Stahlgewitter
Reflexion der Angriffe auf Amerika

von Andreas, Martin und Hannes

10/01
trdbook.gif (1270 Byte)
 
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel
info@trend.partisan.net
ODER per Snail:
trend c/o Anti-Quariat
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

Wegen der Angst vor Barbarei, Entsetzen über den Anschlag, das Bedürfnis nach Reflexion, die Abscheu vor den Motiven der Tätergemeinschaft, Antiamerikanismus, Antisemitismus, Antizionismus, welche sich sowohl in der Tat als auch in den Reaktion der nicht unmittelbar Betroffenen wiederfindet, ist diese dreiteilige Artikelserie ein Versuch einer Analyse des Geschehenen

Auf der Grundlage dieser Artikel und dem vom Ralf in Cee Ieh wird eine Diskussionsveranstaltung am Dienstag den 2.Oktober 20 Uhr im Conne Island stattfinden.

*********

„Halleluja der Turm stürzt ein!“ 
(Eintrag von Helmut nach dem 11.9.01 im Internet – Gästebuch vom Roten Stern Leipzig e.V.)
„Auf den Asphaltfeldern grasen goldene Kälberherden Tag und Nacht / Über ihnen Wolkenkratzer wo die Computer schmatzen – ach / ... Halleluja der Turm stürzt ein...“ (Ton Steine Scherben)

„War in a Babylon“(Zion Train)

‚Babel’ ist hebräisch und heißt ‚vermischt, verwirrt’.

In der subversiven Popkultur war und ist Babylon eine Symbol für den Kapitalismus. Der Turm von Babel symbolisiert die Überheblichkeit größenwahnsinniger Menschen, die gen Himmel streben, die Entwurzelung des Menschen von seiner Ursprünglichkeit und die sprachliche Orientierungslosigkeit. Der Turm von Babel symbolisiert die Moderne, der Einsturz des Turms von Babel seine Fatalität. Dieses Bild von Babylon ist aus den religiösen Erzählungen übernommen wurden. Die Geschichte des Babylonischen Turmes wird durch das Alte Testament überliefert.

Johannes zeigt die Stadt Babylon in Offenbarung 17-18 als eine Hure, die auf einem scharlachroten Tier reitet, das seinerseits an vielen Wassern (Lebensquellen) sitzt. Die Hure ist „die große Stadt, welche über die Könige der Erde regiert“. In Offenbarung 17-18 wird folgend die Hure in Zusammenhang gebracht mit Luxus, Macht, Ruhm, dem Okkulten, sexueller Unmoral und Stolz, aber die überwiegende Assoziation ist die mit Reichtum. Gott bestraft das Ansinnen der Menschen sich zu erhöhen. Der Turm von Babel stürzte ein.

Die Angst vor der Moderne ist die Angst vor der nicht mehr zu bändigenden Macht, welche sich die Erde machtvoll einverleibt und die alten Formen des Zusammenlebens zerstört. Diese religiöse Metapher ist ein zweischneidiges Schwert, wenn man sie als Mahnung gegen den Kapitalismus gebraucht. Einerseits warnt sie vor nicht mehr durchschaubaren Verhältnissen, die den Menschen über ihren Köpfen zusammenbrechen, andererseits verbirgt sich in ihr die Tendenz, Luxus abzulehnen, die Tradition gegen die Moderne auszuspielen und die Figur des Turmes mit den Türmen dieser Welt gleichzusetzen.

Das der religiöse Zeigefinger oftmals zu einem Stinkefinger der Poplinken gegen Bonzen wurde, kennzeichnet einerseits ihre Traditionslinie mit der frühen romantischen sozialistischen Utopie und andererseits die Unfähigkeit einer verkürzten Kapitalismuskritik, gesellschaftliche Zusammenhänge zusammenhängend zu kritisieren. Am fatalsten jedoch ist der damit einhergehende moderne Antisemitismus [1] . Dieser zeigt sich sowohl in den Anschlägen als auch in den Reaktionen der westlichen „Zivilisation“.

„Das ‚internationale Judentum’ wird [...] als das wahrgenommen, was hinter dem ‚Asphaltdschungel’ der wuchernden Metropolen, hinter der ‚vulgären, materialistischen, modernen Kultur’ [...] steht.“ (Moishe Postone) 

Moderner Antisemitismus entwickelte sich aus dem Antijudaismus. Seit der Diaspora, der Zerstreuung der Juden im 3.Jh.v.u.Z. waren Juden allerorten eine Minderheit, die aufgrund ihrer eigenen Religionsgesetze als fremd empfunden wurden. Es gab in der christlichen Gesellschaft viele Verbote für Juden und sie wurden ausgegrenzt, was in einer zunehmenden Gettoisierung im Mittelalter mündete. Die Reformatoren als neue kirchliche Bewegung verkündeten offen ihren Hass auf die Juden. Wegen der Verbote, die ihnen beispielsweise nicht erlaubten in Handwerkerzünften zu arbeiten, waren Juden insbesondere als Händler und Kaufleute tätig. Dieser Bereich florierte mit der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaft. Juden wurden somit zu Gewinnern dieser gesellschaftlichen Entwicklung und von da an auch noch als wucherische Ausbeuter angesehen. Die gesellschaftlichen Veränderung wurden als Bedrohung und Werk der Juden empfunden. Mit der Entwicklung des Kapitalismus entwickelte sich der moderne Antisemitismus. Mit der Industrialisierung änderten sich die Lebens- und Produktionsverhältnisse gravierend. Millionen Menschen zogen unfreiwillig als „doppelt freie Lohnarbeiter“ (K. Marx) vom Land in die Stadt, um in den Fabriken Lohn für die Sicherung ihrer Existenz zu erwerben. Alte gemeinschaftliche Gefüge wurden grundlegend verändert. Existenzängste und Gefühl von Heimatlosigkeit brachte die Industrialisierung mit sich. Die Ablösung der Subsistenzwirtschaft durch eine immer totaler werdende Warengesellschaft und die Auflösung religiös begründeter Ordnung wurden mit der Herrschaft des Geldes assoziiert. Hinter der anonymen Macht des Geldes, wurde die persönliche Macht der Juden gesehen, die ja wie geschildert eng mit der Zirkulationssphäre verflochten waren. Juden wurden insgesamt mit den Phänomenen in Verbindung gebracht, die Angst und Unsicherheit erzeugten, also Ausdruck der Veränderung waren. Urbanisierung, Zerstörung von Großfamilie und Wertekanon, Entwurzelung, Kosmopolitismus, Universalismus, Traditionslosigkeit, sexueller Unzucht etc. Die Juden wurden identifiziert mit Abstraktheit und Allgemeinheit, Habgier, Einzelinteresse, Gerissenheit, Morallosigkeit und Veränderung. [2] Die Juden wurden nicht mehr als Religion sondern als Rasse betrachtet, die sich dadurch auszeichnet, dass sie keine Heimat haben, aber trotzdem eine geheimnisvolle Verbindung zu einander wahren. Im Gegensatz zu rassistischen Projektionen wird den Juden nicht eine konkrete, potentielle Macht zugeschrieben, die von außen kommt und beherrschbar ist, sondern eine abstrakte, allgemeine und unbegrenzte Kraft, die kaum erkenntlich im Inneren von Gemeinschaften wirkt. Mit einem Wort: Die abstrakte Seite des Kapitalismus und deren Phänomene werden mit dem Judentum identifiziert und damit erklärt. [3] Der Antisemitismus ist ein Welterklärungsmodel, welches sich gegen die abstrakte Seite des Kapitals richtet, indem diese Seite personifiziert wird. Der Antisemitismus redet z.B. vom jüdischen Spekulanten als raffendes Kapital, welches das völkische schaffende Kapital, die ehrlichen Arbeiter und Fabrikbesitzer ausbeutet [4] . Die Ideologie Antisemitismus kehrt innere Widersprüche der Gesellschaft nach außen, indem sie im Judentum verdinglicht werden, und produziert demnach das, was in einer kapitalistischen Ökonomie nicht mehr möglich ist: Gemeinschaft und Identität.

