Interim 511 v. 5.10.2000

Einige Kritikpunkte 
am Innenleben des antirassistischen Grenzcamps 2000 in Forst
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Die Beschäftigung mit den, inneren Strukturen des Grenzcamps ist uns deshalb so wichtig, weil das Camp neben seinem eigentlichen Zweck - in gesellschaftliche Normalität zu intervenieren und Kritik und Widerstand gegen eine rassistische BRD zu leisten - auch noch mehr bedeutet. Neben den direkten Aktionen, also die direkte Störung des Apparates, aber auch das nach Außen, an die bürgerliche Öffentlichkeit, tragen einer Gegenrealität, bietet das Camp auch Platz für inhaltliche Auseinandersetzungen über eben diese Realität. Denn was dem deutschen Volkskörper in Forst entgegengesetzt wurde ist mehr, als einfach eine andere Meinung in gewissen Punkten, nämlich eine fundamentale Kritik, die die gesamte Organisierung des gesellschaftlichen Lebens in frage stellt. Die Kritik begnügt sich nicht damit, daß Nichtdeutsche Menschen von deutschen Ordnungskräften oder von Neonazis in den Tod getrieben werden, sondern daß diese Vorfälle System haben und ihre Ursachen wo anders zu suchen sind: in der Mitte der deutschen Seele. Und Rassismus wird auch nicht nur deshalb bekämpft, weil er tötet, sondern weil er prinzipiell eine Form von Herrschaft ist. Doch die Herrschaft, die dieses System zusammenhält, beschränkt sich nicht auf Rassismus und ist auch nicht nur irgendwo da draußen, sondern auch wir, die sie bekämpfen wollen, sind selbst täglich im Umgang miteinander mit ihr konfrontiert, weil auch wir in dieser Gesellschaft leben. Das Camp ist auch eine Art Freiraum und wird so zum Experiment, an dem alle teilhaben, die den Anspruch haben herrschaftsfrei zu leben. Es ist ein Ort, an dem wir die Möglichkeit haben, unser Leben (jedenfalls für eine Woche) selbstbestimmt zu organisieren. Und gerade dann, wenn wir nicht ständig mit dem Scheiß von Außen konfrontiert sind, treten die Gedanken- und Verhaltensstrukturen zu tage, die wir selbst verinnerlicht haben und die oft, weil sie meist sehr subtil wirken, nicht bemerkt werden. Die Kritik ist auch deshalb von Bedeutung, weil es ihr nicht darum geht, einzelne Personen oder Gruppen anzuklagen, sondern Mechanismen, deren Bekämpfung über das Camp hinaus relevant ist. Vor diesem Hintergrund also steht die folgende Kritik an Verhaltensweisen und Strukturen auf dem Camp.

Informelle Hierarchien auf Plena

Ganz allgemein gesagt geht es um die Kritik an der Reproduktion von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. So z.B. Desinteresse an Entscheidungsfindungen, die prinzipiell alle angehen und eine passive Konsum- und Erwartungshaltung auf der einen Seite und die Herausbildung von Gruppen, bei denen sich Verantwortung und Entscheidungsmacht anhäuft auf der anderen Seite. D.h. es hat sich eine informelle Hierarchie herausgebildet, zwischen den Leuten, die viel machen und sich um viel kümmern und denjenigen, die darauf warten, dass etwas passiert. Und es muss dazu gesagt werden, dass manche Leute, weil sie an der Organisation des Camps beteiligt waren und sich deshalb irgendwie verantwortlicher fühlten als andere, sehr gerne die Rolle der dominanten Zentralfiguren gespielt haben. Aber der Punkt ist ja, dass das scheinbar kaum jemanden gestört hat und das dieser Zustand, bei dem viele die Rolle der Zuschauer einnahmen auch nicht unbedingt ungewollt war. Dieser Mechanismus ist Teil des Spektakels, das die Realität der bürgerlichen Subjekte prägt. Das Konsumieren von Bildern und imaginären Handlungen, die die Akteure auf dem Bildschirm leben, ersetzt eigenes aktives Handeln und schafin die/den passive(n) Zuschauerin. Das Ausschalten selbstbestimmter Tätigkeiten wird nicht von oben diktiert, sondern täglich vom Individuum aufs neue reproduziert. Natürlich war das ganze auf dem Camp nicht so ausgeprägt, es geht hier ja nur um das Prinzip und Tendenzen. Ein konkretes Beispiel hierfür lieferte ein „Gesamtpienum", das in etwa so verlief Es fing damit an, dass sich keine Redeleitung fand, was bei ein paar hundert Beteiligten, die dafür in Frage kommen schon erstaunlich ist. Zwar etwas genervt, aber dennoch wie selbstverständlich übernahm jemand aus der Orgagruppe diese Aufgabe. Allein dieser Akt lässt das vorherrschende Prinzip durchscheinen: Wenn Selbstorganisation nicht funktioniert wird die Aufgabe eben von „der Leitung" übernommen, denn es ist wohl kaum ein Zufall, dass gerade diese Person „eingeschritten" ist. Dementsprechend wurde das Plenum dann auch geleitet. Von vornherein diktierte diese Person den Ablauf des Plenums. Die Dauer wurde vorgegeben und auch, dass, weil ja Eile bestand, längere Wortbeiträge und inhaltliche Debatten unerwünscht sind. Dar Begriff Plenum verkam in diesem Fall zur Farce, weil es lediglich eine einseitige Output - Input Veranstaltung, in der Art einer Radioshow wurde. Einige Leute erzählten uns hinterher auch, dass sie gerne etwas auf dem Plenum gesagt hätten, sie sich aber auf Grund der repressive Stimmung nicht trauten. ( Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, das noch eine Veranstaltung nach dem Plenum sein sollte, weshalb die Zeit knapp war, das ändert aber an dem kritisierten Gegenstand nichts).

Noch mehr Konsumhaltung

Eine ausgeprägte Konsumhaltung war aber nicht nur auf Plena zu finden. Schon von Anfang an kamen etliche Leute auf das Camp, die überhaupt nichts vorbereitet und auch keine Ideen hatten. So waren die ersten Tage im Bezug auf Aktionen auch ziemlich mau. Erst im Laufe der Tage entwickelten sich Ideen, die dann auch Form annahmen. Auch die Tatsache, dass die Vorbereitung des Camps von so wenig Gruppen getragen wurde, zeugt davon, dass die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen nicht sehr groß ist Das Grenzcamp soll keine große Party mit Auswahlprogramm sein. Wer vorgefertigte Abenteuer konsumieren will, sollte lieber auf die Expo fahren. Jede einzelne ist gefordert, sich einzubringen und etwas zu kreieren.

Delegiertenplenum und Gesamtplenum

Wie letztes Jahr gab es neben dem großen Plenum, an dem alle teilnehmen sollten, auch ein Delegiertenplenum, auf dem Delegierte aller Gruppen/Städte über organisatorische Fragen entscheiden sollten. Die Erfahrung der letzten beiden Camps hat gezeigt, daß Auseinandersetzungen über organisatorischen „Kleinkrams" auf dem Gesamtplenum mit ein paar hundert Leuten zuviel unnötige Zeit in Anspruch nehmen und daß die Zeit dann für inhaltliche Debatten fehlt. Das Deliplenum sollte nach dem Konsensverfahren so aufgebaut sein, daß wichtige Entscheidungsprobleme von den Delegierten in die Gruppen zurück getragen werden, dort diskutiert und dann diese Ergebnis der einzelnen Gruppen wieder auf dem Deliplenum diskutiert werden. Das ganze hört sich theoretisch ja ganz gut an und wir finden ein Delegiertensystem zur Ergänzung/Entlastung eines Gesamtplenums auch sinnvoll, unsere Kritik bezieht sich aber auf die praktische Umsetzung dieser Idee. Die Gesamtplena haben deutlich an Gewicht verloren, welches das Deliplenum gewann. Wichtige Sachen wurden auf dem Deliplenum geklärt und kaum etwas wurde in die Gruppen zurückgetragen. Auf der Anderen Seite wurde die Vollversammlung kaum noch ernst genommen und diente hauptsächlich zum reinen Informationstausch. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Es ist eben viel leichter mit wenig Leuten zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. Natürlich ist es sehr schwierig, mit ein paar hundert Leuten einen Konsens zu finden. Uns geht es aber darum, im Bewusstsein zu haben, dass es immer einen Widerspruch zwischen der Idealvorstellung und der praktischen Umsetzung von Entscheidungsstrukturen mit einer großen Masse an Menschen geben wird. Es darf nur niemals, und das beobachten wir immer öfter unter „Linken", die eigentliche Idee und der Anspruch Pragmatismus und Effizienzüberlegungen untergeordner werden. Es muss immer ein Abwägen bleiben, was noch sinnvoll und was noch vertretbar ist. Nur weil es einfacher ist und „besser" funktioniert ist ein Stellvertretersystem nicht besser als ein auf Konsens aufgebautes. Zwei weitere, kleinere Kritikpunkte an den Plena:! Es ist unmöglich eine Inhaltliche Diskussion auf dem Gesamtplenum zu führen. Wir finden es aber schon sinnvoll, verschiedene Standpunkte bzw. Diskussionsstand von Gruppen oder AKs auszutauschen. Besonders das Ständige Abschieben der Sexismusdiskussionen in Ags fanden wir scheiße, weil dort nur die Leute hingehen, die sich sowieso damit auseinander setzen wollen. Der Rest wird dann einfach nicht mit der Problematik konfrontiert 2. Auch Einzelpersonen sollten die Möglichkeit haben am Deliplenum teilzunehmen. Einzelpersonen, die keine Gruppe finden (wollen), weil sie niemanden kennen und vertrauen und deshalb auch niemanden für sich sprechen lassen wollen, sind sonst vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen.

