Rudolf Hilferding und Das Finanzkapital 

von Reinhard Faltello und Miodrag Jovanovic
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Die Jahre vor dem 1. Weltkrieg waren eine Phase der kreativen Gärung sowohl unter russischen Emigranten als auch in den marxistischen Zirkeln in Wien und Berlin, in denen Rudolf Hilferding arbeitete. Diskutiert wurden unter anderem die jüngsten Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise und ihre theoretische Einschätzung. "Ideen lagen in der Luft, besonders über den Imperialismus, und ihre ursprünglichen Quellen sind schwer festzustellen."1 Hilferding entwickelte zwar kein geschlossenes oder definitives Konzept von Imperialismus, er leistete mit seiner Arbeit Das Finanzkapital2 aber einen ganz entschiedenen Beitrag zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie, einen Beitrag, auf den die spätere Positionsentwicklung aufbauen konnte.

Bezüglich Hilferding müssen wir die stalinistischen Versuche vermeiden, sämtliche seiner Beiträge auf seinen späteren reformistischen Opportunismus zu reduzieren, um die vermeintliche Unfehlbarkeit Lenins aufzuzeigen. Sowohl Lenin als auch Bucharin waren die ersten, die zugaben, daß ihre Arbeiten von Rudolf Hilferding beeinflußt waren. Auch um die Stärken und Schwächen der Ansätze der bolschewistischen Führer zu verstehen, ist es notwendig, den Charakter von Hilferdings Arbeit zu begreifen.

Hilferdings Finanzkapital wurde großteils um 1905 in Wien verfaßt, aber erst 1910 in Deutschland abgeschlossen und publiziert. Er beschäftigte sich darin mit den ökonomischen Veränderungen in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern. Er begann mit einer eher langwierigen, recht eigenwilligen und unverständlichen Behandlung der Geldtheorie, die wohl dazu beigetragen hat, daß seinem Werk lange von vielen mit einer Art respektvoller Ignoranz begegnet wurde.3 Und auch Lenin, der die Bedeutung der Arbeit Hilferdings sehr wohl erkannte, war der Ansicht, daß "der Autor in der Geldtheorie irrt"4 .

Der zweite Abschnitt widmte sich dem Aufstieg der Aktiengesellschaften und war eine der ersten umfassenden marxistischen Untersuchungen dieser Frage. Hilferding zeichnete heraus, wie Großaktionäre durch die Organisationsform der Aktiengesellschaft die Kontrolle über das Kapital vieler Kleinanleger bekommen und wie der Aufstieg der Aktiengesellschaften sowohl eine massive Konzentration von ökonomischer Macht als auch eine Konzentration in der Produktion bedeutet.

1. Kapitalkonzentration, Monopolisierung und Finanzkapital

Im dritten Abschnitt Das Finanzkapital und die Einschränkung der freien Konkurrenz erklärte er, wie die Prozesse der Konzentration und Zentralisation von Kapital, die Marx umrissen hatte, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fortschritten. Diese Prozesse verstärkten die ökonomische Vorherrschaft der großen Kartelle und Trusts, im Gegensatz zu den kleineren Unternehmen, die so typisch für das Zeitalter des freien Konkurrenzkapitalismus waren. Dies nannte Hilferding Monopolkapitalismus, eine neue Stufe in der Entwicklung des Kapitalismus.

Der Grund, warum dabei die Banken so beherrschend wurden, liegt in erster Linie an der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals hat die Umschlagzeit verlängert (d.h. jene Zeit, in der Maschinen und Fabriken verschleißen und ihren Wert während einiger Produktionszyklen vollständig auf die Produkte übertragen) und somit wurde auch die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen auf kurzfristige zyklische Schwankungen verringert. Um die Effekte der kurzfristigen Nachfrageschwankungen zu überwinden, wandten sich Firmen zunehmend den Banken und Kreditgebern zu. Auch zur Finanzierung der immer teurer werdenden Neuinvestitionen in Maschinenparks wurden Kredite benötigt. Als Folge dieser Entwicklung begannen die Banken in die Industrie für zunehmend längere Zeitdauer große Summen anzulegen. In Hilferdings Worten:

"Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur über die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muß die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital. (...) Das Finanzkapital entwickelt sich mit der Entwicklung der Aktiengesellschaft und erreicht seinen Höhepunkt mit der Monopolisierung der Industrie. (...) Haben wir gesehen, wie die Industrie immer mehr in Abhängigkeit gerät vom Bankkapital, so bedeutet das durchaus nicht, daß auch die Industriemagnaten abhängig werden von Bankmagnaten. Wie vielmehr das Kapital selbst auf seiner höchsten Stufe zum Finanzkapital wird, so vereinigt der Kapitalmagnat, der Finanzkapitalist, immer mehr die Verfügung über das gesamte nationale Kapital in der Form der Beherrschung des Bankkapitals. (...) Mit der Kartellisierung und Trustierung erreicht das Finanzkapital seine höchste Machtstufe, während das Handelskapital seine tiefste Erniedrigung erlebt."5

