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"Wenn eine Frau etwas will, erreicht sie es ..."
Frauen in der Bewegung der Sans Papiers

Nadja J. Damm vom Frauen/LesbenFilmCollectiv
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Ein Vormittag im März 1997. Auf einem Balkon in einem Vorort von Paris. Uns [1] gegenüber sitzt Nadia Mahloul, eine Frau um die Dreißig mit wachem freundlichen Blick. Nadia ist Algerierin. Seit 1989 wohnt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Frankreich. Sie ist eine von ca. 300.000 Migranten und Migrantinnen, die derzeit "ohne Papiere", also ohne legalen Aufenthaltsstatus, in Frankreich leben. Außerdem ist sie eine der Aktivistinnen der Bewegung der Sans Papiers, der "Papierlosen", die dort seit Anfang 1996 für die Rechte der MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus kämpft. Zu Beginn des Gesprächs wirkt Nadia noch zurückhaltend und unsicher - sie ist es nicht gewohnt, Interviews zu geben. Doch schon nach kurzer Zeit wird ihre Erzählung sicher und lebendig. Sie berichtet, wie sie mit ihrer Familie zur Bewegung der Sans Papiers gestoßen ist und welche Erfahrungen sie - als Frau - im Kampf der Sans Papiers gemacht hat:

"Ich bin 1989 nach Frankreich gekommen. Seitdem hatte ich eine Aufenthaltsberechtigung als Besucher. Denn mein Mann war Student, und ich hatte eine 'Carte comme visiteur'. Ich habe um eine Veränderung meines Status gebeten, doch dies wurde abgelehnt, und dann wurde uns aufgrund der Veränderung unseres Status gesagt, daß wir Frankreich verlassen sollten... Obwohl ich nachweisen kann, daß meine Kinder Franzosen sind, habe ich ein Jahr lang gekämpft, und es hat nichts gebracht. ... Ich bin in dieses Kollektiv der Sans Papiers eingetreten und habe gemeinsam mit den Leuten dort, die in der selben Situation wie ich sind, gekämpft. Wir haben demonstriert, wir haben vor den Präfekturen protestiert, und das hat alles nichts gebracht. Eines Tages haben wir uns dann entschieden, einen Hungerstreik zu machen."

Am 18. März 1996 besetzen circa 300 MigrantInnen die Pariser Kirche St. Ambroise. Damit tritt die Bewegung der Sans Papiers erstmals mit ihrer Forderung nach "Papieren für alle" ("Des papiers pour tous") öffentlich in Erscheinung. Ein wichtiges Mittel ihres Kampfes ist die Weigerung, sich in die Unsichtbarkeit drängen zu lassen. Indem sie sich selbst als Sans Papiers, als "Papierlose" bezeichnen, wehren sie sich zudem gegen ihre Stigmatisierung als "Illegale". Madjiguène Cissé, Sprecherin der Nationalen Koordination der Sans Papiers, beschreibt die Notwendigkeit ihres Entschlusses, sich als Sans Papiers zu erkennen zu geben:

"Ohne Papiere existierst du einfach nicht."

"Da hast Du keine Rechte: kein Recht auf Wohnung, auf Arbeit, auf Erziehung, Bildung oder Sozialhilfe, da lebst du wie ein Gespenst. Und die einzige Möglichkeit war, gemeinsam eine spektakuläre Aktion zu unternehmen, damit die Leute, das heißt die öffentliche Meinung in Frankreich, aber auch die Behörden, aufmerksam werden auf unsere Forderungen."