Doch moderner Antisemitismus kommt auch ohne Juden aus. Was bleibt ist die Personifikation dessen, was einem unheimlich ist. Der Kapitalismus, der von allen Menschen reproduziert wird und eine Struktur ist die sich historisch zwischen den Menschen entwickelt hat, sich ihrer bemächtigt und aus ihrer Logik heraus Unrecht und Leiden schafft, wird dann als Schuld einer bestimmten Menschengruppe beschrieben. Große Teile der Anti – Globalisierungsbewegung versuchen damit, Ungerechtigkeiten in dieser Welt zu erklären [5] . Auch in den Reaktionen der Linken auf die Anschläge wird die Schuldsuche bei den Amerikanern selbst vorgeschlagen.

„Klammheimliche Freude“

Wenn jemand nach den Anschlägen „klammheimliche Freude“ (Helmut im Internetforum der RSL e.V.) empfindet, muss es seines Erachtens die Richtigen, also die Bösen, getroffen haben.

Dieses fatale Denken erkläre ich mir so. Ohne genaueres Betrachten gesellschaftlicher Verhältnisse kommen vorschnell zwei Einfälle, um weltweites Unrecht zu erklären.

1. ’Wer mit Schlips und Computer ohne ordentlich mit den Händen zu arbeiten, Millionen verdient und nicht etwa in Fabriken oder auf Feldern arbeitet, sondern in einem riesigen Büroturm, der muss andere ausbeuten.’ (zum Vergleich: s.o. Ton Steine Scherben – Zitat)

2. ‚Amerika hat sich überall mit Militär und seiner Industrie eingemischt, hat Menschen ausgebeutet und ist daher die kapitalistische Bestie.’ (zum Vergleich: „Yankees raus“, Slime)

Der erste Einfall ist strukturell antisemitisch, der zweite antiamerikanisch. Das hat in der Linken eine lange Tradition, die an dieser Stelle skizziert werden soll.

„Natürliche Wirtschaftsordnung“ (S.Gesell)

Kennzeichnende Gemeinsamkeit für die gefährlichen Ergüsse romantischer kapitalismuskritischer Gesellschaftsentwürfe ist der positive Bezug auf die konkrete Seite der Gesellschaft und die Feindseligkeit gegenüber der nicht fassbaren abstrakten Seite.

Thomas Morus, ein Humanist der englischen Renaissance, hat Anfang des 16. Jahrhunderts ein literarisches Büchlein namens „Utopia“ verfasst, in dem er seine Utopie auf einer Insel wirklich werden lässt. In Utopia gibt es kein Geld, dafür täglich sechs Stunden Arbeitspflicht auf der Basis familiärer Wirtschaft für alle. In der DDR galt dieses Buch als „eines der edelsten Werke des utopischen Sozialismus“ (Reclam Leipzig 1976).

Der französische anarchistische Philosoph Proudhon hat einen ähnlichen Utopieentwurf wissenschaftlich fundiert. Er stellte der Arbeit den wuchernden Zins und das Geld gegenüber. Die Arbeit als konkrete Tätigkeit sollte gerecht nach der für sie verbrauchten Zeit bewertet werden und dem Menschen, der diese Arbeit vollbracht hat, von der Volksbank entlohnt werden. Dieser für Proudhon gerechte Austausch bedeutet zu Ende gedacht: wer am meisten rackert, bekommt am meisten Gegenleistungen. Auch diese Gesellschaftsform verspricht den Zwang zu arbeiten.

Silvio Gesell hat Anfang des 20.Jh. diese Theorie in seinem Buch „Natürliche Wirtschaftsordnung“ fortgesetzt. Auch er versucht die Antinomie zwischen konkreter und abstrakter Seite des Kapitalverhältnis einseitig Richtung konkrete Seite aufzulösen. Der Zins teilt seines Erachtens die Gesellschaft in Lasttiere und Nutznießer. Dabei fällt dem Schmarotzer der Gewinn zu, währenddessen in Gesells natürlicher Wirtschaftsordnung der Tüchtige der Gewinner ist. Schon im Buchtitel verdeutlicht sich, das die konkrete Seite als die natürliche aufgefasst wird. Der Kapitalismus wird biologisiert.

Ein jüngeres Beispiel ist Joseph Beuys. Dessen „ erweiterter Kunstbegriff“ bezieht sich „auf die radikale Neugestaltung aller Lebens- und Arbeitsfelder des Menschen“ und seine „Kreativität schlechthin“. Der Prozess des schaffenden Kapitals gilt J. Beuys als zu übertragendes Prinzip, welches ein „allgemeines Gestaltungsprinzip“ ist. „Ausgehend vom Ursprung der Gestaltung, der Fähigkeit (Produktivkraft), über ihren Einsatz in der Arbeit (Produktion) bis hin zu ihrem Ergebnis (die Produkte - im einzelnen und ihrem Zusammenhang im Ganzen)“ ergibt sich das „Vermögen des Menschen“. „Deutlich zeigt sich, dass in dieser Beschreibung nicht das Geld erscheint. [...] Von Demokratie kann nicht die Rede sein, solange rechtliche Vereinbarungen der Menschen untereinander durch die Macht des Geldes unterlaufen werden.“ [6]

Während die bürgerliche Ideologie das Abstrakte verteidigt (z.B. Geld und technischer Fortschritt)verteidigt die verkürzte Kapitalismuskritik die konkrete Seite (z.B. Arbeit und Natur [7] ), ohne damit aus der kapitalistischen Gesellschaft wirklich herauszuweisen.

Der Mensch versteht die Gesellschaft, in der er lebt. Soweit das geht. Denn das verdammte Kapital ist ein schwer durchschaubares Verhältnis und ich will es mit Marx kurz andeuten. „Kapital ist die unmittelbare Einheit von Produkt und Geld oder besser von Produktion und Zirkulation.“ [8] Eine Linke die nicht versucht Arbeit zu kritisieren, versucht die Produktion gegen die Zirkulation auszuspielen und verhärtet somit die konkrete Seite des Kapitalverhältnis zu etwas überhistorischem.

Der Kapitalismus sollte hingegen ,so gut wie möglich, in seiner Totalität und seinem historischen ‚Gewordensein’ kritisiert werden.

Nötig ist ein Kritikansatz der eine Unterscheidung zwischen dem trifft, was der Kapitalismus ist und wie er erscheint, der über die Unmittelbarkeit sinnlicher Erkenntnis hinausgeht. Ansonsten ergibt sich als Erklärung der Gesellschaft zwangsläufig eine Personifizierung oder Symbolisierung dessen, was nicht konkret erscheint. Womit wir wieder beim modernen Antisemitismus wären.

„Anschlag auf den Mammonismus“ (Horst Mahler / NPD)

Die abstrakte Seite des Kapitals, die als Geld erscheint, wird auf andere Subjekte projiziert. Diese Stigmatisierung rationalisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse oberflächlich. Der Antisemitismus kommt zwar im Zweifelsfall ohne Juden aus, das nicht reflektierende Subjekt im Kapitalismus aber nicht ohne strukturellen Antisemitismus. Und so muss beispielsweise das WTC und seine Insassen als Antisubjekt konstruiert werden, das jene bösen Macht symbolisiert, welche man täglich spürt. Diese Symbolisierung bzw. Personifizierung verdinglicht dann die destruktive Tendenz der irrationalen kapitalistischen Vergesellschaftung und erscheint als negatives Gegenüber der eigenen Identität.

Egal wem der Terror ausgeführt wurde, er war antisemitisch motiviert. Das WTC gilt als ‚Herz des Welthandels’ und ‚Sitz der Finanzoligarchie’.

Dem sogenannten gesunden Menschenverstand bleiben die Verhältnisse unbegriffen, weil er nicht erkennt, dass das fiktive Kapital lediglich die abstrakte Form der Verwertung ist. Das produktive Kapital erscheint in der Finanzspekulation nicht mehr. Die Spekulation auf zukünftigen Gewinn bringt dem Kreditgeber eine Vergütung des zukünftigen Mehrwerts. Das Kapital bewegt sich mehr und mehr von der Produktion weg und wird dem Verstand suspekt. Die Finanzoligarchen und Spekulanten erscheinen dann als jene Kapitalisten, die Willkür und Allmacht aus ihrem Zentrum New York walten lassen.