Als Folge der Entwicklung konnten die Banken ihr Kapital nicht mehr so frei bewegen, um den Vorteil aus kurzfristigen Schwankungen der Profitrate innerhalb einzelner Sektoren zu ziehen. Das wiederum bedeutete eben, daß die Banken ein Interesse an der Bildung von Kartellen und Trusts hatten, um Output- und Nachfragefluktuationen zu verhindern, die die Rückzahlungen ihrer Kredite gefährdeten. Hilferding faßte diesen Prozeß folgendermaßen zusammen:

"Das Charakteristische des 'modernen' Kapitalismus bilden aber jene Konzentrationsvorgänge, die einerseits in der ‘Aufhebung der freien Konkurrenz’ durch die Bildung von Kartellen und Trusts, andererseits in einer immer innigeren Beziehung zwischen Bankkapital und industriellem Kapital erscheinen. Durch diese Beziehung nimmt das Kapital (...) die Form des Finanzkapitals an, die seine höchste und abstrakteste Erscheinungsform bildet."6

Das zentrale Merkmal dieser Entwicklungsstufe war also das Anwachsen der Bankenmonopole, die aufgrund ihrer Entwicklung an Einfluß gewannen, mit den Schlüsselsektoren des Industriekapitalismus verschmolzen und so den Finanzkapitalismus bildeten. Die Konsequenz dieser Kapitalkonzentration war, daß der Aufwand für Maschinen und Fabriken (konstantes Kapital) zunehmend das Wachstum des variablen Kapitals (d.h. das für Löhne aufgewendete Kapital) überwogen hatte. Dieses Ansteigen der organischen Zusammensetzung führte unweigerlich zur Tendenz der fallenden Profitrate, die Marx im dritten Band des Kapital beschrieben hatte.

Auf Grundlage dieses Gesetzes erklärte Hilferding, wie das Finanzkapital seine Macht einsetzt, um eben diesem Gesetz entgegenzuwirken. Die großen Monopole können die Produktion innerhalb gewisser Grenzen zurückschrauben, um Preise und Profite zu bewahren. Sie können nationale Regierungen beeinflussen, Maßnahmen zu setzen, die ausländisches Monopolkapital davon abhalten, als Konkurrenz in den eigenen Markt einzusteigen und sie zu unterwandern. Sie können sogar die Preise im inländischen Markt hoch halten und gleichzeitig die Preise kolonialer oder halbkolonialer Märkte hinabdrücken (dumping).

Für Hilferding war allerdings der entscheidende Punkt zur Erklärung der relativ krisenfreien Expansion des Monopolkapitals, die für die letzten Jahre des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichned war, der Kapitalexport ins Ausland. Das war für ihn die Basis der langen Boomphase von 1895 bis 1913. Entsprechend dem Marxschen Kapital zeigte Hilferding, wie der Export von Kapital in Länder mit einer niedrigeren organischen Zusammensetzung des Kapitals und höherer Profitrate die aus dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate resultierende Krisentendenz überwiegen kann:

"Bedingung des Kapitalexports ist Verschiedenheit der Profitrate; der Kapitalexport ist das Mittel zur Ausgleichung der nationalen Profitraten. Die Höhe des Profits ist abhängig von der organischen Zusammensetzung des Kapitals, also von der Höhe der kapitalistischen Entwicklung."7

Die Stelle enthält zwar bezüglich der Richtung des Kapitalexportes eine falsche Verallgemeinerung von der damaligen Situation auf den Imperialismus im generellen (siehe unten), sie stimmt aber für die damalige Periode. Weiters zeigte Hilferding, daß die Strategie des Finanzkapitals, die zur Sicherung der ausländischen Absatzmärkte, der Kapitalinvestitionen, des Zugangs zu Rohstoffen etc. verfolgt wurde, die Politik des Imperialismus darstellt - und daß (auf Basis der jüngsten Entwicklungen des Anwachsens des Monopolkapitals und konfrontiert mit den inneren Widersprüchen dieses Wachstums) das Kapital keine andere Politik verfolgen kann als die des Imperialismus.

 

2. Krisentheorie

Die Entwicklung einer marxistischen Theorie des Imperialismus kann also nicht getrennt von einem Verständnis der Debatten um die Theorie der kapitalistischen Krisen im Allgemeinen erfolgen. Das Fortschreiten zu einer neuen "höheren" Stufe des Kapitalismus war selbst eine Reaktion auf die Akkumulationskrise des freien Konkurrenzkapitalismus. Der Imperialismus war demnach eine neue Stufe des Kapitalismus, der durch die Regulierung der Krisen in Wirklichkeit nur deren Wirkungsweise veränderte.

Aber wie und in welchem Ausmaß veränderten sich Krisen? Das war der springende Punkt der Theorie des Imperialismus und das Schlachtfeld, auf dem sich die Gegner viele Jahre lang bekämpften. Kein Theoretiker der Komintern löste dieses Problem zufriedenstellend - und das hängt teilweise mit den Schwächen von Hilferdings Versuchen, diese Frage zu beantworten, zusammen.

Zunächst seien hier trotz des Risikos, komplexe Zusammenhänge zu sehr zu vereinfachen, die wesentlichen Punkte der marxistischen Krisentheorie zusammengefaßt. Wir müssen mit der Erkenntnis beginnen, daß die zyklischen Krisen des Kapitalismus verschiedene Aspekte beinhalten. Jeder dieser Aspekte ist für das Verständnis des Ganzen unerläßlich, sie müssen aber entsprechend ihrer Bedeutung in Bezug zueinander gesetzt werden. Diese Elemente der Krisentheorie sind der tendenzielle Fall der Profitrate (TFPR), die Disproportionalitätskrise und die Unterkonsumptionskrise.

Aus Analysen, die auf der Trennung der beiden letzteren vom TFPR basieren, kann der Reformismus seine theoretische Rechtfertigung ableiten: Wenn das Problem nur in Disproportionalitäten besteht, kann durch lenkende Eingriffe einer staatlichen Wirtschaftspolitik (womöglich geführt durch reformistische Politiker und Ökonomen) korrigierend eingegriffen und das nötig Gleichgewicht wieder hergestellt werden. Wenn das Problem nur in Unterkonsumption (also zu geringen Absatzmöglichkeiten) besteht, kann durch eine Reformpolitik im Rahmen des Kapitalismus (z.B. die Erhöhung der Massenkaufkraft) gegengesteuert werden. Wenn die verschiedenen Ursachen voneinander isoliert werden und als für sich genommen ausreichende Erklärungen der kapitalistischen Krisen betrachtet werden, so ist auf theoretischem Gebiet der Weg für reformistische politische Folgerungen geebnet. Insofern steht bei dieser theoretischen Auseinandersetzung viel auf dem Spiel.

Alle drei Elemente sind wichtig, denn zyklische Krisen erscheinen durch Störungen des Kapitalkreislaufs:: G-W-(P)-W’-G’. Geldkapital (G) wird hier verwendet, um Waren in der Form von Maschinen, Rohmaterial und Arbeitskraft (W) zu kaufen, die dann in der Produktion (P) verwendet werden. In der Produktion entsteht Mehrwert, der im Warenprodukt (W’) verkörpert ist und schließlich durch Tausch oder Kauf in der Form von Geldkapital (G’) realisiert wird.

Ein Zusammenbruch des Kreislaufs kann in jedem oder einigen dieser Glieder seine Ursache haben. Beginnen wir mit der Unterkonsumption, die im wesentlichen auf dem Versagen beruht, den in W’ verkörperten Mehrwert mittels Verkauf zu realisieren. Im Kapitalismus nehmen Krisen die Form von mangelnder Nachfrage an, d.h. daß unverkaufte Waren die Lager füllen. Ein Unterkonsumptionist meint die Krisenursachen in eben dieser fehlenden Nachfrage zu erkennen. Mit diesem Ansatz wird (wie wir später sehen werden) die Erscheinungsform der Krisen mit ihrer Ursache verwechselt. Die Folgerung, die bürgerliche Unterkonsumptionisten und Reformisten ziehen, ist, daß Krisen vermieden werden können, indem Löhne angehoben oder Staatsausgaben ausgeweitet werden (Keynesianismus).

Ein weiterer Aspekt der Krisen ist das Auftreten von Disproportionen zwischen verschiedenen Sektoren der Industrie (z.B. zwischen die Sektoren, die Maschinen produzieren, und jenen, die Konsumgüter produzieren) oder zwischen Industrie und Landwirtschaft. Theoretisch ist es denkbar, entsprechende Mengen der verschiedenen Waren in exakt jenem Verhältnis zu produzieren, das den gegenseitigen Verkauf aller Waren ermöglicht, ohne daß ein Zusammenbruch auftreten muß. Die Bedingungen für diese Möglichkeit zu zeigen, war das Ziel der Marxschen Reproduktionsschemata im zweiten Band des Kapital. Solch eine reibungslose Reproduktion abstrahiert aber von einer fundamentalen Erscheinung des Kapitalismus: Entscheidungen über Produktion und Investition werden von Tausenden verschiedenen, voneinander isolierten Kapitalisten getroffen, basieren auf der Überlegung, ob Profit gemacht werden kann, nicht ob Waren verkauft werden können. Somit treten in Wirklichkeit - in der Welt vieler konkurrierender Kapitalien - ständig Disproportionen auf. Zu einem Zeitpunkt werden zu viele Maschinen produziert, zu einem anderen wiederum zu wenige usw. Marx nannte das die Anarchie der kapitalistischen Produktion, den Widerspruch zwischen sozialer Produktion und privater Aneignung. Der Kapitalismus reproduziert sich selbst über Zyklen hinweg, die aus Disproportionen und deren vorläufigen Korrekturen bestehen.

