TATblatt

Temelin
Die unendliche Geschichte
 10/00  
trdbook.gif (1270 Byte)  
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net  ODER per Snail: Anti-Quariat 
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

Zum insgesamt fünften Mal in diesem Jahr fanden am Freitag, den 6. 10. von 6 bis 19 Uhr an allen Grenzübergängen zwischen Österreich und Tschechien Blockadeaktionen statt. Die Blockaden konnten diesmal (fast) lückenlos gehalten werden. Die Zahl der AktivistInnen schwankte zwischen drei an einigen kleineren Übergängen in NÖ und einigen hundert mit mehreren Traktoren und einer Vielzahl anderer Fahrzeugen ausgerüsteten Menschen bei den oberösterreichischen Grenzübergängen. Während die Blockaden in NÖ. wie angekündigt um 19 Uhr beendet wurden, beschloss man in Oberösterreich eine Aufrechterhaltung bis Samstagmittag. Zwischen 19 und 20 Uhr wurden jedoch auch an den oberösterreichischen Grenzen die Blockaden von der Polizei aufgelöst.

Nachdem trotz aller Proteste am Montag die Aktivierung des Reaktors eingeleitet wurde, versammelten sich spontan hunderte Menschen bei den oberösterreichischen Grenzübergängen, um diese zu blockieren - diese Blockade soll bis Anfang nächster Woche aufrechterhalten werden. Inzwischen haben sich auch an einigen niederösterreichischen Grenzübergängen wieder AktivistInnen eingefunden, und auch hier werden die Grenzen wieder blockiert.

von einem AAI-Mitarbeiter

Die Forderungen sind:

  • Das AKW sofort wieder abzuschalten, und die seit langem geforderte "Nachdenkpause" von mindestens einem halben Jahr einzuhalten.
  • Eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen
  • Keine Stromimporte von Tschechien nach Österreich.


Die unendliche Geschichte

Das Atomkraftwerk Temelin befindet sich in Südböhmen, etwa 25 km von Budweis und 50 km von der österreichischen Grenze entfernt. Bereits im Jahr 1980 wurde von der damaligen CSSR-Regierung die Errichtung von vier Druckwasserreaktoren des sowjetischen Bautyps WWER 1000 beschlossen. - Zum Vergleich:. Ein WWER 1000 Reaktor liefert 1000 MW elektrische Leistung, ein österreichisches Donaukraftwerk leistet im Durchschnitt 230 MW; alle zusammen 2300 MW, also etwas mehr als zwei Blöcke in Temelin. Im Jahr 1983 wurde mit Vorbereitungsarbeiten am zukünftigen Kraftwerksgelände begonnen, vier Jahre später die Konstruktion der Blöcke eins und zwei in Angriff genommen. Im Jahr 1989 wurde unter dem Eindruck der drastisch veränderten politischen Situation (Zusammenbruch der UDSSR) beschlossen, die Blöcke drei und vier - für die auch die Baugenehmigung ausgelaufen war - nicht zu bauen. Die nächsten drei Jahre blieb auch der Weiterbau der Blöcke eins und zwei ungewiss, sowohl in technischer als auch in finanzieller Hinsicht, da die sowjetischen Konstrukteure nicht mehr zur Verfügung standen. Im März 1993 beschloß die tschechische Regierung die Fertigstellung von Reaktor eins und zwei. Sie schrieb die technische Nachrüstung der Steuerungselektronik und die Versorgung mit nuklearem Brennstoff aus. Westinghouse bekam gegen die Konkurrenz vieler anderer Firmen den Zuschlag für beide Projekte. Seither werden immer wieder Vorwürfe von Korruption und unlauterem Wettbewerb gegen Westinghouse laut.