Das zweite Ziel der Angreifer war die Militärmacht USA und mit ihr Israel als „Sperrspitze des amerikanischen Imperialismus“. Der Antiamerikanismus und Antizionismus war ein Steckenpferd der antiimperialistischen Bewegungen [9] . Der bürgerliche Staat erscheint in deren Analyse nicht als idealer Gesamtkapitalist, der die Reproduktion des gesamten Kapitals organisiert, sondern als verlängerter Arm der Finanzoligarchie. Das weltpolitische Agieren Amerikas wird nicht mehr als eines im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse agierendes aufgefasst, sondern als das Böse an sich. Auch hier wird nicht zwischen Wesen und Erscheinung unterschieden, sondern das Erscheinen Amerikas auf der politischen Weltkarte zum Wesen des Kapitalismus überhaupt gemacht. Hier sei eingefügt, dass auch ein Agieren, welches den Feind nicht als kapitalistisch benennt, als verkürzt antikapitalistisch zu verstehen ist. Wenn z.B. der Anschlag wie in der Öffentlichkeit angenommen, von islamischen Fundamentalisten ausgeführt wurde, die nicht explizit den Kapitalismus, sondern Amerika und Israel angreifen wollten, dann ist das pure Verschwörungstheorie, welche die USA und Israel [10] zum Wesen des Bösen und Ursache des Leidens in der Welt machen. Auch hier gilt, dass Identität durch eine gegenübergestellt Nicht – Identität, der die negativen und undurchschaubaren Seiten der eigenen Gesellschaftlichkeit zugeschrieben werden, erzeugt wird. Das ist natürlich nicht reine Märchenerzählerei und fußt auf einer gewissen Faktizität, wie beispielsweise die wahrlich resolute Militärpräsenz der USA. Doch geht die Projektion über die Fakten hinaus, anstatt ihre Ursache zu beleuchten, und kommt gerade deswegen ohne eine Selbstreflexion aus. Die leidvollen Erfahrungen zurichtender abstrakter Gesellschaftlichkeit werden durch Schuldzuschreibungen auf den Gegenüber gespiegelt und damit verdinglicht [11] .

In der Theorie des Postkolonialismus [12] wurde das dialektische Identitätsmodel, welches den Zusammenhang zwischen identitärer Projektionen in den Köpfen der Subjekte und den Zwängen der politisch – ökonomischen Sphäre zur Grundlage hat (wobei die Ideologie nicht funktionelle Ableitung der Produktionsverhältnisse ist), durch dekonstruktivistische Beschreibungen ersetzt. Identitäten gelten im Dekonstruktivismus als zusammengesetzt und wechselbar. Während nationale Identitäten im dialektischen Identitätsmodel darüber erklärt werden, dass der Mensch als warentauschendenes Subjekt (Bourgeois) zugleich Staatsbürger (Citoyen) sein muss, um seine individuellen Rechte zu verwirklichen, erscheint die nationale Identifikation der Subjekte den postkolonialistischen Theoretikern als Ergebnis von national aufgeladenen Erzählungen. Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus sind in dieser Theorie historisch spezifische Formen des Diskurses, denen im gesellschaftlichen Gespräch entgegen gearbeitet werden muss. Hierbei besteht die Gefahr, dass kapitalistische Herrschaftsverhältnisse nicht als solche erkannt werden und nur historisch betrachtet werden. Ich will nicht die Bedeutung des gesellschaftlichen Diskurses als Willensbildung leugnen, doch Kritik, die nur den Diskurs im Visier hat, ist keine radikale Gesellschaftskritik. Eine Theorie des Diskurses, die nicht materiell geerdet ist, wird gegen Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus wie gegen Windmühlen kämpfen, weil die Theorie des Diskurses die Entstehung von Ideologie nicht nachvollzieht, indem sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in ihrer Totalität begreift und kritisiert. Dass das bürgerliche Subjekt gerade unter den sich verschärfenden gesellschaftlichen Bedingungen in verhärtete Projektionen und Identifikationen verfällt, vermag nur eine Theorie zu erklären, die zwischen Wesen und Erscheinung gesellschaftlicher Verhältnisse unterscheidet. Das gesellschaftliche Phänomen Nationalismus als durch den Diskurs entstanden zu erklären, erscheint mir gerade jetzt, in Anbetracht der gegenseitigen Schuldzuweisungen nach den Anschlägen, der patriotischen Aufladung und den Rufen nach einem starken Staat, unschlüssig. Hinter den Phänomenen verbirgt sich eine tieferliegende soziale Logik. Wird diese nicht mitgedacht, kann Ideologie nicht als Verdinglichung sozialer Verhältnisse gedacht werden.

„Ein Angriff auf die zivilisierte Welt“ (G.Schröder) und der Krieg gegen die „islamische Terrorbestie“ (Bild)

Die Reaktion der Menschen der westlichen Hemisphäre sind ebenso Projektionen, welche die Gefahr des grundsätzlich bösen Islams heraufbeschwört. Was die Erzählungen Hollywoods nicht leisteten, weil die Gefahr durch Außerirdische nur auf der Leinwand zustande kam, und wozu BSE und Kampfhunde nicht ausreichten, wird nun durch den Islam erfüllt. Die Gefahr von außen schafft wieder einen gemeinschaftlichen Ethos, in dem sogar ein „reinigendes Stahlgewitter“ (Ernst Jünger) beziehungsweise ein „heiliger Krieg der westlichen Zivilisation“ (US – Außenminister Powell) möglich scheint.

In der Angst vor dem Islam verbinden sich rassistischen Ressentiments mit antisemitische Verschwörungselementen. Einerseits gilt die islamische Welt als barbarisch, andererseits gelten ihre fundamentalen Kräfte als subtile Kraft, derer man sich nicht mit herkömmlichen Mitteln erwähren kann. Die Möglichkeit eines tapferen Krieges gegen diese Macht scheint nicht gegeben, da die Gegner mit gewiefter Taktik vorgehen. Die Angst vor dem unsichtbaren Feind, der überall lauert, scheint nur durch ein enges Zusammenrücken der westlichen Gemeinschaft, welches den Feinden die Integration unmöglich macht, überwindbar zu sein. Die multikulturelle Stimmung des letzten Sommers schwindet, der geforderte ‚Wille zur Integration’ wird obsolet, waren es doch wahrscheinlich genau jene ‚Ausländer’, die diesen Willen vorgetäuscht haben und in Deutschland das Einmaleins für ihre Terrortaten erlernt haben und aus den Tiefen des Frankfurter Finanzdschungels sogar den Profit aus ihren Taten geschlagen haben. Der Ruf nach Homogenität der Gemeinschaft durch Überwachungsapparate zeigt die unbedingte Identifikation des hiesigen Menschen mit Nation, Staat und Wirtschaftsordnung, anstatt genau diese als Ursache solcher Feindseeligkeiten zwischen Menschen zu hinterfragen.

Die gezeigte Trauer ist auch die Angst vor der dahingehenden Ordnung und entlädt sich im Gemeinschaftstaumel und dem Wunsch nach Vernichtung ‚des Bösen’. Die kapitalistische Weltgesellschaft wird so zur Barbarei. Die innere Logik des Kapitalismus wird zur Unlogik menschlichen Denkens, weil die Verhältnisse verschleiert bleiben. Rationalität schlägt in Irrationalität um.

Für eine emanzipatorische Linke gilt normalerweise, anstatt der Verteidigung eines Lagers, die Kritik der kapitalistischen Totalität. Gegen eine antiamerikanische und antisemitische Linke bedarf es allerdings der Verteidigung Amerikas und Israels! Dabei muss gleichzeitig die Einbindung Deutschlands in das westliche Bündnissystem in Angesicht deutscher Geschichte zwingend verteidigt werden. Den proamerikanischen Bekundungen der deutschen Zivilgesellschaft in den letzten Wochen steht eine latent antiamerikanische Stimmung der deutschen Gemeinschaft gegenüber. Diese Stimmung wird nach der Trauer zu Wort kommen und es wird dann offen gegen die USA gewettert werden, wenn diese einen Militärschlag größeren Ausmaßes vornehmen. Diese Stimmung wird gefährlich reaktionär werden und bereitet mir Angst.

