zurückholt, das steht auf einem völlig anderen Blatt, ist grundsätzlich Verhandlungssache zwischen PSA und interessierter Firma - die Leasing-Kosten für PSA-Kräfte liegen folglich irgendwo zwischen Spottpreis und Nulltarif. Die Sozialbeiträge trägt ebenfalls die Agentur, natürlich auch aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung. Und auch von dem dritten großen Beschäftigungshindernis neben Lohn- und Lohnneben-Kosten, der schauerlichen “Verkrustung” des Arbeitsmarkts durch Restriktionen beim Rausschmeißen, werden die Firmenkunden der PSA automatisch befreit: Kündigungsschutz genießen die Leiharbeiter bei “ihrer” Agentur, der sie, einmal vom Job-Center dorthin überstellt, nicht mehr auskommen; für die Entleihfirmen erübrigen sich damit alle einschlägigen Vorschriften.

Freilich wollen die Hartz-Reformer erst einmal so verstanden sein, dass bei den anvisierten neuen Arbeitsstellen an zusätzliche Jobs zu denken ist und nicht an eine kostensparende Erneuerung des Belegschaftsbestandes. Doch der “Charme”, den der Chef der Kommission seinem Konzept nachsagt, erschöpft sich darin nicht; und den Wink mit dem Zaunpfahl lässt er von seinem “Spiegel”-Interviewer auch gern aus sich herauslocken:

Spiegel: Dann könnte die Firma ja gleich jemand Neues einstellen. Hartz: Das wird sie meistens nicht tun, weil ein Festangestellter oft teurer ist und nur schwer gekündigt werden kann. Das Konzept hat den Charme, dass wir zwei Ziele gleichzeitig erreichen. Die Unternehmen können günstig neue Arbeitsplätze schaffen. Trotzdem haben die Angestellten der Agentur vollen sozialen Schutz. Sie können nicht gekündigt werden und sind sozialversichert.” (Der Spiegel 26/02)

Der Charme des Konzepts liegt für die Unternehmer darin, dass sie der Staat von den Rück­sichtnahmen auf bislang geltende Kündigungsfristen und große Teile der Lohnnebenkosten befreit. Der Charme für die Arbeitslosen liegt darin, dass derselbe Staat die Notwendigkeiten ihres Lebensunterhalts als diese menschliche Manövriermasse der Unternehmer in dem Maße übernimmt, in dem sie ihm unerlässlich erscheinen. Eingearbeitet in das Konzept sind deswegen auch alle möglichen zusätzlichen Reflexionen, insbesondere “familienfreundliche”, denn auch die Reproduktionsnotwendigkeiten einer Keimzelle des Staates mit einem mobilen Leiharbeiter als Ernährer wollen alle bedacht sein; deswegen sollen “arbeitslose Familienväter” bevorzugt in feste Stellen vermittelt werden; “jüngere Alleinstehende” müssen hingegen mit den verschärften Zumutbarkeitskriterien zurechtkommen etc.

So kann es also losgehen, mit schönsten Sonderangeboten des Sozialstaats an die Unternehmer im Lande: Die Firmen können nach Belieben, in jedem erwünschten Umfang “kurzfristig einsetzbare, jederzeit kündbare Arbeitskräfte” anfordern; und zwar für x-beliebige Handlangerdienste überall in der Republik. Die Arbeitslosen werden den Unternehmern vom Staat zu unschlagbar günstigen Konditionen als beliebig einsetzbare Manövriermasse offeriert; und dank dieser Eigenschaft sollen sie vermehrt eingesetzt werden. Mehr von der nationalen Arbeitskraft soll einer kapitalistischen Benutzung zugeführt werden, indem man ihre Benutzer von jeder regulären Lohnzahlung und den rechtlichen Kautelen einer regulären Anstellung befreit.

Die Hartz-Kommission unterstellt in ihrem Konzept die Arbeitslosen konsequent dem Zweck, dem die marktwirtschaftliche Erwerbsarbeit wirklich und ausschließlich dient: Damit mehr eingestellt werden können, brauchen Unternehmer mehr Ausbeutung; und damit mehr Ausbeutung stattfindet, müssen die Ausbeutungsbedingungen für Arbeitgeber durch den Staat grundlegend verbessert werden - nur so werden Arbeitslose wieder zu kapital-nützlichen Gliedern der Gesellschaft. Sozialstaat heute.

Editorische Anmerkung

Red. Gegenstandpunkt schickte uns diesen Artikel am 17.9.2002 zur Veröffentlichung. Die ausführliche Analyse zu den Ergebnissen der Hartz-Kommission  erschien am 27. September in GegenStandpunkt 3-02 unter dem Titel: Das neue Arbeitsamt: Statt verwalten und vermitteln - vermarkten.