Informationsfluss

Ein weiteres Beispiel für hierarchische Entscheidungsfindungen ist der Informationsfluss. Diese Kritik wurde auch auf einem Deliplenum vorgetragen. Die Schutzgruppe hielt Informationen, die durchaus alle betrafen, bewusst zurück, weil sie dem Großteil der Campteilnehmerinnen eine eigenverantwortliche Entscheidung nicht zugestand. So wurde argumentiert, dass die Information, die nur der Schutz hatte, nämlich dass Nazis in der Stadt gesehen wurden, nur unüberlegten Aktionismus zur Folge hätte, wenn sie dem Camp mitgeteilt würde. Natürlich ist es sinnvoll, dass Gruppen, die lediglich für die Infrastruktur zuständig sind, nicht jede unwichtige Information oder jedes Problem sofort dem gesamten Camp mitteilt, sondern unwichtiges vorher ausfiltert. Doch wenn bestimmte Dinge eben eine Bedeutung haben, die über den Bereich der Gruppe hinausgeht, und sie dies auch erkennt, dann gibt es keinen Grund, diese Information nicht weiter zu leiten. Was jedeR einzelne damit anfängt liegt ganz in ihrer/seiner Verantwortung. Die Sache mit dem Schutz soll nur ein Beispiel sein. Die prinzipielle Kritik am Zurückhalten, bzw. bewusster Veränderung von Informationen lässt sich auch auf andere Bereiche anwenden.

Subtil repressives (Rede-)verhalten

Wir betrachten es als selbstverständlich, dass dominantes Redeverhalten, das besonders unter Männern zu finden ist, für emanzipatorische Menschen als eine Form von Herrschaft angesehen wird. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Die Formen, die dieses aber annehmen kann, können sehr unterschiedlich sein und werden auch nicht immer wahrgenommen. Besonders bestimmte Leute aus der Orgagruppe reagierten oft repressiv auf Kritik die sich gegen sie oder die Camporganisation wendete. Dazu gehört z.B. das lächerlich machen oder nicht ernst nehmen von Kritik, das Darstellen von sich selbst als unglaublich erfahren und deshalb über jeden Zweifel erhaben, aber auch ganz einfach rhetorische Gewandtheit,, mit der die inhaltliche Auseinandersetzung zu einer Sprachlichen wird. Dieses Verhalten erschwerte eine Diskussion auf den Plena über die oben genannten Kritikpunkte erheblich.

So, das war's jetzt erstmal. Auch wenn wir dort, wo es möglich wäre, keine konkreten Verbesserungsvorschläge formuliert haben, sind wir doch an einer solidarischen und nicht destruktiven Kritik interessiert. Der erste Schritt ist immer, etwas zu erkennen. Und so war unser primäres Ziel, erst mal ein Bewusstsein und Sensibilität für bestimmte Verhältnisse zu schaffen. So richten sich einige Punkte der Kritik natürlich auch an uns selbst.

Ahoizickzack!

aus nürnberg/fürth/erlangen

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