Reflexion statt Spektakel

„Theorie erklärt wesentlich den Gang der Verhältnisse [...] Solange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.“ [13] Die Möglichkeit zur Überwindung der logischen Weltgeschichte bleib bei aller kritischen Theorie ungewiss. Eine Linke aber, die angesichts der einstürzenden Türme in puren Zynismus verfällt, ist entweder in der Gesellschaft des Spektakels befangen, oder glaubt nicht an die eigene Kritik. Eine Linke hingegen, die durch Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse und in Anbetracht der Anschläge leidet, vermag zwar keine Anweisung zum praktischen Handeln geben, erkennt aber zumindest das Ausmaß der katastrophalen Verhältnisse und damit die Notwendigkeit ihrer Überwindung.

Hannes

*********

Ein texanischer Cowboy als apokalyptischer Reiter
oder warum deutsche Linke, fast emotionslos, alles täglich neu erklären können

„Wer aber davon ausgeht, dass der Antisemitismus keineswegs ein beliebiges Vorurteil, sondern ein besonders gefährliches ideologisches Produkt der warenproduzierenden Gesellschaft ist und insbesondere ein Kernstück der deutschen Ideologie, der wird bei der Betrachtung keiner Theorie, von wem auch immer sie stammt, von ihm einfach absehen können - auch, ja gerade dann, wenn von ihm nicht die Rede ist; der wird die Theorien der Linken und die verschiedenen marxistischen Ansätze immer auch nach einer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus befragen - und das Spektrum der Auseinandersetzung reicht von der offenen und versteckten Anpassung bis zu bestimmter Negation.“

(Gerhard Scheit in „Ihr seid die anderen“ literatur konkret 1998; S. 5)

„In gewissem Sinne ist alles Wahrnehmen Projizieren. Die Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der Absicht des Objekts. Projektion ist im Menschen automatisiert wie andere Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden. So konstituiert sich eine gegenständliche Welt, als Produkt jener verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wirr der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden « (Kant). Das System der Dinge, das feste Universum, von dem die Wissenschaft bloß den abstrakten Ausdruck bildet, ist, wenn man die kantische Erkenntniskritik anthropologisch wendet, das bewusstlos zustande gekommene Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen Projektion. In der menschlichen Gesellschaft aber, wo mit der Herausbildung des Individuums das affektive wie das intellektuelle Leben sich differenziert, bedarf der Einzelne steigender Kontrolle der Projektion, er muss sie zugleich verfeinern und hemmen lernen. Indem er unter ökonomischen Zwang zwischen fremden und eigenen Gedanken und Gefühlen unterscheiden lernt, entsteht der Unterschied zwischen außen und innen, Die Möglichkeit von Distanzierung und Identifikation, das Selbstbewusstsein und das Gewissen.“ (Adorno/Horkheimer in Dialektik der Aufklärung - Elemente des Antisemitismus; im folgenden mit DA genannt)

„Bringt mir den Kopf von George W. Bush jr.!“, so stand es wochenlang an einem öffentlichen Gebäude in Leipzigs Süden. Dies lange bevor der so zur Feme Freigegebene auch nur eine, nach den antisemitischen Anschlägen von New York und Washington nachvollziehbare, reaktionäre Erklärung abgeben konnte. Was zur Zeit der Anbringung jenes Schriftzuges manchen nur als scheinbar pointierte Überzeichnung einer per se gerechtfertigten radikalen Kritik vorgekommen sein mag, ist mittlerweile fast signifikant für eine in „Der Linken“ festzustellende Besinnungslosigkeit, die nicht nur um deren Zustand Angst machen könnte. So scheint es nicht verwunderlich, wenn im Angesicht der barbarischen Akte vom 11. September 2001 linke Statements fast ausnahmslos - nach zugegeben recht oberflächlicher, weil schneller Suche seien nur die Redaktion der Zeitschrift bahamas („Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mšrder!“)und JungdemokratInnen/Junge Linke („Wir empfinden große Trauer und Mitgefühl gegenüber dem unvorstellbaren Leid der Opfer und Angehörigen dieser Terroranschläge.“) als wohltuende Ausnahmen festzustellen - zwar auch mit irgendeiner Betroffenheitsfloskel beginnen, welche um so öfter ausgespart bleibt, um sofort mit dem ABER... fortzufahren, welches nicht nur über eine dem Schwarzbuch des Kapitalismus ähnelnde Aufzählung von „Verbrechen“ desselben, die Tat nachträglich legitimiert, dem antisemitischen Kollektiv der Attentäter noch Bewunderung („Wer immer der Urheber war, er muss über erstaunliche planerische, logistische und militärische Kapazität verfügen.“ ein Michael Stötzel in WoZ-Online), sondern auch als reflexionslose Ausschaltung jeglicher, aus einem nur noch rudimentären, „identische(n) Ich“ (Adorno) kommenden Emotion, erscheint, weil die sich nicht mehr artikulieren könnenden Opfer, die Menschen in den zerstörten Gebäuden und die in den gekaperten Flugzeugen, hinter denen, ihre Stellvertretung wahrnehmenden, als Regierung der USA, zum Verschwinden verurteilt wird.

„In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. (...) Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit zur Versöhnung sich an“. (Adorno/Horkheimer in DA)

In Bezug auf jene Stellvertretung, deren Anspruch zwar einzig durch politische Repräsentanz legitimiert scheint, wird dieser mit der Opferrolle, aus einem ideologisch verbrämten, unter veränderlichen Bedingungen, partiell nachvollziehbaren Kritikbedürfnis, das abgesprochen, wozu man selber nicht mehr fähig ist, getroffen, gar betroffen zu sein.

Aber bereits in der reduzierten Zuordnung als Stellvertretung wird die, in der Tat verifizierbare Motivation, Identifikation der Täter negiert, unabhängig, wie sich unmittelbar Unbetroffene, Über die Täter, fast als ebensolche, aber durch das Geschehen mit anvisierter und so mitgetroffene, so in selbiger Motivation erklären: Der große Satan (USA).

Dialektisch geschult, werden sie aus der Opferrolle herausgedeutet, und in ihrer, außerhalb des Geschehenen, vielschichtigen Beziehungshaftigkeit rational abgehandelt, um sie in einem nächsten vermeintlich denkenden Schritt zu den eigentlichen Selbst_tern zu stilisieren. Fast so, als wären Bush und seine Crew nur zu feige sich selbst zu Opfern, so, als wäre ihnen vorzuwerfen, das sie nicht selber in den zerstörten Gebäuden/Flugzeugen saßen. Als gelte es nicht zu erschrecken vor der, in den zerstörten Symbolen des Finanzkapitals, sowie den vernichteten Menschen, verifizierbaren antisemitischen Motivation der Tat.

Die Frage ist zu stellen, ob es sich bei solcher indifferenten Wahrnahme tatsächlich um einen Ausfall von Reflexion, in der, siehe oben, natürlichen menschlichen Projektion handelt.