Die Falle, in die man mit den Disproportionalitäts-Krisentheorien leicht tappt, ist die Gefahr, in der Anarchie der Produktion den Grund kapitalistischer Krisen zu sehen und die Lösung in Maßnahmen zu suchen, die diese Anarchie vermeiden, speziell in der Zusammenfassung vieler Unternehmungen oder ganzer Industriezweige zu privaten oder staatlichen Monopolen. Zu dieser Frage werden wir später zurückkehren.

Sowohl die Unterkonsumption, als auch die Disproportionalität sind Krisenerklärungen, die auf dem Niveau von Austausch und Verteilung ansetzen. Beide Erklärungsansätze sehen das Problem im Scheitern, einen Teil oder den vollen Mehrwert, der produziert wurde, zu realisieren. Marx wies aber darauf hin, daß die eigentliche Krisenursache im Widerspruch des Akkumulationsprozesses selbst zu suchen sei (d.h. innerhalb der Produktion des Mehrwerts). Insofern ist es entscheidend, das Gesetz des TFPR zu verstehen, denn im Kapitalismus wird wegen des Profits produziert.

Marx bezeichnete den TFPR als "das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie"8. Aber wie ist dieses Gesetz zu verstehen und wie entsteht aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten eine bestimmte historische Krise? Der TFPR folgt aus dem Steigen der organischen Zusammensetzung des Kapitals, d.h. aus der Veränderung des Verhältnisses zwischen variablem und konstantem Kapital aufgrund eines relativen Anwachsens des letzteren. Die lebendige Arbeitskraft nimmt in Relation zu Anlagen und Maschinen ab. Mehrwert wird aber ausschließlich durch Arbeitskraft produziert, deren Anteil eben im Wettbewerb um die Erhöhung der Produktivität relativ zu Maschinen etc. zurückgedrängt wird. Somit führt das relative Anwachsen der Kapitalinvestitionen in Maschinen und Anlagen zu einem Sinken der Profitrate und somit dazu, daß Investitionen der Kapitalisten weniger attraktiv werden. Aus dem TFPR folgt deshalb, daß die Investitionen zurückgehen und Kapital (wegen höherer Gewinne) in die Spekulation gelenkt wird, mit negativen Auswirkungen auf die Produktion.

Auf demselben Abstraktionsniveau wie dem TFPR gibt es bestimmte entgegenwirkende Tendenzen, die die Effekte dieses Gesetzes paralysieren können. Eine davon ist die Verbilligung von Bestandteilen des konstanten Kapitals aufgrund technologischer Innovationen, die den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals bremsen können. Eine der weiteren ausgleichende Tendenzen ist die Erhöhung der Ausbeutungsrate der Arbeiterklasse. Ob der TFPR oder die ihm entgegenwirkenden Tendenzen überwiegen, muß jeweils konkret untersucht werden.

Reale Krisen in der realen Welt treten durch das widerspruchsvolle Zusammentreffen von all den beschriebenen Elementen auf: von Akkumulation, Austausch und Verteilung. Bricht eine Krise aus, so ist es wichtig, die Krisen der Verteilung und des Austausches zu den Widersprüchen innerhalb der Akkumulation in Beziehung zu setzen. Marxisten leugnen also nicht die mangelnde Kaufkraft der Massen, die mit Lagern unverkaufter Waren einhergeht. Die Aufgabe ist es, zu zeigen, wie niedrige Löhne selbst von der Profitkrise abhängen, die eben bewirkt, daß Löhne gekürzt beziehungsweise niedrig gehalten werden, was wiederum die Realisierung des gesamten Mehrwerts unmöglich macht, der in den für die Konsumtion der Arbeiterklasse bestimmten Waren verkörpert ist. Die Unterkonsumption von kapitalistisch produzierten Waren ist ein reales Krisenelement (wenn auch ein untergeordnetes). Aber einfach die Löhne der Massen zu erhöhen, wird die Krise nicht verhindern, weil solch eine Maßnahme die Profitkrise verschlimmert. Ähnlich wichtig ist es, die Existenz von Disproportionen zwischen den verschiedenen Sektoren der Produktion zu erklären, wobei man mit den Kapitalverschiebungen zwischen diesen Sektoren beginnen muß, die durchgeführt werden, um Vorteile aus unterschiedlichen Profitraten zu ziehen. Dies verursacht Überproduktion einmal in einem Sektor, dann wieder in einem anderen.

Die Marxisten der Zweiten Internationale diskutierten einerseits die Mechanismen der kapitalistischen Krisen, ihre Beziehungen zueinander und die Frage ihrer Modifikationen in der neuen Epoche. Aber dies war nicht der einzige Aspekt: Neben der Frage nach den wesentlichen Gründen der kapitalistischen Krisen gab es ein weiteres damit in Zusammenhang stehendes Thema. Kurz gefaßt lautete die Frage: Wo liegen die Grenzen kapitalistischer Krisen und wie steht es mit dem Potential für Wiederaufschwünge nach solchen Krisen? Damit kommen wir zu dem Problem der Unterscheidung zwischen dem, was Wirtschaftszyklus genannt wird (üblicherweise eine Phase des Wachstums, dem eine Phase der Rezession innerhalb einer Zeitspanne von acht bis zehn Jahren folgt) und den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise an sich. Hilferding und die anderen wesentlichen marxistischen Imperialismustheoretiker waren sich der Unterscheidung zwischen diesen beiden Phänomenen sehr wohl bewußt, obwohl Merkmale des einen mit jenen des anderen vermischt wurden.

Es gibt aber einen dritten Aspekt zu dieser Frage, der von den Marxisten, die damals in die Debatte involviert waren, nicht theoretisiert wurde und ihre Theorie des Imperialismus nicht unbedeutend schwächte. Es betrifft den Fall einer Phase kapitalistischer Entwicklung, die weder mit dem Wirtschaftszyklus noch der Epoche als Ganzes gleichgesetzt werden kann. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Phasen kapitalistischer Entwicklung, die sich aus mehreren Wirtschaftszyklen zusammensetzen, deren Gemeinsamkeit durch die dominante Richtung kapitalistischer Entwicklung während dieser Zyklen bestimmt ist - entweder durch Aufschwung und Boom (z.B. die 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg) oder durch Stagnation und Krise (z.B. in der Zwischenkriegszeit). In solchen Perioden werden bestimmte Merkmale der Epoche hervorgehoben und andere unterdrückt, was die ungleiche und kombinierte Entwicklung der Epoche als Ganzes widerspiegelt.

 

3. Finanzkapital und Krisen

Wie hat Hilferding nun diese Fragen behandelt? Er widmete den vierten Abschnitt Das Finanzkapital und die Krisen diesem Fragenkomplex. Hilferding erwähnte zwar alle drei Krisenelemente in mehr oder weniger orthodoxer Weise, ohne jedoch diese Orthodoxie in seiner weiteren Analyse anzuwenden und damit ohne in seinen weiteren Ausführungen daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Der Fucus von Hilferdings Analysen war der Konjunkturzyklus. Wie wirkte sich aber nach Hilferdings Theorie die letzte Stufe des Kapitalismus auf das Funktionieren der Krisenmechanismen aus?

Bei seiner Argumentation stellte Hilferding ins Zentrum, daß Krisen den Disproportionen zwischen den verschiedenen Sektoren der Industrie geschuldet seien. Sie entstünden, da, im Bestreben nach größeren Mengen von Mehrwert, individuelle Mitglieder von Kartellen in der Aufschwungsphase eines Zyklus in Versuchung gerieten überzuinvestieren. Wenn die Nachfrage schließlich fällt, würde jeder versuchen, die Preise hochzuhalten. Dies jedoch würde nur dazu führen, die Bankrotte unter den schwächeren Sektoren des Kapitals zu erhöhen, was wiederumdie Nachfrage hinunterdrücken und den Druck auf die Preise erhöhen würde. Das wiederum würde das Unternehmen zwingen, den Ausstoß immer mehr zu begrenzen, um Preise und Profite hochzuhalten.

Hilferding behauptete, daß ab einer gewissen Stufe in diesem Prozeß die Kürzungen im Ausstoß die Einzelstückkosten erhöhen würden, auf Grund der riesigen Menge von Fixkosten der modernen Industrie. Folglich müßte die Industrie einen gewissen Produktionsstand aufrechterhalten und stattdessen Preise und mit diesen Profite kürzen. Daraus würden weitere Rationalisierungen folgen. Wenn die Preise fallen, würde es zusätzlich für kleine Unternehmen wieder möglich am Markt zu erscheinen und von dieser Seite die Kartelle zu untergraben.

Kurz gefaßt: Hilferding verneinte im Finanzkapital, daß das Wachstum von Monopolen und Kartellen Krisen überwinden könne. Monopolkapital könne Krisen modifizieren und insbesonders die Auswirkungen der Krisen auf schwächere Sektoren des Kapitals abwälzen, aber es könne sie nicht aus der Welt schaffen. Lenin hingegen war der Ansicht, daß durch die Monopolisierung und das Finanzkapital Krisen letztlich verschärft würden, und warf Hilferding deshalb "eine gewisse Neigung (...), den Marxismus mit dem Opportunismus zu versöhnen"9 vor. Lenin hatte dabei vor allem Hilferdings irrige Ansichten über die Bedeutung von monetären Krisen und Spekulationen unter dem Monopolkapitalismus im Auge. Hilferding glaubte, daß "jene Massenpsychosen, wie sie die Spekulation zu Beginn der kapitalistischen Ära erzeugt, (...) unwiederbringlich dahin"10 zu sein scheinen.

Dies steht im Zusammenhang mit seiner Ansicht, daß die Entwicklung von Bankmonopolen letztlich dazu diente, monetäre und Bankenkrisen zu mildern (und nicht, sie zu verschlimmern):

"Das Ausbleiben der Geldkrise bewahrt aber den Kredit vor vollständigem Zusammenbruch und ist damit zugleich eine Vorbeugung für die Entstehung der Bankkrise (...) Die größte Rolle spielt auch hier die Bankkonzentration. Sie gestattet durch den riesig erweiterten Geschäftsumkreis und durch die Ausdehnung über verschiedene nationale Wirtschaftsgebiete mit verschiedener kapitalistischer Entwicklungsstufe eine viel größere Verteilung des Risikos."11

In einer anderen Passage behauptet Hilferding, daß diese Milderung der Bankenkrisen

"(...) das Eintreten der industriellen Krise selbst, den Umschwung von Prosperität und Depression unberührt (läßt). Die Frage entsteht, ob die große Änderung in der Organisationsform der Industrie, ob die Monopole durch ihre behauptete Aufhebung der regulierenden Kraft des kapitalistischen Mechanismus, der freien Konkurrenz, qualitative Änderungen in den Konjunkturerscheinungen verursachen können."12

Hilferdings Antwort auf diese Fragestellung ist, daß industrielle Monopole in der Lage wären, einen viel größeren Teil ihres Ausstoßes während einer Krisenperiode aufrechtzuerhalten, teilweise, weil sie die Preise manipulieren, und teilweise, weil die Ausdehnung von Bankkrediten auch während der Krise eine störungsfreie Warenzirkulation ermöglichen würde.

Hilferding machte hier eine begriffliche Trennung zwischen industriellen und Bank(Kredit)-Krisen. Für Marx allerdings waren industrielle Krisen die Ursache von Bankkrisen. In Anbetracht der Tatsache, daß Hilferding in seinem Konzept vom Finanzkapital, die Entwicklung von Bank- und Industriekapital vereinigt hatte, ist es umso überraschender, daß er hier eine Trennung vornimmt. Die spätere Entwicklung (z.B. der Börsenkrach von 1929 und der Bankenzusammenbruch von 1931) sollte zeigen, daß er in dieser Frage im Irrtum war. Im Monopolkapitalismus wuchs die Spekulationen an, die letzte Stufe des Kapitalismus ist teilweise durch das Bestehen eines gigantischen Wucherkapitals charakterisiert.

Aber Hilferdings theoretischer Opportunismus beschränkte sich nicht auf die Frage von Spekulations- und monetären Krisen. Er erstreckte sich auch auf das ganze Konzept von der Art und Weise, in der Krisen im allgemeinen unter dem monopolistischen Finanzkapital gemildert werden könnten. Tatsache ist, daß Hilferding, trotz seiner "orthodoxen" Darstellung des TFPR (der in die konkrete Analyse dann nicht mehr einfloß), stark in Richtung einer einseitigen Disproportionalitätstheorie, mit allen daraus resultierenden und schon oben diskutierten Gefahren, neigte. Hilferding sah nicht nur den wirklichen Grund von industriellen Krisen im Monopolkapitalismus in der Entwicklung von Disproportionen zwischen den verschiedenen Sektoren der Industrie. Er tendierte auch dazu, das Element der Unterkonsumption, welches einen Teil jeder derartigen Theorie bilden muß, vollständig zu übergehen. Betrachten wir das folgende Zitat, in dem Hilferding die Bedeutung der Reproduktionsschemata von Band 2 des Kapitals diskutiert:

"Die schematische Darstellung ist natürlich stark vereinfacht. Es ist klar, daß Produktionsverhältnisse, wie sie zwischen den Produktionsmittel- und Konsumtionsmittelindustrien in ihrer Gesamtheit herrschen müssen, in analoger Weise für jeden einzelnen Produktionszweig vorhanden sein müssen. Aber zugleich zeigen diese Schemata, daß der kapitalistischen Produktion sowohl Reproduktion auf einfacher als auch auf erweiterter Stufenleiter ungestört vor sich gehen kann, wenn nur diese Proportionen erhalten bleiben. Umgekehrt kann Krise auch bei einfacher Reproduktion eintreten bei Verletzung der Proportion, zum Beispiel zwischen abgestorbenem und neu anzulegendem Kapital. Es folgt also durchaus nicht, daß die Krise in der der kapitalistischen Produktion immanenten Unterkonsumptionen der Massen ihre Ursache haben muß. Eine allzu rasche Ausdehnung der Konsumtion würde an sich ebenso wie Gleichbleiben oder Verringern der Produktion der Produktionsmittel zur Krise führen müssen. Ebensowenig folgt aus den Schemata an sich die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion von Waren, vielmehr läßt sich jede Ausdehnung der Produktion als möglich zeigen, die überhaupt bei den vorhandenen Produktivkräften stattfinden kann."13

Roman Rosdolsky meint zu dieser Passage:

"Es fällt Hilferding natürlich nicht ein, die empirischen Tatsachen der Überproduktion und der Unterkonsumtion der Massen oder die Rolle, die diesen Tatsachen als Momenten der wirklichen Krisen zukommt, zu leugnen. Worauf er mit seiner ‘An sich’-Betrachtung der Schemata hinzielt, ist etwas anderes: der Nachweis, daß es im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß letzten Endes nur auf das Proportionalitätsverhältnis der einzelnen Produktionszweige ankomme. Woraus sich dann folgerichtig seine Disproportionalitätstheorie der Krisen sowie seine Ablehnung jeglicher Zusammenbruchstheorie ergibt."14

Beim ersten Anblick kann es scheinen, als ob Hilferding Marx folgte, wenn er meint, daß der Kapitalismus "ohne Unterbrechung" fortschreiten könnte, bei Aufrechterhaltung der verschiedenen Proportionen zwischen den unterschiedlichen Abteilungen der Produktion. Aber für Marx wären Krisen noch immer unvermeidbar, da Produktions- und Investitionsentscheidungen nicht davon geleitet wären, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern von dem Imperativ, zu gegebenen Profitraten zu verkaufen. Auf einer Ebene ist sich Hilferding im Finanzkapital darüber voll im Klaren. Doch behauptet er andererseits, daß bei gewissen strukturellen Veränderungen im Kapitalismus, welche es ermöglichen würden die Proportionen (zwischen den einzelnen Sektoren der Industrie) einzuhalten, Krisen gemildert, oder gar überwunden werden könnten.

An einer Stelle im Finanzkapital spekuliert er bereits genau in diese Richtung:

"Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahingehend beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt."15

Diese Betrachtungsweise sollte in späteren Jahren sein Denken beherrschen. Im Jahr 1926 behauptete er:

"Ich meine, daß ich mich in diesem Punkt in kompletter Übereinstimmung mit Karl Marx befinde, dem eine Zusammenbruchstheorie fälschlich zugeschrieben wird. Der zweite Band des ‘Kapital’ zeigt, wie die Produktion selbst auf erweiterter Stufenleiter innerhalb des kapitalistischen Systems möglich ist (...) Er könnte interpretiert werden als eine Lobeshymne auf den Kapitalismus."16

Aber der Hilferding des Finanzkapital war damals noch kein Opportunist oder Revisionist. Wir haben es hier mit dem Hilferding von 1910 und nicht mit dem von 1926 zu tun. Im Jahre 1910 repräsentierte Hilferding das marxistische Zentrum, das zwischen reformistischen und revolutionären Positionen schwankte. Hilferdings Rechtsentwicklung, die ihn schließlich in den Jahren 1923 und 1928-29 zum Finanzminister in bürgerlichen Koalitionsregierungen machen sollte, hatte damals noch nicht die Oberhand gewonnen. Im Jahre 1910 argumentierte er wie folgt:

"Aber den Kartellen wurde und wird zum Teil auch jetzt andere Wirkung zugeschrieben. Sie sollen nicht nur eine Modifikation der Krisenentwicklung bedeuten, sondern imstande sein, die Krisen gänzlich zu beseitigen, da sie die Produktion regulieren und das Angebot jederzeit der Nachfrage anzupassen vermögen. Diese Ansicht übersieht gänzlich die innere Natur der Krisen."17

Aber diese Orthodoxie wurde bereits damals durch Hilferdings Tendenz untergraben, die wesentlichen Gründe von Krisen als Folge von Anarchie in der Produktion (d.h. Disproportionalität) zu erklären, ohne dies in Beziehung zum TFPR zu setzen. Insofern war für Hilferding kein riesiger theoretischer Schritt mehr nötig, um in den 20er Jahren - als er die Rolle des Staates bei der Besänftigung der Anarchie der Kartelle und der Regulierung von Bank- und Kreditkrisen "entdeckte" - beim Revisionismus zu landen. Denn das war der Kern von Hilferdings Konzept eines organisierten Kapitalismus Mitte der 20er Jahre.

 

4. Kapitalexport

Das im wesentlichen formale Verständnis vom TFPR in Hilferdings politischer Ökonomie zeigt sich auch in einem anderen Zusammenhang: in der Art, wie er den TFPR in Verhältnis zum Kapitalexport setzt. Wie wir gesehen haben, formulierte Hilferding dieses Verhältnis in folgender Weise:

"Bedingung des Kapitalexport ist Verschiedenheit der Profitrate; der Kapitalexport ist das Mittel zur Ausgleichung der nationalen Profitrate. Die Höhe des Profits ist abhängig von der organischen Zusammensetzung des Kapitals, also von der Höhe der kapitalistischen Entwicklung. Je fortgeschrittener diese, desto niedriger im allgemeinen die Profitrate."18

Dabei handelt es sich um eine einseitige und abstrakte Sicht der Wirkungsweise dieses Gesetzes. Er behauptet, daß in den entwickelten Nationen (d.h. in jenen mit einer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals) die Profitraten niedrig und in den rückständigen Ländern mit einer niedrigen organischen Zusammensetzung des Kapitals die Profitraten höher sind. Mit dieser falschen Einschätzung ist die Richtung der Kapitalexporte nach dem Zweiten Weltkrieg, die generell in die "fortgeschritteneren" Länder gingen, nicht zu begreifen.

Marx argumentierte anders als Hilferding. Er betrachtete den Fall der Profitrate als eine Tendenz. Er zeigte, daß die Bourgeoisie hauptsächlich über eine Erhöhung der technischen und organischen Zusammensetzung des Kapitals die Profitrate anhebt. Auf diese Weise wird die Arbeitsproduktivität und mit ihr der Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft gesteigert. Insofern könnte man ebenso sagen, daß eine höhere organische Zusammensetzung des Kapitals eine höhere Profitrate zur Folge hat. Es ist entscheidend zu erkennen, daß Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals zu gegensätzlichen und widersprüchlichen Entwicklungen der Profitrate führen. Eben aus diesem Grund betrachtete Marx das Gesetz vom Fall der Profitrate als eine Tendenz und nicht als ein absolutes Gesetz.

Die Frage, ob Profitraten sich auf Grund des Anstiegs in der organischen Zusammensetzung des Kapitals erhöhen oder ob sie fallen (und daher ob Kapitalexporte in ein Gebiet mit einer niedrigen oder höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals fließen), muß konkret studiert werden. Daß Hilferdings Herangehensweise an das Studium des Konkreten nicht zielführend ist, zeigte sich in der folgenden (dem obigen Zitat angeschlossenen) Passage im Finanzkapital:

"Zu dieser allgemeinen Bestimmung, die hier weniger in Betracht kommt, da es sich um Weltmarktswaren handelt, deren Preis durch die entwickeltsten Produktionsmethoden bestimmt wird, treten aber spezielle hinzu."19

Im Anschluß listet er diese speziellen Bestimmungen auf. Lenin, der sich der falschen Sichtweise Hilferdings anschließt (und sich auf sie beruft), faßt sie so zusammen:

"In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismäßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig. "20

Das Problem, vor dem Hilferding stand, liegt darin, daß der allgemeine Faktor ausgeschaltet wird sobald die hohen Profitraten in den kolonialen Ländern erklärt werden sollen. Weder die hohe organische Zusammensetzung des Kapitals noch die niedrigen Profite in den entwickelten kapitalistischen Ländern werden als Gründe für Kapitalexporte angeführt. Und könnten sie auch, wenn uns gleichzeitig gesagt wird, daß die Welt"preise" durch die am meisten fortgeschrittenen Produktionsmethoden bestimmt werden? Das bedeutet, daß das Kapital mit einer höheren organischen Zusammensetzung das mit einer niedrigeren Zusammensetzung schlägt - auf Grund der höheren Produktivität und der billigeren Produkte. Daher müssen besondere Gründe eingeführt werden, um Kapitalexport in rückständige Länder begreifbar zu machen.

Nichtsdestotrotz ist es dieses Gesetz, das der ungleichen Entwicklung von kapitalistischen Nationen zugrundeliegt und das den Gang der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt. Eine korrekte Beurteilung der ungleichen Entwicklung der kapitalistischen Nationen und der Industrie über die letzten 40 Jahre erfordert ein konkretes Studium des TFPR, der wechselnden organischen und technischen Zusammensetzung des Kapitals und daher der periodischen Entwertung und darauffolgenden Erneuerung des fixen Kapitals auf Weltebene.

Editoriale Anmerkung:
Der Text ist Teil einer Gesamtübersicht über die klassischen Imperialismustheorien aus der Zeit der II. und III. Internationale. Er ist Spiegelung von
http://www.agmarxismus.net/vergrnr/m07_2hil.html