Die Höhe der von Westinghouse veranschlagten Arbeiten betrug 330 Millionen US $, die später durch eine Kreditgarantie über 317 Millionen $ der US Export-Import-Bank gesichert wurden. Ein erster Höhepunkt des Widerstandes gegen die Fertigstellung von Temelin war der Besuch einer österreichischen Regierungsdelegation in Washington in der Zeit der Beschlußfassung durch die ExIm-Bank. Trotz Bedenken der zuständigen Unterausschüsse des US-Parlaments stimmte die Bank am 10. März 1994 für die Vergabe der Kreditgarantie.

Seither hat sich das Datum der projektierten Inbetriebnahme von Temelin immer wieder verschoben: Noch im Jahr 1993 war mit einer Fertigstellung von Reaktor eins bis 1995 geplant, danach wurde das Jahr 1997 als Termin genannt. Im Herbst 1996 wurde die Inbetriebnahme mit Ende 1999 ins Auge gefaßt. Seitdem steht Temelin immer kurz vor Inbetriebnahme, die sich aber durch eine Reihe von technischen Pannen, swie durch wachsenden Widerstand immer weiter verzögert. Derzeit (Anfang Oktober 2000) ist der Aktivierungsprozess wieder mal unterbrochen - diesmal wegen undichter Sicherheitsventile -, aber mit einer Genehmigung der Aktivierung durch die tschechische Atomaufsichtsbehörde ist jederzeit zu rechnen.

September 1998 begann eine internationale Expertenkommission, in der auch zwei österreichische Mitglieder vertreten waren, die Wirtschaftlichkeit des Temelin-Projekts zu prüfen. Nach Abschluss der Untersuchung gelangte die Kommission zu einer kritischen Stellungnahme.

Trotzdem beschloss die tschechische Regierung am 13. Mai 1999 mit dem denkbar knappen Ergebnis von 11 zu 8 Stimmen den Weiterbau von Temelin. Damit geht die "unendliche Geschichte" von Temelin weiter.

Im März 2000 konnten Einwendungen gegen die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) über eine Atommüllbehandlungsanlage im AKW eingebracht werden. Dieses UVP-Verfahren ist das Resultat einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in Prag. Dieser stellte im Februar 1999 fest, daß alle nachträglichen Bauänderungen in Temelin einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen. Dadurch kann es noch zu einem weiteren Dutzend solcher Verfahren kommen.
 

Einige Argumente gegen Temelin:

Abgesehen von prinzipiellen Bedenken gegen die Kerntechnologie lassen sich speziell gegen Temelin folgende Argumente anführen:

1. Politische und wirtschaftliche Argumente:

  • Tschechien produziert schon jetzt (ohne Temelin) einen enormen Stromüberschuss; Temelin ist also für die Energieversorgung Tschechiens absolut nicht notwendig.
  • Durch eine Inbetriebnahme Temelins sind ca. 15.000 Arbeitsplätze in den nordböhmischen Kohlerevieren gefährdet, wenn Kohlekraftwerke deswegen geschlossen werden. Natürlich ist es aus ökologischer Sicht sinnvoll, mittelfristig Kohlekraftwereke abzuschalten, aber sie durch Kernkraft zu ersetzen heisst den Teufel mit dem Pelzebub austreiben.
  • Da Temelin für Tschechien also keineswegs notwendig ist, müsste der hier produzierte Strom hauptsächlich am internationalen Strommarkt verkauft werden. Dies könnte jedoch nur zu einem Preis geschehen, der deutlich unter den Produktionskosten liegt. Dies führt einerseits zu Wettbewerbsverzerrung (Preisdumping), wogegen bereits erste rechtliche Schritte eingeleitet wurden, andererseits wird der dadurch entstehende Verlust durch überhöhte Strompreise für die tschechischen Abnehmer kompensiert.
2. "Technische" Argumente:
  • Temelin ist der erste Reaktor, bei dem in großem Maßstab "östliche" mit "westlicher" Technologie kombiniert wird. Die von den Betreibern immer wieder geäußerte Meinung, dass dieser Technologiemix hauptsächlich der Sicherheit des AKWs dient, wird von internationalen Experten mehr als bezweifelt. - Auch die nicht enden wollende Serie von Pannen und Missgeschicken schon vor der Inbetriebnahme spricht eine andere Sprache.
  • Der Reaktortyp WWER 1000 weist im Vergleich zu den "kleineren" der Baureihe WWER 440 eine wesentlich höhere Leistungsdichte auf (bei kaum vergrößertem Reaktordruckgefäß ist die dort konzentrierte Energie mehr als doppelt so hoch). Das führt unter anderem dazu, dass dieser Reaktortyp wesentlich schneller und stärker auf allfällige Pannen und Probleme reagiert, und auch mehr Radioaktivität freigesetzt werden kann.
  • Das oft zugunsten von Temelin angeführte "Containment" (Stahlbetonkuppel, die den Primärkreislauf umschließt, und den Austritt von Radiooaktivität verhindern soll) ist nur mäßig wirksam, da laut Sicherheitsanalysen die meisten denkbaren Unfallsequenzen das Containment "umgehen" - d. h. Radiooaktivität trotz intaktem Containment freigesetzt werden kann. Außerdem liegt die Bodenplatte des Containments nicht auf Erdbodenniveau, sondern um ein Stockwerk erhöht, was einerseits die statische Stabilität der Konstruktion verringert, andererseits ein "Durchschmelzen" des Reaktorkerns durch die Bodenplatte erleichtert.
  • Temelin liegt in einem Gebiet mit erhöhter Erdbebenaktivität. Die Erdbebenresistenz wurde zwar gegenüber dem ursprünglichen Design angeblich erhöht, aber über diese (wie über viele andere) Massnahmen ist keine vollständige Dokumentation zugänglich, sodass deren fachgerechte und umfassende Durchführung zumindest bezweifelt werden kann. Darüberhinaus würde auch der erhöhte Auslegungswert nicht ausreichen, das Kraftwerk gegen ein Beben der Intensität 7, die aufgrund der geophysikalischen und historischen Daten in Temelin möglich scheint, zu schützen.
Aktuelle Entwicklung

Nachdem eine Besichtigung durch österreichische Parlamentarier und internationale Experten am Mittwoch, den 4. 10. Im wesentlichen ergebnislos blieb – laut Eva Glawischnig (Umweltsprecherin der Grünen im Parlament) wurde die Besichtigung wesentlicher Teile des Kraftwerks mit fadenscheinigen Argumenten verweigert, und die geplante Aktivierung des Reaktors für die nächsten Tage bestätigt. Auf die wiederholt gestellten Forderungen, vor Inbetriebnahme des Kraftwerks eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, und – unabhängig davon – eine mindestens sechsmonatige Nachdenkpause einzuhalten, wurde nicht eingegangen.

Am Freitag, den 6. 10. fand daher wieder eine Blockadeaktion statt, bei der alle Grenzen zwischen Österreich und Tschechien von sechs bis neunzehn Uhr blockiert wurden. Die Aktion verlief aus der Sicht der Veranstalter durchaus erfolgreich, löste aber wie zu erwarten auch nicht die gewünschte Reaktion aus. In Oberösterreich war eine Verlängerung der Blockaden bis Samstag mittag geplant, Diese wurden jedoch zwischen 19 und 20 Uhr von der Polizei aufgelöst.

Obwohl die Aktivierung nicht mehr aufzuhalten scheint, bestehen durchaus Chancen, durch breiten Widerstand auf allen Ebenen ein baldiges Aus für Temelin zu erwirken.

Gerade jetzt ist es notwendig, nicht zu resignieren, sondern den Widerstand gegen das AKW Temelin aufrechtzuerhalten.

Weitere Informationen bei Anti Atom International:
http://www.aai.at/
aai@blackbox.net
Tel.:01/5229102
(das Büro ist Mo., Di. und Fr. von 9 bis 13 Uhr und Do. von 14 bis 19 Uhr besetzt).