http://www.materialien.org 
 
Flüchtlingsbewegungen und Rassismus (*)
Zur Aktualität von Hannah Arendt "Die Nationen der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen"

von Eberhard Jungfer
 10/00  
trdbook.gif (1270 Byte)  
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net  ODER per Snail: Anti-Quariat 
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

"Seit dem ersten Weltkrieg hat jeder Krieg und jede Revolution mit einer Monotonie sondergleichen die Masse der Recht- und Heimatlosen vermehrt...Und keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager, das vor dem Zweiten Weltkrieg doch nur eine ausnahmsweise realisierte Drohung für den Staatenlosen war, zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der 'displaced persons' geworden ist."
(Hannah Arendt)

1.

Das vorliegende Heft behandelt die Migration in den 20er und 30er Jahren. Die Mobilisierung, Entrechtung und Behandlung der Migranten jener Zeit gehört zur Vorgeschichte von Auschwitz.
In der heutigen Debatte über Flüchtlinge und Asyl ist die Kenntnis über jene Flüchtlingsbewegungen nicht verbreitet. Niemand hat es unternommen, die aktuellen Fragen vor diesem Hintergrund zu reflektieren. Die Parallelen zu Weimar, die in letzter Zeit gelegentlich gezogen werden, sind mit dem Erscheinen der neonazistischen Glatzen verbunden, die vielleicht wieder das Aufdämmern eines neuen politischen Systems signalisieren; sie zielen aber nicht auf die Flüchtlingsfrage selbst und nicht auf den staatlichen Umgang mit den Flüchtlingen.

Kein Text, und auch die neuere und in Kenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse geschriebene Literatur  nicht, vermag das historische Thema eindringlicher zu beleuchten als das 9. Kapitel aus Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge". Ihre Beschreibung des Problems der Staatenlosen, deren Schaffung, Internierung und Deportation, der Internationalisierung der Judenfrage als Flüchtlingsproblem und des Zusammenbruchs des Asylrechts sowie der Aporien der Menschenrechte ist von beklemmender Aktualität. Die Bemerkungen, die sich hier anschließen, sind eine Reflexion dieses Texts. Ich gehe zunächst auf den Antisemitismus ein, den ich als gegen eine Flüchtlingsbewegung gerichteten Rassismus interpretiere, dann auf den Zusammenhang von Rassismus und staatlicher Regulation der Migration, im vierten Teil auf den Rassismus als Subjektkonstitution und schließlich auf die Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart.
 

*****

"In den Jahrzehnten zwischen den beiden Kriegen, als die Judenfrage die Schwierigkeiten des Minderheiten- wie des Staatenlosenproblems in sich vereinigte und exemplarisch repräsentierte, war es noch verhältnismäßig leicht, die Tragweite beider Probleme zu ignorieren, eben unter dem Vorwand, daß sie nur für die Schicksale des jüdischen Volkes, die ohnehin angeblich Sondergesetzen folgten, von Belang seien. ("Fällt die Judenfrage weg, so besteht zwar immer noch eine Flüchtlingsfrage, aber sie wird, da die Juden einen hohen Prozentsatz der Flüchtlinge stellen, bedeutend vereinfacht" - diese Meinung wurde eigentlich von allen geteilt. Kabermann, "Das internationale Flüchtlingsproblem", in der Zeitschrift für Politik, Band 29, Nr.3,1939.) Dabei übersah man vor allem, daß die Hitlersche Lösung der Judenfrage, in der erst die deutschen Juden in die Lage einer nicht anerkannten Minderheit in Deutschland gebracht, dann als Staatenlose über die Grenzen gejagt und schließlich überall wieder sorgsam eingesammelt und in die Vernichtungslager transportiert wurden, aller Welt aufs Deutlichste demonstrierte, wie man Minderheiten- und Staatenlosenprobleme wirklich "liquidieren" kann."
(Hannah Arendt)

2.