"... das Wahrnehmungsbild enthält in der Tat Begriffe und Urteile. Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muss. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muss das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläst: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es Konstituiert damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt.“ (Adorno/Horkheimer in DA)

Dann verschwinden, und nicht nur unter den Trümmern der eingestürzten Gebäude und Türme, die Opfer schon ein zweites mal, und mit ihnen auch fast jegliche Empathie zu irgendetwas mit ihnen in Beziehung stehendes, nämlich die konkrete Tat, welches sich als verrückte Illusion der Entmenschlichung äußert: ein objektiviertes Geschehen. Die Tat wird zur motivlosen, und die verschwundenen Opfer, samt den über und mit ihnen zerstörten Gebäuden und Türmen, so zur Ausgeburt des Bösen an sich, welchen geradehin noch die genannte, verkürzte Betroffenheit, ansonsten aber die geistlos zugeschriebene, gleiche „unangekränkelte Gewissheit“ (Adorno/Horkheimer) auferlegt wird, wie es den Tätern und ihrer Gemeinschaft, zu eigen scheint. So verbandeln sich in jener, als radikale Kritik daherkommenden Indifferenz, die Täter und deren linke Apologeten, was sich dann tatsächlich, im Ruf zum Schutz der Täter und der ihnen zugeordneten Community, um letztere soll es aber alleinig gehen, als hehre Warnung vor aufkommendem konkreten Rassismus, codiert, als wäre jener nicht so wie so die alltägliche Gegebenheit in der ganzen weiten Welt des Kapitals, ein ansonsten permanentes linkes Postulat, das einer erinnerungslosen Verdrängung unterlieget.

„Wo immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draußen konzentriert sind, also überall, wo es ums Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven Überwältigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung sich vergeistigt haben, wird in der Schematisieren leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als Sache selbst gesetzt. Das vergegenständlichte Denken enthält wie das kranke die Willkür des der Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergisst die Sache und tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die später in der Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst.“ (Adorno/Horkheimer in DA)

Andreas

(Alle Zitate aus DIALEKTIK DER AUFKL€RUNG -Elemente des Antisemitismus, beziehen sich auf Theodor W. Adorno „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“ - Ein philosophisches Lesebuch ; Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main; S. 433 ff. / ansonsten mit den aufgeführten Quellenangaben)

Fortsetzung folgt

*********

Kapitalismuskritik statt "klammheimliche Freude"!
Der Anschlag auf das WTC, die Linke und die Notwendigkeit kritischer Gesellschaftstheorie

Warum über den Anschlag vom 11.September weder offene noch klammheimliche Freude angebracht ist

Von Martin D.

Ich meine nämlich, Gut und Böse entscheiden sich nicht im Verkehr der Menschen untereinander , sondern ausschließlich im Umgang des Menschen mit sich selbst.

Jakob Wassermann, Der Fall Mauritius

1) Der 11.September und die Reaktion der Linken

Die Reaktionen der (radikalen) Linken auf die islamistischen Terroranschläge in den USA sind schier haarsträubend .Es wird einmal mehr erkennbar, daß es so etwas wie ein kritisches linkes Bewußtsein kaum noch gibt. Gerade in dieser Situation, in der deutlich wird, daß es einer marxistischen Analyse bedürfte, einer theoretisch fitten Linken, die Weg und Ziel aus dem kapitalistischen System herausweist, ist das besonders übel. Das Spektrum der Reaktionen reicht von offener Sympathie bis zu einer "klammheimlichen Freude" mit dem menschenverachtenden Terror. Es wäre doch gut, daß "die Amis auch mal eins aufs Dach kriegen", sagen einige.

Es ist wichtig, zu klären, warum zwischen jeder Art von heimlicher/ offener Freude und einer kritischen Analyse Welten liegen. Der Gegensatz zwischen beiden macht den Unterschied ums Ganze aus.

Warum empfinden manche Linke überhaupt Sympathie mit diesem Wahnsinn? Die linke Denkweise ist bei den meisten, die sie vertreten, dermaßen auf den Hund gekommen, daß es keine wirkliche Kritik am Kapitalismus mehr gibt. Dabei hielt sich bei den Meisten eine gewisse diffuse antikapitalistische Stimmung (durchaus nicht nur bei Linken - sondern gerade heute angesichts offenkundiger Unhaltbarkeit des Kapitalismus zunehmend in anderen gesellschaftlichen Strömungen). Dieser Antikapitalismus richtet sich jedoch nicht gegen den Kern des Kapitalismus, die warenproduzierend-patriarchale (Scholz) Verfaßtheit der Gesellschaft. Sie richtet sich gegen bestimmte Erscheinungen des Kapitalismus, die als besonders typisch für ihn gelten. Als Inbegriff des Bösen wird bei vielen der theoretisch dermaßen abgerüsteten und heruntergekommenen Linken seit je die USA gesehen. Sie würde die kapitalistische Weltwirtschaft steuern, weltweit Kriege anzetteln, um an ihnen zu profitieren. Einfache Wahrheiten - wie z.B. die, das kein kapitalistischer Staat am Krieg profitiert (was nicht heißt, daß einzelne Unternehmen nicht daran profitieren - aber der Staat ist eben nicht einfach nur "das Kapital"), selbst der Kolonialismus zu seinen bestenZeiten allenfalls ein Nullsummenspiel war (was keine Relativierung seiner Grausamkeit sein soll)- zählen da nicht viel. Vor diesem Hintergrund muß es einem freilich erfreulich erscheinen, wenn diese ach so bitterbösen Amis auch mal was abkriegen. Das diese Art von "Linken" diese Denkweise mit großen Teilen der Rechten und der politischen "Mitte" teilen, sollte sie bedenklich stimmen. Tut es aber leider nicht.

2) Öffentliche Trauer, Zivilgesellschaft und die Notwendigkeit von Kritik

In der Öffentlichkeit (auch in der BRD) wird aktuell berechtigterweise Trauer gezeigt. Daher sprechen einige Linke von einer pro-amerikanischen Zivilgesellschaft. Es ist also (scheinbar) die Mehrheit in Deutschland, die Trauer zeigt. Mag sein, daß die trauernden BürgerInnen nicht übermäßig sympathisch sind, die jetzt allerorten Schweigeminuten durchführen. Gegen den menschenverachtenden "linken" Zynismus ist diese bürgerliche Zivilgesellschaft aber allemal zu verteidigen.

Bei diesem Anschlag kamen mehr als 6000 Menschen um. Wem dazu nicht mehr einfällt, als daß am Kapitalismus täglich soundsoviele Menschen sterben, hat im besten Fall nichts begriffen. Spricht das etwa gegen die Trauer bezüglich dieses fanatischen Anschlags? Und was hat der Anschlag auf das WTC bitteschön mit Menschen zutun, die am Kapitalismus verrecken (was ja zweifelsohne stimmt). Sie sterben am Kapitalismus - sehr richtig - aber eben verdammtnochmal nicht an den USA.

3) Die Krise der Weltökonomie

Angst vor der Krise und das Hauptdefizit der Linken Was viele "Linke" nicht im Ansatz schnallen, ist der existentielle Charakter von Krise des kapitalistischen Systems, der zunehmend zutage tritt. Was mich überkam, nachdem ich die Schreckensmeldungen aus New York hörte, war neben einer absoluten Fassungslosigkeit über diesen hervorbrechenden Wahnsinn die nackte Angst. Zu welchen Konsequenzen führt das? Wie wird die Welt der nächste Tage, Wochen, Monate aussehen?

Welche Mißverständnisse gibt es über die Krise? Wenn ich hier von Krise, bzw. genauer, von der finalen Krise des kapitalistischen Systems spreche, so meine ich damit nicht, daß mit dem Anschlag plötzlich das Licht ausgeht. Mit Krise vielmehr ist gemeint, daß der Kapitalismus langsam »ausbrennt«. Das passiert, weil ihm seine Substanz, die Arbeit, allmählich verlustig geht. Krise ist also nicht als lauter Knall, sondern als permanente Abwärtskurve zu verstehen. Diese kann dabei durchaus von kurzfristigen Aufwärtsbewegungen unterbrochen sein. Der traditionelle Marxismus erklärte sich kapitalistische Krisen als Überakkumulations - bzw. Unterkonsumtionskrisen: das heißt: sie brechen hervor, weil es auf dem Markt zuviele Waren, bzw. (was aufs Gleiche hinausläuft): zuwenig Käufer gibt. Diese Betrachtungsweise geht jedoch nicht an die Wurzel des Problems. Sie gaukelt uns vor, es könnte eine Lösung innerhalb des kapitalistischen Wachstumswahnsinns geben. Auf diese Weise wird geglaubt, man könnte durch staatliche Steuerung der Produktion bzw. des Konsums den Kapitalismus rational gestalten und in geordnete Bahnen lenken. Das war Kern der "sozialistischen Ökonomie": die Anwendung des Wertgesetzes. Aber rationalisierter Wahnsinn bleibt Wahnsinn, oder besser: wird gesteigerter Wahnsinn. Stalin läßt grüßen.

Warum ist Arbeit der Kern des Kapitalismus? Wenn ich hier von Krise spreche, meine ich dabei eine Entwicklung, aus der es kein kapitalistisches (auch nicht in Form einer staatskapitalistisch-sozialistischen "Diktatur") Entrinnen geben kann. Der amerikanische Marxist Moishe Postone analysierte in seinem Buch "Time, Labour and social domination" die Arbeit als die Substanz des Kapitalismus. Kapital selbst ist tote, also angehäufte, vergegenständlichte, (wie Marx sagt: akkumulierte) Arbeit. Aller Reichtum in Form von Waren, Produktionsmitteln, Wissen ... der uns umgibt, ist angehäufte Arbeit. Kapitalismus ist somit immer Arbeitsgesellschaft und nur er ist Arbeitsgesellschaft. Die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit ist die Durchsetzung des Kapitalismus. Nur der kapitalistische Mensch ist ein Arbeitstier.

Was sind die Selbstwidersprüche des Kapitalismus? Das große Problem des Kapitalismus' ist, daß er sich selbst zerstört, indem er die Arbeit abschafft. Jeder Kapitalist ist bei Strafe seines Untergangs dazu gezwungen, Arbeitskräfte einzusparen. Dazu setzt er beständig neue und bessere Maschinerie ein und entläßt Arbeitskräfte. Für ihn selbst ist das gut - er kann seine Produkte billig herstellen - macht also mehr Profit. Fatal hingegen ist es für das kapitalistische System als Ganzes. Ihm geht damit die Arbeit aus. Dieser Prozeß kann als Entwicklung der Selbstwidersprüche des Kapitalismus bezeichnet werden. Kapitalismus lebt von Arbeit und schafft sie aufgrund seiner ihm eigenen Rationalisierungsdynamik ab. Seine jüngste Entwicklungsgeschichte zeigt, daß er sich dabei mittels des Konzeptes der Dienstleistungsgesellschaft über sein eigenes Ende hinaus verlängern will. Aber keine kapitalistische Gesellschaft kann davon leben, daß sie Menschen damit beschäftigt, sich gegenseitig Dienste anzubieten.

Kapitalismus benötigt, um bestehen zu können, weiterhin eine funktionierende Infrastruktur. Eine laufende kapitalistische Produktion braucht Armee, Polizei, Energie, ein Straßennetz, Internet, Bildung, soziale Versorgung, ökologische Sanierung, einen juristischen Überbau, der über die Einhaltung des Rechts auf Eigentum wacht. Diese Grundlagen dürfen selbst nicht nach der betriebwirtschaftlichen Logik organisiert werden. Kein kapitalistischer Staat könnte es sich auf Dauer leisten, z.B. sein Sicherheitssystem nach betriebswirtschaftlicher Logik zu gestalten. Das würde im Kern bedeuten, daß es keins gäbe, wenn es sich profitmäßig nicht mehr lohnt. Aber gerade jene überlebensnotwenigen Maßnahmen werden mit dem "Neoliberalismus" privatisiert - weil sie sich kein Staat mehr finanziell leisten kann. Wir sehen das in der Privatisierung der Bildung, der Bahn, der Sicherheit (private Sicherheitstrupps). All das entgleitet der gesamtgesellschaftlich-staatlichen Kontrolle immer mehr.

Problem: die Kosten für die Bedingungen einer gutgehenden kapitalistischen Verwertung sind mit der mikroelektronischen Revolution ins überdimensionale gewachsen. Ebenso die notwendigen ökologisch-sozialen Folgekosten. Immer mehr Menschen fallen aufgrund der Rationalisierung aus dem Verwertungsprozeß heraus. Immer größer wewird die ökologische Zerstörung durch den immer weiter wachsenden, Kapitalismus. Produktion schälgt mehr und mehr in Destruktion von Mensch und Natur um. Um das auszugleichen wären immense Geldmengen erforlich. Kein kapitalsitischer Staat der Welt kann das noch finanzieren. Kapitalismus wird nach eigenen Kriterien unrentabel.

An sich ist es freilich gar nicht fatal: denn es gibt den Menschen die Möglichkeit, eine Gesellschaft ohne Arbeit (nicht ohne freiwillige und notwendige Tätigkeit!!!) aufzubauen. Fatal ist es für den Kapitalismus, der ohne Arbeit nicht sein kann. Seine Systemlogik besteht darin, Menschen arbeiten zu lassen, ihnen dafür Lohn zu geben (also Geld), mit dem sie sich dann Waren kaufen. Robert Kurz bezeichnet das in seinem "Schwarzbuch des Kapitalismus" als den unheilvollen Dreischritt von Arbeit, Geld und Ware, der die Welt ins kapitalistische Verderben reißt.

Was ist die Desintegration des kapitalistischen Weltsystems?

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist ein allmähliches Abflauen der innovativen Kraft des Kapitalismus. Dies muß nicht mit einer Abnahme der Produktion einhergehen. Zumindest nicht sofort. Entscheident ist, daß im Zuge dieses Prozesses die kapitalistischen Systeme zunehmend an Integrationskraft verlieren. Früher konnten in den westlichen Metropolen große Teile der Arbeiterklasse mittels Beschäftigung in gutbezahlten, abgesicherten Jobs, Arbeitslosengeld oder immerhin Sozialkohle eingegliedert werden. Dazu ist der kapitalistische Staat heute nicht mehr in der Lage (und auch weniger Willens - was aber nicht das Entscheidende ist). Ähnlich sah es weltpolitisch aus. Die südlichen Länder hießen "Entwicklungsländer". Das heißt, sie selbst und andere gaben ihnen die Aussicht sich zu entwickeln - also auf westliches Niveau zu kommen - wenigstens der Tendenz nach. Heute wird zunehmend klar, daß dieses Niveau niemals auch nur annäherungsweise erreicht werden kann. Vielmehr werden die "unterentwickelten" Länder vom Weltmarkt abgekoppelt und sich selbst überlassen.

Das Abflauen der Innovationskraft des Kapitalismus führt zu einer gesellschaftlichen Desintegration. In deren Folge drohen bisher sich nach Systemkriterien rational verhaltende Menschen "auszuticken". Durchgeknallte Irre, die z.B. ins WTC rasen, werden immer wahrscheinlicher und möglicher. Keine Verschärfung von Sicherheitssystemen kann daran langfristig was ändern. Im Gegenteil: denn - wie oben festgestellt, beschleunigen die immer höheren Kosten einer funktionierenden Verwertung ihre Auflösung.

Was meint Befriedungsimperialismus?

Im Zuge der oben skizzierten Krise der Weltökonomie beginnt das kapitalistische System vor allem an seinen Rändern sich aufzulösen. Beobachtbar ist dieser Prozeß in den "Entwicklungsländern" des Südens ebenso wie in Osteuropa. Auf das Zerknallen von Staaten - das drastischeste Beispiel bot 1994 Burundi - reagieren die westlichen Länder unterschiedlich. Im Falle von Afghanistan gab es lange Zeit keinen Eingriff. Anders in Jugoslawien. Eingriffe von westlicher Seite werden eher dann durchgeführt, wenn aus dem Niedergang des betreffenden Staates eine reale Gefahr für den Fortgang der kapitalistischen Verwertung erwächst. Kriege können heute nicht mehr als ein Mittel der Bereicherung, der Befriedigung einer "Profitgier" oder als Durchsetzung bestimmter Interessen betrachtet werden. Mit Robert Kurz könnte man stattdessen von einem "Befriedungsimperialismus" sprechen. Die führenden kapitalistischen Mächte zetteln also nicht Kriege an, sondern versuchen gerade Konflikte zu deckeln, sozusagen: Ruhe reinzubringen. Heutige militärische Intervetionen stehen also für eine völig neue Art von Krieg. Dieser bringt finanziell keinem was ein. Seine Kosten hingegen sind unermäßlich. Sein Beginn wird immer neue Konfikte nach sich ziehen.

Die Ursachen dafür sind in der Krise der Weltökonomie zu suchen. Diese ermöglicht und garantiert auf absehbare Zeit die Integration eines Großteils der auf der Erde lebenden Menschen nicht mehr. Diese müssen also - gemäß kapitalistischer Logik (!!!) entweder ruhiggestellt oder beiseitegeräumt werden - also Zuckerbrot oder Peitsche.

4) Die Ganzheit des Kapitalismus

Warum spiegeln die Anschläge dem Kapitalismus sein eigenes Wesen vor?

Im angeblich von außen als bedrohliche Macht heranstürmenden Islam (der scheinbar völlig anderen, fremden, unverstehbaren Welt) tritt dem Westen - ohne daß er sich dessen bewußt wird - seine eigene Fratze entgegen. Was ihm gegenüber in Gestalt durchgeknallter Attentäter hervorkommt ist in Wahrheit sein eigenes Ende. Sein Feldzug gegen den islamischen Fundamentalismus ist ein unabsehbarer Krieg gegen sich selbst. Das Austicken islamischer Fundis wird vom kapitalistischen System als ganzes geschaffen. Das Fremde erweist sich einmal mehr als fremd, weil es der ureigenste Teil des eigenen Selbst ist. Das Austicken der Islamisten ist die von der westlichen Zivilsation selbst hervorgebrachte Krise des Kapitalismus und des rational handelnden Subjekts. Keine unverständliche fremde Kultur, sondern der "Wahnsinn der" eigenen "Vernunft" (Gruen) klopft ihnen an die Haustür.

Was ist die Ganzheit des Kapitalismus? 

Ebenso muß betont werden, daßUsama bin Laden oder wer auch immer nicht für Vorkapitalismus oder Vormoderne gelten darf. Ebensowenig dürfen die USA oder NY bzw. das WTC für den Kapitalismus selbst gehalten werden. Die Terrorpiloten flatterten eben nicht mit orientalischen Teppichen in das WTC, sondern mit hochmodernen high-tech-gesteuerten Düsenjets (vgl. Ralf:CI 81).Das durchschnittslinke Denken hält die USA, besonders das dortige "Establishment" für den fleischgewordenen Kapitalismus. Aber das Kapital ist gerade ein abstraktes Verhältis. Typisch für den Kapitalismus ist, daß es sich bei ihm um eine "subjektlose Herrschaft" (Kurz) handelt. Das heißt: keine Personen sind direkt für ihn verantwortlich. Alle an ihm Beteiligten müssen sich bei Strafe ihres Untergangs so verhalten, wie sie es eben tun. Kein Manager ist ein böser Mensch, weil er seinen Betrieb durchrationalisiert. Er tut das, weil ihm das die betriebswirtschaftliche Logik vorschreibt. Das mag kritikwürdig sein. Aber: die Kritik muß sich dann eben gegen die gesamte betriebswirtschaftliche Logik, gegen das gesamte weltweite kapitalistische System richten und nicht gegen einzelne Vertreter dieses Systems.

Die Taliban als ausflippender Brutal-Kapitalismus 

Der Anschlag auf das WTC war kein antikapitalistischer Akt, sondern gerade einer, des ins ultrabrutale gesteigerten und seinen eigenen Bahnen entglittenen kapitalistischen Wahnsinns. Die Terrorpiloten kamen nicht aus irgendwelchen vorkapitalistischen Bereichen der Welt. Solche gibt es nämlich nicht. Sie kamen mitten aus einer vom Kapitalverhältnis beherrschten Welt. Die Taliban und Ussama bin Laden stehen so für Kapitalismus wie Manhattan, WTC und die Wallstreet. Einerseits weil ihre quasi-archaischen Verhältnisse Teil des kapitalistischen Ganzen sind. Andererseits weil sie mit ihren hochqualifizierten Todespiloten völlig an der westlichen Zivilisiertheit teilhaben. Sie sind Teil des Ganzen - nicht sein Gegensatz.

Dennoch müssen Usama bin Laden und seine Taliban-Milizen mehr ein Gegner der Linken sein, als etwa die USA. Entgegen jenen quasi-archaischen Herrschaftsformen steht die westliche Gesellschaft immerhin noch für ein Mindestmaß an demokratischen zivilisatorischen Standarts ein. Das diese im Kapitalismus auf die weitestentwickeltsten Länder beschränkt bleiben, ist zurecht Gegenstand linker Kritik. Ebenso steht zu befürchten, das auch diese Standarts im Zuge der globalen Krise des kapitalistischen Systems (oft als "Globalisierung" fehlgedeutet...) plattgemacht werden. Aber: wer allen Ernstes offen oder "klammheimlich" bin Laden/ die Taliban gegen die USA verteidigt, stellt sich auf die Seite jener, die schon jetzt und gänzlich ohne Zwang zivilisatorische Grundstandarts schleifen. Wer an dieser Stelle stutzt, die oder der überlege sich bitte, was man in Afghanistan alles so (nicht) tun und lassen darf. Die Durchsetzung westlicher Standarts z.B. in Afghanistan oder im Irak steht demzufolge auch für die Möglichkeit einer linken Emanzipation vom Kapitalismus.

Hierbei ist nochmals auf eine häufige Argumentation zurückzukommen. Einige fragen: warum das Entsetzen über den Anschlag, wenn doch täglich am Kapitalismus soviele Menschen zugrunde gehen? Klar: Der Kapitalismus ist und war stets brutal und mörderisch. Moralisch gibt es tatsächlich keine Unterscheidung zwischen den Toten in WTC und Pentagon unddenen die in den südlichen, östlichen und zunehmend auch westlichen Ländern der Welt kaputtgehen. Aber wer so argumetiert, sollte sich vergegenwärtigen, daß nach dieser Argumentation auch wirklich kein Unterschied gemacht werden darf. Der Anschlag bliebe also auf das entschiedenste zu verurteilen. Moralisch ist bereits der Tod eines Menschen unendliches Leid.

Der Anschläg steht aber nicht für "normales" kapitalistisches Funktionieren, sondern für ein reines Morden um des Mordens willen. Ebenso sehen die Verhältnisse im Taliban-Afghanistan aus: ein grausiges, sinnloses Morden an der Zivilbevölkerung, besonders Frauen. Ich wies oben bereits darauf hin: ins ultrabrutale gesteigerter Vernichtungswahn. Das funktionale Morden wird zum Morden als Selbstzweck. Aus diesem Grunde bleibt zumindest mir jede "Klammheimlichkeit" bitter im Halse stecken.

Allen kann es besser gehen 

Kapitalismus ist nur als Ganzes kritisierbar. Jeder Haß auf Teilaspekte droht unvermittelt in Brutalität umzuschlagen. Sowas führt zu Personifizierung kapitalistischer Brutalität: für den unmenschlichen Charakter des kapitalistischen Systems müssen bestimmte Menschen büßen. "Als Strafe" für seine Unmenschlichkeit werden sie zu Unmenschen erklärt. Dementgegen muß das Kapitalverhältnis mit seinem umfassenden Charakter Gegenstand linker Kritik sein. Nicht die USA. Daß das Kapitalverhältnis Menschen und die Umwelt zerstört, daran ist niemand in den USA oder im WTC schuldiger als jemand in Deutschland oder in Afghanistan. Allein der Umstand, daß es manchen Menschen im Kapitalismus besser geht als anderen, rechtfertigt nicht die Analyse, daß jene, denen es gut geht, schuld dran sind, daß es ihnen so geht. Ebenso gings niemandem besser, wenns den Wenigen schlechter ginge. Sehr wohl aber könnte alles anders sein und es allen besser gehen. Dafür steht linke Kritik ein. Dafür stehen hingegen all jene NICHT ein, die am 11.9. klammheimliche Freude empfanden. Keine klammheimliche Freude weil "Bonzen" und "Spekulanten" angeblich verdienter Maßen endlich aufs was Dach kriegen, sondern Verhältnisse schaffen, in der alle Menschen tun können, was "Bonzen"und "Spekulanten" angeblich jetzt schon tun: Nichts. Für eine Welt der Bonzen!