Seit der ersten Kirchenbesetzung im März 1996 haben sich in ganz Frankreich über 20 Kollektive von Sans Papiers gebildet [2], die mit den verschiedensten Aktionen auf die Situation und die Forderungen der Sans Papiers aufmerksam machen. Eine ihrer letzten Aktionen, über die auch in der deutschen Presse berichtet wurde, war die Besetzung der Botschaft des Vatikans im August dieses Jahres. Das Ergebnis dieser Besetzung war, daß der Botschafter des Vatikan als Vermittler zwischen den Sans Papiers und der französischen Regierung eingetreten ist. Daraufhin lockerte der französische Innenminister wenige Tage später die Kriterien für die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen. Neben Demonstrationen, Besetzungen und Hungerstreiks haben sie auch Aktionsformen gefunden, durch die sie in den direkten Dialog mit der französischen Bevölkerung treten. Ein Beispiel hierfür sind die Karawanen, bei denen mehrere Kollektive gemeinsam durch Landesteile ziehen und in den verschiedenen Städten Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen durchführen. Ein anderes Beispiel für solche Aktionen sind öffentliche "Zeremonien" in Rathäusern und bei den Gewerkschaften: hier stellen Franzosen und Französinnen sich ganz offensiv auf die Seite der Sans Papiers, indem sie sogenannte Patenschaften für diese übernehmen. Die Sans Papiers sind angewiesen auf die Unterstützung der verschiedensten Akteure der französischen Gesellschaft - und sie fordern sie offensiv ein: bei der Bevölkerung, bei Menschenrechtsvereinen und antirassistischen Organisationen, bei Gewerkschaften, Parteien und so weiter. Das heißt aber nicht, daß sie dafür ihre Autonomie aufgeben. Vielmehr legen sie großen Wert darauf, für sich selbst zu entscheiden und zu sprechen. Nach der Einschätzung von Madjiguène ist das einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es die Bewegung der Sans Papiers auch heute noch gibt. Und was für die Bewegung als Ganze gilt, gilt ihrer Auffassung nach auch für die Frauen darin:

"Wir als Frauen haben auch für unsere Autonomie kämpfen müssen."

"Zum Beispiel am Anfang, da fanden die Männer es nicht nötig, daß unter den Sprechern auch Frauen sein dürfen. Aber da haben wir dafür gekämpft, daß wir unter 10 Sprechern dann auch zwei Frauen waren. Die Frauen haben so mutig gekämpft, daß sie auch fast alle legalisiert worden sind. Zum Beispiel nach der Räumung der Kirche St. Ambroise, das war im April, Mai und Juni 1996. Nach dem ersten Monat Kampf waren wir dort ganz isoliert, da kam die Presse nicht mehr. Und da haben die Frauen sich unter sich getroffen und eine große Demonstration organisiert, eine Frauendemonstration am 11.5.1996, und da kam die Presse wieder."

So geht der Kampf der Frauen für ihre Autonomie einher mit ihrer zunehmend aktiven Rolle innerhalb der Bewegung. Inwiefern dies nicht nur Auswirkungen auf die Bewegung, sondern auch auf die Frauen selbst hat, beschreibt Nadia:

"Ich persönlich bin keine, die sich an Kämpfen beteiligt hat. Ich bin eine Studentin, Mutter, eine Ehefrau. Es ist sicher, daß sich etwas verändert hat, als ich in das Kollektiv eingetreten bin und angefangen habe, für die Sans Papiers zu kämpfen. Es ist sicher, daß eine Frau umso stärker wird, je mehr sie kämpft. Denn wir haben gekämpft, als wir die Initiative ergriffen haben, einen Hungerstreik zu machen. Alle waren gegen uns, alle. Jedes Mal, wenn wir auf eine Versammlung gegangen sind und gesagt haben, daß wir einen Hungerstreik machen werden, sind alle gegen uns gewesen. Die Frauen, die Männer, selbst mein Mann war dagegen. Aber ich habe meine ganze Kraft darangesetzt und habe gesagt: 'Nein, ich werde es machen. Mir bleibt nichts anderes übrig.' Ich habe mir in den Kopf gesetzt, daß ich das machen muß. Und ich habe es gemacht! Denn ich glaube, wenn eine Frau etwas will, erreicht sie es. Das macht für mich eine Frau aus: Wenn sie etwas will, erreicht sie es."

Die Frauen in der Bewegung der Sans Papiers formulieren auch frauenspezifische Forderungen. Sie fordern ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, das Recht auf Erwerbstätigkeit und die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtursachen als Asylgrund. Als Hauptforderung der Frauen nennt Madjiguène die Forderung nach einem autonomen Aufenthaltsstatus für die Frauen:

Als Frau, da existiert man nicht, nur, weil man eine Frau ist!