Die Juden jener Zeit waren die Flüchtlinge par exellence. Erst vor dieser Tatsache erschließt sich die Aktualität des Antisemitismus. Hannah Arendts Versuch, den Antisemitismus "aus der Kenntnis der Geschichte des europäischen Judentums im 19. Jahrhundert" zu "begreifen" , ist in dieser Hinsicht nicht erhellend, zumal sie diese mit der Geschichte der kleinen jüdischen Oberschicht gleichsetzt. Auch die Kritische Theorie, die den Umschlag vom Judenhaß zum Antisemitismus mit der Bindung der Juden an eine untergehende Zirkulationssphäre (Horkheimer ) und mit der autoritären Struktur der Persönlichkeit und der Stereotypie des Denkens entsprechend der Serienproduktion (Dialektik der Aufklärung, Studies in Prejudice) in Verbindung setzt, verliert über die Juden als Flüchtlinge kein Wort. Und noch Trude Maurer, die über die ostjüdischen Flüchtlinge die bislang umfangreichste Darstellung vorgelegt hat, schreibt, daß der Antisemitismus "vor allem gegen die emanzipierten und assimilierten Juden" gerichtet gewesen sei . Daß der Antisemitismus zu einem konstituierenden Faktor der Gesellschaft wurde und daß er schließlich in ein bürokratisches System der Massenvernichtung mündete, erklärt sich aber nicht aus der Geschichte der Bleichröders und Rothschilds, nicht aus dem besonderen Verhältnis der Juden zum Staat und zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und nicht aus der Häufung von Juden in den freien Berufen.

Der Antisemitismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - der des Adels zur Zeit der preußischen Reformen, die Hep-Hep Unruhen, die Ressentiments des liberalen Bürgertums, aber auch die antijüdischen Ausschreitungen der Unterschichten um 1848 - bestand aus Strömungen, die am Rande des gesellschaftlichen Prozesses standen oder stand im Zusammenhang eines traditionellen Judenhasses, der mit dem modernen Antisemitismus nur Äußerliches gemein hat. Er lieferte die Klischees. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Mehrheit der Juden auch in den deutschen Ländern, den Juden in Osteuropa nicht unähnlich, Kleinkrämer und Hausierer, Betteljuden, Hausbediente und kleine Handwerker gewesen und noch 1861 waren 60% der Juden mit Handel, Kredit und Verkehr beschäftigt und 11% von ihnen Hausierer. Der Judenhaß mußte sich mit der Assimilation der eingesessenen Juden verlieren, und dabei spielte nicht die kleine jüdischen Oberschicht die entscheidende Rolle, sondern "der Übergang selbständiger kleinkrämerischer und hausiererischer Elemente in die Klasse abhängiger Angestellter bildete das Strombett für die Entwicklung der jüdischen Ökonomik in der Neuzeit und drückte der Entwicklung des deutschen Judentums ein charakteristisches Gepräge auf" .

Sicherlich ist es, sehr allgemein gesprochen, richtig, daß die Juden in Deutschland den Abschluß ihres Emanzipationsprozesses der Durchsetzung des Kapitalismus verdanken und daß dieser mit der Krise der 1870er Jahre auch den modernen Antisemitismus provozierte . Mit diesem wurden antimodernistische Ängste und Bestrebungen in imperialistische Politikkonzepte eingebunden - durch eine Agitation, der es über die Konstruktion des Völkischen gelang, verarmende und der kapitalistischen Konkurrenz ausgesetzte Mittelschichten zu organisieren. In dieser Agitation wurden die Juden als "Repräsentanten des Kapitalismus" angeprangert, und von daher rühren die Interpretationen des Antisemitismus als antikapitalistisch oder als "Sozialismus der Dummen"; zugleich aber wurden die Aggressionen von vornherein gegen die jüdischen Flüchtlinge und Einwanderer aus Osteuropa gerichtet. "Die Ostjuden (spielten) eine entscheidende Rolle bei der Entstehung, der Mythologie und der Disposition des deutschen Antisemitismus vor dem 1. Weltkrieg. Die osteuropäischen Juden waren symbolisch und nach dem Gesetz Fremde, eine tödliche Kombination. Sichtbar und verwundbar, gaben sie ein offensichtliches und leichtes Ziel ab" . Die Bücher von Steven E. Aschheim und Jack L. Wertheimer  haben auf den modernen Antisemitismus neues Licht geworfen. Das Zusammenspiel von antisemitischer Agitation gegen ostjüdische MigrantInnen und staatlicher Diskriminierung derselben war vielleicht dessen wichtigstes Charakteristikum und hatte zur Folge, daß der Antisemitismus im Zeitalter des Imperialismus und im ersten Weltkrieg nicht dumpfer antimodernistischer Protest blieb, sondern zu einem gesellschaftlichen Konstitutionsfaktor wurde und eine Massenbasis gewann als Ideologie, in welcher die nationalen Klassen ihren Anspruch auf Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktivität  formulierten. Die jüdischen "Luftmenschen"  und Flüchtlinge wurden zum Gegenbild einer völkischen Konzeption der Gesellschaft. Die Judenfrage europäisierte sich durch die ostjüdische Migration nach Westen und infolge des deutschen Ordnungsanspruchs im Osten; sie erschien zunächst als Problem der Überbevölkerung , dann als europäisches Flüchtlingsproblem und schließlich als technisches Problem der Massenvernichtung. Die gegen das jüdische Handels- und Finanzkapital gerichteten Strömungen im Antisemitismus, wie sie im Kleinbürgertum und auf dem Lande vorkamen, wie auch der Haß der Ärzte, Juristen und Journalisten gegen ihre jüdischen Konkurrenten waren demgegenüber gänzlich zweitrangig und über antikapitalistische Inhalte des Antisemitismus nachzudenken hieße nur, selbst einer Propaganda aufzusitzen. Die ostjüdischen Migranten aber, die sich in Wien, Berlin oder Paris in neuen Ghettos sammelten, wurden zur negativen Schablone einer gesellschaftlichen Transformation. Ich werde darauf unter Punkt 4 zurückkommen.

Ich denke, der Antisemitismus ist ab dem Moment modern zu nennen, wo er eine Politik der Aussonderung, welche schon den Keim der Vernichtung in sich trägt, mit der nationalen Organisation gesellschaftlicher Produktivität verbindet. Manches spricht dafür, seine Geschichte mit den polnischen Teilungen der Jahre 1772-95 beginnen zu lassen: damit, daß die Gebiete mit der weltweit höchsten jüdischen Bevölkerungsdichte auf Rußland, Österreich-Ungarn und Preußen verteilt wurden. "Früher oder später erhob sich die Frage nach ihrer Einordnung in die sich unterschiedlich modernisierenden und industrialisierenden dynastischen Reiche, und es stellten sich unterschiedliche Antworten ein. Stilprägend und mit großer historischer Fernwirkung wurde 1791 in Rußland die Errichtung des Rayon in den neuen, ehemals polnischen Gouvernements des Westens" - also die Entrechtung und Konzentration der Juden in einem territorialen Großghetto. "Es wurde zum Ausgangspunkt für diskriminierende Maßnahmen gegen die Juden... Die verarmten, 'unaufgeklärten' Massen orthodoxer 'Ostjuden' verstärkten seit 1881 auf der Flucht vor Pogromen in Rußland den aufkommenden Antisemitismus im Westen" . Die Teilung Polens und etwas später die jüdische Emanzipation in den westeuropäischen Nationalstaaten bewirkten eine Spaltung der europäischen Judenheit nach Ost und West, eine Spaltung, von der die Geschichte des deutschen Judentums das ganze 19. Jahrhundert hindurch geprägt war. Ab Mitte des Jahrhunderts wurden die Juden aus Osteuropa mit "Ghettojuden" gleichgesetzt und die "Betteljuden", die seit Jahrhunderten durch die Länder gezogen waren, wurden zu Fremden . Die ostjüdische Orthodoxie, der die jeweiligen Machthaber gleichgültig waren und die den Blick auf den kommenden Messias richtete, bot den aufgeklärten Monarchien keine Möglichkeit einer staatlichen Integration - ein Konflikt, der sich an der Verweigerung des Militärdiensts gut darstellen ließe. Wiederholt wurde im russischen Reich versucht, des Integrationsproblems durch Zwangsaussiedlungen und Kolonisierungsprojekte Herr zu werden , aber die Ostjuden blieben die lebendige Antithese zur Verstaatlichung der Bevölkerung. Aus der polnischen Teilung hatte Preußen die Provinz Posen gewonnen, zu Habsburg kam Galizien, die ärmste Region mit hoher jüdischer Bevölkerungsdichte. Wie aus dem russischen Rayon setzte auch hier in den 1880er Jahren eine erhebliche Migration ein, vorzugsweise nach Übersee und nach Wien, das zur ersten Hochburg des politischen Antisemitismus wurde.

Der Antisemitismus als modernes Phänomen und in seiner staatlichen Institutionalisierung entstand vor dem Hintergrund der jüdischen Massenarmut und deren Migration. Zwischen 1868 und 1880 waren 40-50 000 Juden aus den Hunger- und Epidemiegebieten Westrußlands emigriert - Vorboten einer Massenmigration, die sich nach den zaristischen Pogromen von 1881 sprunghaft ausweitete und sich bis zur Jahrhundertwende auf 100 000 pro Jahr steigerte . 700 000 zogen in den Jahren 1905-14 auf dem Weg nach Übersee durchs Reich; ihre Wanderung wurde von militärischen Strategen als Destabilisierungsversuch durch den Zaren gedeutet, in Hamburg sollten sie für den Ausbruch der Cholera verantwortlich sein, Bismarck nannte sie "das unerwünschte Element". "Hatten sie einmal die Grenze überquert, sahen sich die osteuropäischen jüdischen Emigranten bemerkenswert ähnlich. Alle sprachen jiddisch, trugen den traditionellen Kaftan und erschienen erschöpft und von Armut geschlagen. In Massen auftretend, waren sie in europäischen Hauptstädten wie Paris oder Wien, in den Hafenstädten wie Hamburg oder Bremen, an Eisenbahnknotenpunkten oder in Grenzstädten ein gewohnter Anblick. Für viele Europäer waren sie die ersten 'Flüchtlinge', die diese je gesehen hatten. Man bemerkte ihr fremdes Aussehen, ihre Unordnung, ihre Erschöpfung und eine Verwirrtheit, die sie zu lähmen schien" .  Diese Juden wurden sofort zum Objekt einer neuen Generation antisemitischer Hetzer, welche die 'Infiltration' der Gesellschaft beschworen und sofortige Abschiebung forderten. Daß nur wenige jüdische Migranten im Reich blieben, war eine Folge dessen, daß die Regierungen ihre Zahl angesichts der antisemitischen Umtriebe und vor dem Hintergrund des Abwanderungsdrucks im Osten rabiat begrenzten. Nicht nur, daß die Naturalisierung für Juden aus Osteuropa praktisch unerreichbar war - "indem (ihnen) die Staatsbürgerschaft vorenthalten wurde, versicherten sich die Regierungen zugleich der Wirksamkeit ihrer wichtigsten Waffe gegen unerwünschte Ausländer - der Abschiebung. Die lokalen Behörden vertrieben diejenigen, deren Aufenthaltserlaubnis abgelaufen war. Zusätzlich griffen einige Regierungen zu sporadischen Massenabschiebungen, um das Land von osteuropäischen Juden zu säubern... In jedem Jahrzehnt der Kaiserzeit veranstaltete Preußen Massendeportationen, in denen ausländische Juden, auch mit gültigen Papieren, eingefangen und abgeschoben wurden" . Bis zur Jahrhundertwende wurden auf diese Weise mindestens 14 000 Ostjuden abgeschoben . Durch diese Deportationen wurden die Juden aus Osteuropa als Manövriermasse staatlicher Maßnahmen stigmatisiert  und zugleich den Antisemiten als Aggressionsobjekt freigegeben. Dabei war die Zahl der Juden aus Osteuropa im Reich lächerlich gering; 1910 gab es 70 000 Ausländer unter den 615 000 Juden, das entspricht 0,1% der Bevölkerung. Wohl aber bestimmte die Konzentration der armen Juden in bestimmten Vierteln der Innenstädte das Straßenbild und damit die sinnliche Qualität dessen, was - zum Beispiel in "Mein Kampf" - als Jude bezeichnet wurde: der verschlissene Immigrant aus Osteuropa. Die rassistischen Stereotypen, mit denen die Ostjuden belegt wurden, gleichen weitgehend denen, die auch heute gegen die Flüchtlinge in Verkehr gebracht werden .

Während des Kriegs akzentuierte sich die "Ostjudenfrage" neu - nicht nur, weil Deutschland nun die Gebiete des ehemaligen Rayon kontrollierte und weil zahlreiche Ostjuden die Grenze ins Reich teils als Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene, teils illegal überquert hatten, sondern nicht zuletzt auch aufgrund eines "Kulturschocks" der Frontsoldaten in den besetzten Teilen des ehemaligen Rayons. "Viele Soldaten hatten einen Anflug von Mitleid mit den Juden, als sie die Ghettos sahen, die durch die Verheerungen des Kriegs noch weiter verarmt waren. Aber dieses Gefühl war fast unvermeidbar verbunden mit Abscheu und Schock: die Welt des 'Ostjudentums' war ein sonderbares, fremdes Phänomen. Für viele bestätigte sich das Stereotyp des Ghettos: der Ostjude war keine Fiktion eines überhitzten Antisemitismus, sondern volle Realität... Das Ghetto von Wilna, so berichtete ein Armeepapier, wurde von Menschen bewohnt, die sich von Europäern radikal unterschieden. Mitten in dieser großen litauischen Stadt betrete man 'eine völlig andere Welt, die Welt des Orients'" . Der Schmutz und der Hunger, aber auch die jüdische Gemeinschaft und die Egalität in der Armut waren zum Sinnbild dessen geworden, was nicht deutsch war. Preußen hatte dann im April 1918, mit der Begründung, das Reich vor Typhus schützen zu wollen, die Immigration jüdischer Arbeiter aus Polen unterbunden und diese Politik, hinsichtlich der Juden aus Rußland, auch auf die besetzten polnischen Territorien ausgedehnt. "Ergänzend zur Verhinderung der weiteren Zuwanderung wurden bereits seit Frühsommer 1918 Ostjuden abgeschoben. Nach der Mitteilung des Kriegsministeriums handelte es sich dabei um solche Juden, die zunächst als Arbeiter gekommen seien, sich dann aber bald 'der mühelosen Beschäftigung des Schleich- und Brothandels, des Hehlens, Raubens und Betrügens' zugewandt hätten... Die Abgeschobenen seien im Generalgouvernement zunächst längere Zeit in Lagern festzuhalten. Dabei solle auf sie eingewirkt werden, daß sie als Arbeiter nach Oberost gingen. Galizische Juden könnten mit Rücksicht auf Österreich nicht in großen Transporten abgeschoben, doch interniert und zur Zwangsarbeit herangezogen werden" .

Die Situation der fünfeinhalb Millionen Juden in der "Zwielichtzone zwischen Rußland und Deutschland" trieb in der Zeit nach dem 1.Weltkrieg einer Katastrophe zu . In Polen waren drei Viertel der Juden arm, ein Drittel litt Hunger. Vor dem Krieg war es nicht viel besser gewesen, den Juden waren die Landwirtschaft und die Fabrikarbeit genausowenig zugänglich gewesen und sie hatten unter der Last endemischer Pogrome gelitten. Aber die Emigration nach Übersee  hatte einen dauernden Ausgleich geschaffen. Nach dem Krieg staute sich das Elend zurück; neben die klassischen, von zaristischen und jetzt von völkischen Agenten seit den 1880er Jahren bewirkten Pogrome traten die "kalten Pogrome" der neuen Nationalstaaten: die Elimination der Juden aus dem ökonomischen Leben. Ihre Mittlerfunktionen waren mit dem Zusammenbruch der Monarchien überholt, der jüdische Handel litt unter dem Boykott der ethnischen Mehrheiten, die Kunst der jüdischen Handwerker war durch das Fabriksystem ruiniert. Ohne Zugang zum öffentlichen Sektor und zur Fabrik sammelte sich in den ost- und südosteuropäischen Städten ein verarmtes Volk von "Luftmenschen", das sich durch Hausarbeit, Hökerei, Beziehungen und durch Zahlungen amerikanischer Hilfswerke am Leben hielt.

Diese Juden in Polen, Rumänien, Ungarn und Litauen waren Vertriebene auf Abruf. Der Weg in die USA wurde ab 1922 durch Quotierungen blockiert, England hatte seit 1905 die Einwanderung aus Osteuropa für unerwünscht erklärt; in Europa nahm nur noch Frankreich Migranten auf, und das nächstgelegene Fluchtland, Deutschland, war auch nach dem Krieg überaus unwirtlich. Als nach der Niederlage eine neue Welle des Antisemitismus um sich griff, befanden sich etwa 150 000 Ostjuden im Reich  und angesichts der Pogrome in Polen  kamen zahllose weitere Flüchtlinge illegal über die Ostgrenze. Wie wir es auch aus heutiger Zeit kennen, versuchte die Nachkriegsregierung, zwischen den antisemitischen Forderungen des Mob und dem Meinungsbild bei den Siegermächten (das insbesondere in den USA auch durch eine jüdische Öffentlichkeit geprägt war) zu vermitteln  und darin eine Linie zu finden, die schließlich darauf hinauslief, daß die Ostjuden, wie auch die polnischen Migrationsarbeiter, zu einer exemplarischen Manövriermasse für staatliche Kontroll- und Abschiebemaßnahmen wurden. Während das Demobilmachungsamt den Unternehmen immerhin nahegelegt hatte, ausländische Juden erst mit dem letzten Transport ins Ungewisse zu schicken, wurden Anfang 1919 in Oberschlesien Ausweisungen verfügt und ähnliche Maßnahmen in Berlin vorbereitet. Jüdischer Protest und die Angst vor der ausländischen Öffentlichkeit sowie der Widerstand der polnischen Behörden führten dazu, Massenausweisungen zurückzustellen und die Ausweisungspolitik im Stillen zu verfolgen. Das preußische Innenministerium verzichtete im November 1919 vorerst auf die Ausweisung polnischer Juden, aber nur bei "Vorhandensein eines Unterkommens und einer nutzbringenden Beschäftigung" oder "wenn eine der anerkannten jüdischen Hilfsorganisationen die Fürsorge für den Betroffenen derart übernimmt, daß er der öffentlichen Armenpflege oder der Erwerbslosenfürsorge nicht zur Last fällt" . Jedoch wurde der entsprechende Erlaß im November 1920 wieder aufgehoben; General von Seeckt hatte im März die Verhaftung aller Ostjuden in Berlin gefordert, und 250 von ihnen wurden einige Tage später in einem Militärlager bei Zossen interniert. Derartiges wiederholte sich bis 1923 mehrfach. "Weitere Abschiebungen wurden geplant oder durchgeführt in Oberschlesien 1920 und bis November 1923 in München, Düsseldorf und anderen Städten" . Die "schleunige Ausweisung einiger besonders übler östlicher Zuwanderer" wurde "zur Hebung der öffentlichen Stimmung" empfohlen . "Nachdem es mit Hilfe des Arbeiterfürsorgeamtes (der jüdischen Organisationen Deutschlands) gelungen war, einen Teil dieser Juden nach Übersee oder nach Frankreich und Belgien, zumeist auf illegalem Wege, abzuschieben, verblieben in Deutschland 1921 rund 55 000 sogenannte Ostjuden. Bis zu 15 000 von ihnen arbeiteten im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, rund 6000 in der sächsischen Industrie, einige tausend in der Landwirtschaft. Sieht man von den Frauen und Kindern, Handwerkern und Kleinhändlern ab, waren rund zehn Prozent dieser Ostjuden den 'wohlhabenden' Kreisen zuzurechnen. Vor allem gegen jüdische Proletarier gingen die Staatsbehörden rigoros vor."   In großer Breite wurde 1920 die Inhaftierung der Ostjuden in speziellen Lagern diskutiert und man benutzte in der Tat den Terminus "Konzentrationslager" , der aus dem englischen Burenkrieg stammte und den der sozialdemokratische preußische Innenminister Heine bereits im November 1919 vorgegeben hatte, als er in der Landesversammlung seinen oben erwähnten Erlaß mit den folgenden Worten verteidigt hatte: "Was die unerwünschten Elemente der Ostjuden betrifft, stehe ich bereits in Verhandlungen. Ich bin der Ansicht, daß auf die Dauer nichts übrig bleiben wird, als die von ihnen besonders heimgesuchten Städte zu evakuieren und sie in irgendwelche Konzentrationslager zu überführen". Heines Nachfolger Severing hielt Lager für problematisch, "denn dann würde man sagen: auf Kosten der Steuerzahler werden die Ostjuden in bequemen Baracken untergebracht und verpflegt" - und er sann auf Abhilfe: "Soweit man die Internierung in Verbindung bringen kann mit einer nutzbringenden, einer werbenden Arbeit der zu Internierenden, kann dem Plan durchaus nähergetreten werden" . Internierungslager wurden schließlich in Stargard  und Cottbus errichtet; ihre abschreckende Wirkung auf die Flüchtlinge wurde von Severings Nachfolger Dominicus hoch geschätzt , 1923 wurden sie dann aus Kostengründen wieder geschlossen.

In Deutschland ist es so: erst die Lager, dann die Pogrome. Am 4. November 1923 formierten sich, ausgehend vom Arbeitsamt Alexanderstraße, wo an diesem Tag kein Geld für Unterstützungsleistungen vorhanden war, und aufgestachelt von völkischen Agitatoren, deutsche Arbeitslose gegen die "Galizier" im Scheunenviertel. Haufen jugendlicher Burschen drangen "in die Läden und Zimmer ein, prügelten die Bewohner, zogen ihnen die Kleider vom Leibe und flohen. Dieses Treiben wurde systematisch etwa eine Stunde von Haus zu Haus fortgesetzt, ehe die Schutzpolizei alarmiert war. Jeder auf der Straße gehende jüdisch aussehende Mensch wurde von einer schreienden Menge umringt, zu Boden geschlagen und seiner Kleider beraubt" . Die Polizei aus der benachbarten Kaserne schritt dann "unter dauernden Mißhandlungen schwerster Art" zur Verhaftung der geschädigten Juden. Die Plünderungen setzten sich, unter den Schreien "Schlagt die Juden tot", die Nacht über fort und dauerten bis zum 8. November an. Amtisemitische Ausschreitungen gab es in den Monaten Oktober und November auch in Beuthen, Breslau, Königsberg, Erfurt, Coburg, Nürnberg, Oldenburg und Bremen.

Der Antisemitismus blieb konjunkturabhängig; im Boom der 20er Jahre waren die antisemitischen Umtriebe rückläufig und verstärkten sich nach der Weltwirtschaftskrise 1929, mit jedem Jahr zunehmend bis zur nazistischen Machtübernahme. Auch heute bestimmen die Krise und der Umgang mit der Flüchtlingsfrage die Aktualität dessen, was um 1880 mit antisemitischen Agitatoren und staatlichen Deportationen begann und mit Auschwitz endete.
 

*****

"Kaum hatte der Völkerbund angefangen, sich mit der Frage der Flüchtlinge zu befassen, da wurde er bereits von den ihn konstituierenden Regierungen darauf hingewiesen, daß "das Flüchtlingswerk des Völkerbundes mit der größtmöglichen Geschwindigkeit 'liquidiert' werden müsse". Die bloße Beschäftigung mit der Frage versetzte die Staatsmänner in Angst und Schrecken, als könnte sie bereits mehr und mehr Menschen ermutigen, die fragwürdige Existenz eines staatenlosen Flüchtlings der gegenwärtigen Situation vorzuziehen. Die Liquidierung des Werks gelang nie restlos, da es ja nicht (oder noch nicht) möglich war, die Flüchtlinge selbst zu "liquidieren"; immerhin gelang es, die potentiellen Flüchtlinge, die sich in ihrer verzweifelten Lage ja deshalb befanden, weil der internationale Minderheitenschutz nicht funktionierte, darüber aufzuklären, daß kein internationales Statut und keine Institution wie das Nansen-Office sich ihrer Interessen annehmen würde. Man verschlechterte die Situation der Staatenlosen willentlich, um Abschreckungsmaßnahmen zu schaffen, wobei manche Regierungen so weit gingen, jeden Flüchtling kurzerhand als "lästigen Ausländer" zu bezeichnen und ihre Polizei anzuweisen, sie dementsprechend zu behandeln. Wieweit diese Abschreckungsmaßnahmen effektiv waren, ist schwer abzuschätzen. In den letzten Jahren vor Kriegsausbruch hatten die Polizeien der westlichen Länder alle Übersicht über die Ausländer verloren, weil die Flüchtlinge sich in die Illegalität gerettet hatten..."
(Hannah Arendt)

3.

Ich versuche, Zugänge zum Thema Rassismus zu finden, die nicht einer ideologischen Debatte, sondern einer historischen Annäherung entstammen. Zuerst ging es um die Aktualität des Antisemitismus, hier um die Migrationsbewegungen vor und nach dem 1. Weltkrieg und um deren Regulation. Aristide R. Zolberg hat darauf verwiesen, daß die theoretische Literatur zur Migration über die Politik der Zuzugsbegrenzung und der Abschiebungen wenig zu sagen weiß und daß in den psychologisierenden Erklärungen des Rassismus eine Tautologie steckt, weil von den Phänomenen auf die Ursache rückgeschlossen wird. Für ihn ist die Migrationspolitik der Rahmen, in dem der Rassismus diskutiert werden sollte als zweckvolle Organisation von Vorurteilen zu Ideologien, auf deren Basis spezifische politische Ziele durchgesetzt werden konnten . Zwischen der Migrationspolitik des Staats und dem Rassismus in der Gesellschaft besteht ein Zusammenhang, welcher der Forschung eigentlich viel leichter zugänglich sein müßte als etwa dessen tiefenpsychologische Aspekte.

(*) Dieser Text ist die Einleitung zu: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik Nr. 11 erschienen im Verlag Schwarze Risse-Rote Strasse,  Berlin 1993, fax  030/ 692 87 79. Als Sonderdruck  auch  als report 19 bei medico international, fax 069/43 60 02  (8,-- DM)