Was ist die Dialektik der kapitalistischen Aufklärung/Vernunft? 

Nicht minder bedrohlich ist in der Situation nach dem Anschlag die Reaktion des Westens. In nicht minder wahnhafter Manier wird in den bürgerlichen medien und von der offiziellen Politik von "der westlichen Zivilisation" gefaselt, die jetzt im Kampf gegen "das Böse" zusammenrücken müsse. Es handle sich um einen Kampf des "Guten" gegen "das böse Prinzip" - um einen "Kampf der Kulturen" (Huntington). In maßloser Verblendung wird hier ein innerkapitalistischer - also innerzivilatorischer Widerspruch - auf ein böses äußeres Prinzip abgeleitet. Das zeigt, daß auch in den westlichen Demokratien weitaus weniger rationales Denken am Werk ist, als gemeinhin angenommen wird. Vielmehr ist auch die westliche Reaktion bereits ein Zeichen einer Krise des Bewußtseins. Das auf die Anschläge eben in keiner Weise rational und überdacht gehandelt wird steht zu befürchten.

"Hinter dem Ruf nach Frieden verbergen sich die Mörder" (bahamas) !? 

Auch Linke, die den antisemitischen Wahn der Terroristen klar erkennen, den Schutz des Einzelnen vor wahnsinnigen Kollektiven zurecht in den Mittelpunkt stellen und eindeutig sagen, daß mit jenen, die solchen Terror nicht verurteilen, keine Revo zu machen ist, versagen an diesem Punkt. So mutet uns die Redaktion der antideutschen Zeitschrift bahamas zu, in einer Veröffentlichung zu lesen, daß alle, die einen us-amerikanischen Gegenschlag nicht begrüßen, auf der Seite der Mörder stünden. Hier wird verkannt, daß sich auf westlicher Seite nicht minder fanatische Demokraten tummeln - stets bereit dazu, alles was sich der Gleichheit des Geldes und des Marktes scheinbar (wirklich tut es niemand) nicht unterwirft, zusammenzuknallen. Auch dabei wird man immer unkalkulierbarer, durchgeknallter und wahnhafter. Mag sein sein, daß bahamas von einer Neuauflage einer Anti-Hitler-Koalition träumt. Das ist ihnen vorzuhalten - nicht "Rassismus" - wie es einige immer tun. Leider nämlich würde es eine solche Koalition heute kaum noch geben.

5) Die Paralyse (=vollständige Lähmung!) der Linken und die Möglichkeiten ihrer Überwindung

Statt den Kapitalismus in NY zusehen (und im WTC seine Zentrale) oder mit mordenden Knallis klammheimliche Sympathie zu hegen, muß klar sein, daß nur eine radikale Kritik am Kapitalismus Linderung und Abhilfe aus der derzeitigen Situation schaffen kann. Das Entscheidende ist, daß die Linke ihrer theoretische Lähmung überwindet.

Martin


[1] Eigentlich sollte die Diskussion zum Thema verkürzte Kapitalismuskritik und Antisemitismus aus den neunziger Jahren in der Linken längst Standart sein. Anhand einiger Reaktionen auf die Anschläge und der Frechheit eines großen Teils der Globalisierungsgegner folgt in diesem Text eine verkürzte Wiedergabe der Entstehung von antisemitischer Ideologie. Weiter einführend zu empfehlen ist u.a. die dreiteilige Textserie zu Antisemitismus von der ANG – Leipzig (CeeIeh 47,49, 50) und ‚Nationalsozialismus und Antisemitismus’ von Moishe Postone

[2] Ähnlich der Zuschreibungen für Babylon

[3] In diesem Text wird auf eine genauere Erklärung der konkreten und abstrakten Seite des Kapitalverhältnisses verzichtet. Deutlicher beschrieben wird der Kapitalismus im Text von Martin hier in diesem Heft zum gleichen Thema.

[4] Die Linke stellt bis heute ‚den Kapitalisten’ auf ihren Plakaten gerne als strippenziehenden, blutsaugenden Spekulanten dar, wie es auf den Flyern der Karawane nach Köln (1999) der Fall war.

[5] In einem vom Leipziger OAP unterstützten Flugblatt heißt es: „Berlusconi ist als Regierungschef nicht nur der mächtigste Mann im Land. In ihm vereinigen sich Medienmacht und Kapital. [...] Der Traum von Stoiber, Berlusconi und Co ist das Wunscheuropa der Großkonzerne: Gänzlich und direkt kontrollierte Medien, das Ersticken allen Widerstandes, Überwachung und Bestrafung abweichenden Verhaltens, kontrollierte Migration nach den Maßgaben der Wirtschaft bei gleichzeitiger Abschottung gegen Flüchtlinge, gegebenenfalls Mobilisierung von ‚Volksgemeinschaften’, sprich der Solidarität der Beherrschten mit ihren Herrschenden im nationalen Rahmen.Die Offensivstrategie der reaktionärsten Politik- und Wirtschaftsführenden, ideologisch vorbereitet und flankiert von SchreibtischtäterInnen aus dem bürgerlichen Wissenschaftsapparat, mag uns wertkonservativ daherkommen, klerikal, nationalistisch oder sonst wie: Sie soll die Reduzierung der Menschen auf das Funktionieren am Markt vorantreiben.“ (Bundesweiter Mobilisierungsaufruf von organisierte autonomie (oa) Nürnberg gegen Berlusconi und den CSU-Parteitag am12./13.10.2001 in Nürnberg)

[6] alle Zitate aus: Organ des Erweiterten Kunstbegriffs für die Soziale Skulptur, Freie Internationale Universität, FIU – Verlag 1984

[7] Man denke nur an die Plakate der KPD in den Zwanzigern und diejenigen in der DDR, auf denen kräftige männliche Körper mit ihren Arbeitsgeräten im Schein der Sonne abgebildet sind. Analog zu diesem schaffenden Subjekt hat die autonome Bewegung den tapferen zwillenschießenden und molliwerfenden Kämpfer auf ihren Plakaten eingesetzt (das letzte Beispiel ist die erste Nummer der linken Zeitschrift „Phase 2“, in denen vorne der gute Kämpfer und auf den folgenden Seiten Menschmachinen zur Symbolisierung des Kapitalismus abgebildet sind. Das bedeutet wohl: Lebendigkeit vs. Technik)

[8] Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in MEW 42

[9] „Solidarität im Widerstand, gegen Imperialismus und Zionismus.“ (Motto zur Hafenstraßendemo vom 31.10.87 in Hamburg). „Boykottiert Israel! Waren, Kibbuzim und Strände. Für ein freies, selbstbestimmtes Palästina.“ (Parole am UZI in Göttingen, 1988)

[10] „Israel steckt seine imperialistischen Krakenarme in die islamische Welt.“ Aus einer Regierungszeitung der PLO

[11] Mehr zur Subjektkonstituierung durch Projektion steht im Text von Andreas.

[12] Kulturkritik die besonders im englischsprachigem Raum von der universitären Linken entwickelt wurde und z.B. von Diedrich Diederichsen in Deutschland aufgenommen wurde. Inhalte sind insbesondere die kritische Rassismus- und Genderforschung. (z.B.: Edward Said „Orientalismus“, Frantz Fanon „Die Verdammten dieser Erde“)

 [13] Max Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Institutes für Sozialforschung 1939 - 1942

Editoriale Anmerkung
Zu diesem Text erhielten wir das folgende Begleitschreiben:

Datum: Sat, 6 Oct 2001 18:10:16 +0200 (MEST)
Von:
hannes.post@gmx.de
An:
info@trend.partisan.net
Betreff:
Anschläge auf die USA


Dies ist ein Artikel (sie Anhang) der in der Leipziger Zeitschrift KlaroFix
abgedruckt wurde. Vielleicht findet er bei euch weiteren Platz.

Danke Hannes