"Es ist sehr schwierig in Europa, in Frankreich, in Deutschland zu leben als Ausländer, aber es ist noch schwieriger, wenn man eine Frau ist. Denn als Frau, da existiert man nicht, nur, weil man eine Frau ist! Da bist du immer 'die Frau von jemand' oder 'die Tochter von jemand' oder 'die Mutter von jemand'. Aber Du bist nicht anerkannt als Person - als Mensch. Und das führt auch zu Problemen. Zum Beispiel, wenn die Frauen legalisiert werden, da gibt ihnen die Polizeipräfektur so eine Erlaubnis ohne Arbeitsgenehmigung - Carte de Visite, heißt das. Das heißt, du bist zu Besuch, ganz einfach. Als ob die Frauen nur als Touristinnen in Frankreich wären. Da haben wir demonstriert, damit die Polizeipräfektur den Frauen auch eine Arbeitserlaubnis gibt. Wir haben das nicht verstanden: 'Warum dürfen alle Männer arbeiten und warum dürfen die Frauen nicht arbeiten?' .Da sind wir zur Polizeipräfektur gegangen und haben gesagt: 'Ja, warum?' Und da haben die Frauen auch die Aufenthaltserlaubnis bekommen - mit der Arbeitsgenehmigung.
Es kommt auch vor, zum Beispiel wenn es eine Legalisierung gibt, daß die Frauen viele Probleme haben, denn sehr viele Frauen sind über Familiennachzug gekommen. Und da gibt es Fälle, in denen der Mann alle Dokumente der Frau hat und der Mann nicht will, daß die Frau legalisiert wird. Solche Fälle haben wir auch gehabt. Die fürchten immer, daß, wenn die Frau legalisiert wird, sie dann weggeht oder Probleme macht oder die Polizei holt, wenn sie geschlagen wird. Da haben sie dann die Dokumente versteckt. Und es gibt auch Fälle, in denen beispielsweise, wenn die Frau sich von ihrem Mann trennt, der Mann zur Polizei geht und sagt 'Diese Frau hab ich hierher geholt, ich hab ihr Flugticket bezahlt und so. Die lebt nicht mehr mit mir zusammen und die soll nach Hause zurück ...' Die haben die Frauen denunziert, weil sie nicht mehr in der Ehe bleiben wollten. Ich meine, sie haben mehr Probleme als die Männer, weil sie als Frau hier in Frankreich nicht als Person betrachtet werden, sondern immer nur als "Frau von jemand" ...und da fühlen sie sich dann motivierter im Kampf, weil sie für mehr Rechte kämpfen müssen als die Männer. Und das kommt andererseits auch von der Erziehung. Die afrikanischen Frauen zum Beispiel, die werden sehr jung schon dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen. Mit acht Jahren schon muß man sich um die Kinder kümmern in der Familie, muß man die Mutter ersetzen, wenn sie abwesend ist. Sie müssen schon sehr früh Verantwortung tragen, und daher kommt es auch, daß sie so entschieden sind."

Seit unseren Interviews vom März 1997 hat sich in Frankreich einiges verändert: Im Juni 1997 gewinnt ein Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen die Wahlen und stellt seitdem die neue Regierung. Kurz nach ihrem Wahlerfolg kündigt diese eine Legalisierungsinitiative an, die jedoch nicht das halten kann, was sie dem Namen nach verspricht. Die Sans Papiers werden aufgefordert, bis zum 31.10.1997 ihre Anträge auf Legalisierung zu stellen. Es erfolgt also keine generelle Legalisierung, wie gefordert, sondern Einzelfallprüfungen nach 11 Kriterien, die nur wenige von ihnen erfüllen. 150.000 Anträge werden gestellt. Doch bisher haben lediglich 76.000 Sans Papiers einen Aufenthaltstitel, in der Regel begrenzt auf ein halbes bis ein Jahr, erhalten. Durch die Anträge der Sans Papiers besitzt der französische Staat nun aber eine Fülle von Informationen über Menschen ohne Papiere: wo sie wohnen, wo sie arbeiten, wer sie unterstützt, wie sie leben. So ist ein polizeilicher Zugriff für Abschiebungen schnell und leicht für die Regierung möglich geworden. Inzwischen sind die Abschiebungen in vollem Gange, was jedoch die Sans Papiers bisher nicht dazu gebracht hat zu resignieren. "75.000 Leute will die Regierung nicht legalisieren", betont Madjiguène auf einer Veranstaltung in Berlin im Mai 1998, "... und deswegen kann ich auch sagen, daß die Bewegung weitergeht: für die Legalisierung von allen Sans Papiers. Denn von Anfang an war unsere Forderung klar, daß wir eine gesamte Legalisierung wollten, das heißt, 'Des Papiers pour tous': Papiere für Alle, das heißt, ob Mann oder Frau, ob verheiratet oder nicht. Wir haben auch eine neue Kampagne für Patenschaften gestartet, seit dem Regierungswechsel, denn jetzt sagen plötzlich Leute, die uns vorher unterstützt haben, Eure Forderungen sind zu radikal - obwohl die Forderungen die gleichen geblieben sind." Was die Sans Papiers dazu bringt, solch radikale Forderungen wie die nach 'Papieren für alle' überhaupt zu formulieren, sagt sie ganz deutlich:

Wird es so weitergehen, daß drei Viertel der Reichtümer dieses Planeten nur einem Viertel der Weltbevölkerung dienen?

"Unsere Forderungen gehen weit über die Forderung nach Papieren hinaus. Dies ist sicher: in unserem Kampf, den wir als Volk aus dem Süden, das hier in Europa lebt, führen, stellen wir die Frage nach der Nord-Süd-Beziehung. Es stellt sich die Frage, ob wir, als Volk des Südens, weiter Reichtümer produzieren werden, an denen wir selbst nicht teilhaben. Wird es so weitergehen, daß drei Viertel der Reichtümer dieses Planeten nur einem Viertel der Weltbevölkerung dienen?Dies ist die Frage, die sich heute stellt. ... Ich sage mir: für jemanden, der vor Hunger stirbt oder für jemanden, der alle Kinder seiner Familie an Kinderkrankheiten sterben sieht, oder für jemanden, der sein Leben vor den Waffen der Diktatoren, die vor Ort sind, riskiert, ist es eine sehr natürliche Sache, emigrieren zu wollen. Und diese Politik, die Grenzen zu schließen, ist doch eine unrealistische Politik: das ist nicht möglich. Man kann von den Leuten nicht verlangen zu sterben, vor Ort zu bleiben - und nicht dem Tod entkommen zu wollen. Das geht nicht."

Die Sans Papiers wollen Papiere für alle und sind entschieden, weiterzukämpfen, bis sie dies erreicht haben: auf die Botschaftsbesetzung im August folgte am 27. September die Besetzung einer Kirche im Pariser Stadtteil Bastille und auch die Komitees der Sans Papiers gegen Abschiebungen sind weiterhin tagtäglich auf Flughäfen und Bahnhöfen präsent. Eines ihrer Ziele haben die Sans Papiers auf jeden Fall bereits erreicht: die Thematisierung, wenn nicht sogar die Anerkennung, ihrer (Menschen)Rechte in einer breiten Öffentlichkeit - bis über die Grenzen Frankreichs hinaus. Um dies zu würdigen, wird ihnen die deutsche Sektion der Internationalen Liga für Menschenrechte am kommenden 6. Dezember die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihen. Nadia Mahloul hat, wie 76.000 weitere Sans Papiers, zumindest teilweise erreicht, was sie wollte: sie verfügt jetzt wieder über einen Aufenthaltsstatus (wenn auch nur befristet auf ein Jahr). Sie ist auch heute noch - auch "mit Papieren" - aktiv bei den Sans Papiers.

Nadja J. Damm vom Frauen/LesbenFilmCollectif

"Sorglos" - Konto zur Unterstützung illegalisierter Flüchtlingsfrauen: B. Fünfrocken, Kontonr.: 2600 35 39; Blz.: 100 900 00; Berliner Volksbank; Stichwort: SORGLOS; Kontakt zum FrauenLesbenBündnis zur Unterstützung illegalisierter Flüchtlingsfrauen über: Antirassistische Initiative e.V.; Yorckstr. 59, 10965 Berlin

[1] Wir, das waren sechs Frauen/Lesben aus drei Städten (Hamburg, Berlin und Bochum), die sich z.T. noch gar nicht kannten, die aber alle die Idee spannend fanden, nach Paris zu reisen, um dort Videointerviews mit Vertreterinnen der Sans Papiers zu führen, diese hinterher zu einem Film zusammenzuschneiden, und somit die Bewegung der Sans Papiers und die Rolle der Frauen darin hier in der BRD bekannter zu machen. Der Film ist im Dezember 1997 fertig geworden, trägt den Titel "Wir sind schon da!" und ist im Verleih bei Autofocus oder auch direkt zu beziehen beim Frauen/Lesben FilmCollectif, Fibs e.V., c/o FDCL, Gneisenaustr. 2a, 10962 Berlin.

[2] Die Sans Papiers bezeichnen als Kollektiv die einzelnen lokalen und regionalen Gruppen von Sans Papiers, die zusammen die Bewegung bilden. Die Kollektive können von ganz unterschiedlicher Größe sein und sich aus Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammensetzen.