Marx 2000

von Robert Kurz
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Nach dem Untergang der Staatssozialismen hat der Kapitalismus die altbekannte marxistische Metapher vom Totengräber umgedreht und für sich selber beansprucht. Wenn aber der Marxschen Theorie zum wiederholten Male das Grab geschaufelt wird, dann bringt die offizielle akademische Wissenschaft mit Sicherheit den falschen Leichnam unter die Erde. Das Marxsche Werk stellt nämlich, obwohl es von den staatssozialistischen bürokratischen Diktaturen für legitimatorische Zwecke ausgeschlachtet wurde, seinem eigentlichen Gehalt nach keine positive Theorie des "sozialistischen Aufbaus" dar, sondern ganz im Gegenteil eine negative Krisentheorie des modernen warenproduzierenden Systems. Das logische und analytische Bezugsfeld ist daher der entwicklungstheoretisch extrapolierte, im Lichte seiner zukünftigen Krisenreife dargestellte Kapitalismus.

Die ideologische Instrumentalisierung für die Probleme einer "nachholenden Modernisierung" an der kapitalistisch zurückgebliebenen Peripherie des Weltmarkts (von der Oktoberrevolution bis zu den sogenannten Befreiungsbewegungen der 3. Welt) hat diesen theoretischen Kern völlig verdunkelt. Dabei handelte es sich freilich keineswegs um einen innertheoretischen "Irrtum", sondern um den Gang der realen Geschichte: Das 20. Jahrhundert wurde ja in der Tat nicht von der substantiellen Krise der kapitalistischen Produktionsweise beherrscht, sondern von den Krisen der historischen Ungleichzeitigkeit, wie sie aus dem globalen Gefälle von Kapitalkraft und Produktivität innerhalb dieses Systems selbst hervorgingen. Wenn die historischen Nachzügler einen verkürzten und verstümmelten Marx als legitimatorischen Ideologieträger für sich reklamierten, um doch noch als eigenständige und satisfaktionsfähige Teilhaber am bürgerlichen Universum des Weltmarkts firmieren zu können, dann war das gewissermaßen ihr gutes Recht. Der Versuch mußte aber notwendig scheitern an den Kriterien jener Systemlogik, die man durch staatliche Moderation glaubte bändigen zu können.

Der Zusammenbruch staatlich geplanter Marktsysteme hat den westlichen Kapitalismus mit sich allein gelassen: Er ist jetzt zum totalen, unipolaren, globalisierten und "vergleichzeitigten" System geworden und hat keine Möglichkeit mehr, sich an den veräußerlichten und zum vermeintlichen Gegensystem aufgeblasenen Strukturen seiner eigenen historischen Ungleichzeitigkeit ideologisch zu mästen. Denn die westliche Selbstlegitimation hatte ja ihrerseits immer nur von den Defiziten der "nachholenden Modernisierung" gelebt, gemessen am Entwicklungsstand der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder (Warenkonsumideologie, Menschenrechtskampagne etc.). Nunmehr muß sich der Kapitalismus an sich selbst beweisen, und daran versagt er kläglich. Von Jahr zu Jahr wird es unglaubwürdiger, das unaufhaltsam anschwellende Massenelend im Osten und Süden als bloße "Erblast" der verblichenen Systeme zu verkaufen. Vollends lächerlich wäre es, für die zunehmende Massenarmut und soziale Degradation im Westen selbst jenen alten bösen Feind noch einmal irgendwie verantwortlich machen zu wollen. Was jetzt geschieht, ist immer nur Wirkung der wunderbaren und einzigen "Marktwirtschaft".
In dieser zwielichtigen gesellschaftlichen Situation gilt es keineswegs bloß, Marx nicht zu vergessen, sondern ihn überhaupt erst zu entdecken und seine Theorie mit neuen Augen zu lesen als Entwicklungs- und Krisentheorie des modernen warenproduzierenden Systems (ein Begriff, der logisch den westlichen Kapitalismus und die staatssozialistischen Systeme nachholender Modernisierung zusammenfaßt). Eine solche Lesart der Marxschen Theorie "gegen den Strich" ihrer geläufigen Interpretation erfordert freilich zweierlei. Nämlich erstens ihre Historisierung, d.h. ihre Entstaubung von jenen Elementen, in denen Marx selber noch innerhalb des Horizonts bürgerlicher Modernisierung dachte. Zweitens aber ist es für eine solche Lesart erforderlich, die Marxsche Theorie gewissermaßen umzupolen, sie also nicht mehr als positivistische Darstellung der kapitalistischen Kategorien zu verstehen (die dann in der unaufgehobenen Form bürgerlicher Subjektivität "bewältigt" werden sollen), sondern umgekehrt als deren immanente radikale Kritik. Mit anderen Worten: Es gilt die historisch bedingten Widersprüche in der Marxschen Theorie zu erkennen und aufzuheben. Erst mit negativem statt positivem Vorzeichen kann dieses Werk wieder zum theoretischen Sprengsatz werden.

Der Gehalt der Arbeitswertlehre

Der Begriff der "Arbeit" ist auf eine doppelte Weise konstitutiv für alle modernen Gesellschaften: nämlich in einem ökonomisch-strukturellen und in einem ethisch-moralischen Sinne. Die protestantische Arbeitsethik als Säkularisierung des christlichen Leidensmasochismus wurde vom aufklärerischen Liberalismus übernommen und ging als bürgerliches Erbe in den Marxismus ein. Dasselbe geschah mit der Ökonomisierung der positiven protestantischen Arbeitskategorie durch die Klassiker der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre und durch Marx in ihrem Gefolge. Dabei handelte es sich jedoch nicht um bloß spekulative theoretische Setzungen, sondern um die theoretische Reflexion der real sich entfaltenden kapitalistischen Produktionsweise. In diesem zunächst gemeinsamen Verständnis erscheint die "Arbeit", also die Verausgabung menschlicher Energie für die Zwecke gesellschaftlicher (Re)Produktion, als die Substanz des ökonomischen Werts, der sich wiederum in der Erscheinungform Geld (der ausgesonderten "allgemeinen Ware") darstellt: Als Arbeitsgegenstände sind die Waren Wertgegenstände und haben Geldpreise.

Für das Verständnis bürgerlicher Subjektivität ist dieser Zusammenhang ein positiver und verinnerlichter. Und soweit Marx selber noch modernisierungs-theoretisch argumentiert, erscheint diese Positivierung auch bei ihm. In diesem Sinne erweist sich das Marxsche Werk als Abkömmling der liberalen Ideologie und der klassischen Volkswirtschaftslehre, der zwar einerseits diese Muttertheorie der Moderne tötet, andererseits aber selber noch ihre Muttermale trägt. Gerade dieser positivistische Marx aber ist der bekannte "exoterische" Arbeiterbewegungs- und Klassenkampf-Marx. Die Redeweise vom Mehrwert als der Form einer "unbezahlten Mehrarbeit" und die dadurch strukturell bestimmte "Ausbeutung" der Arbeiter durch die Kapitalisten legt es nahe, irgendwie den "vollen Wert" für die "Arbeiterklasse" zu reklamieren. Damit aber sind Wert und "Arbeit" als Form- und Substanzkategorien der kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig zu ontologischen, überhistorischen Existenzbedingungen positiviert.
Das Problem des gesellschaftlichen Widerspruchs löst sich so in subjektive Willensverhältnisse auf, da ja die Strukturkategorien selbst als neutrale, positive und ontologische zum stummen Apriori geworden sind: Es scheint dann so, als wäre der Kapitalismus dadurch bestimmt, daß eine Klasse von Herrschaftssubjekten eine andere, unterdrückte Klasse von Arbeitssubjekten zu Nutz und Frommen der "herrschenden Klasse" schuften ließe, um für letztere materielle Reichtümer und ein daraus zu ziehendes Wohlergehen davonzutragen. Zwar unscharf und widersprüchlich in der Begrifflichkeit und Darstellung, verweist die Tiefendimension der Marxschen Theorie jedoch auf ein ganz anderes Verständnis. In dieser Lesart erscheint die "Arbeit" plötzlich nicht mehr als positive, sondern als negative Substanz, und der Wert demzufolge als die Form einer negativen Vergesellschaftung. Die Arbeitssubstanz des Werts ist real und objektiv, aber nur innerhalb des modernen warenproduzierenden Systems. In keiner anderen Produktions- und Lebensweise hat jemals die praktische Tätigkeit der Gesellschaft im "Stoffwechselprozeß mit der Natur" (Marx) den substantiellen Gehalt der gesellschaftlich-allgemeinen (übergreifenden) Abstraktion "Arbeit" angenommen und in der Form des Werts den gesamten Reproduktionsprozeß beherrscht.

In diesem System ist das Geld, die handgreifliche Erscheinungsform des Werts, auf sich selbst rückgekoppelt. In der Verwertungsbewegung des Kapitals, die aus Geld mehr Geld macht, wird es zum prozessierenden Selbstzweck. Wenn aber die Substanz des Werts und damit des Geldes "Arbeit" ist, definiert sich somit auch letztere als Selbstzweck: als auf sich selbst rückgekoppelte permanente Entäußerung menschlicher Energie. Die systemische Rückkoppelung macht die "Arbeit" erst zur "Arbeit" und das Geld erst zum Geld, indem sich der mediale Charakter der "Arbeit" im "Stoffwechselprozeß mit der Natur" und der mediale Charakter des Geldes im sozialen Stoffwechselprozeß der Gesellschaft jeweils zum Zweck verkehrt, der den handelnden Subjekten immer schon vorausgesetzt ist. Marx nennt diese paradoxe und irrationale Verselbständigung des Mittels oder Mediums das "automatische Subjekt" der Moderne.

Weit davon entfernt, selber die Subjekte der ganzen Veranstaltung zu sein, erweisen sich die Kapitaleigentümer ebenso wie die Manager als bloße Funktionäre dieses "automatischen Subjekts" jenseits aller eigenen Zielsetzungen; wobei übrigens die Gratifikationen für die sogenannten Herrschenden im Verhältnis zum gigantischen Aufwand geradezu lächerlich wirken und hinter den Luxuskonsum aller vormodernen Eliten weit zurückfallen, ja sogar mit fortschreitender kapitalistischer Entwicklung immer dümmer und dürftiger geworden sind. Zu diesem Verständnis der kapitalistischen Produktions- und Lebensverhältnisse würde eigentlich viel besser der Begriff der (objektivierten) "Vernutzung" des Arbeitsvermögens passen als der Begriff der (subjektiv und soziologisch beschränkt aufgefaßten) "Ausbeutung". Den Lohnarbeitern wird nicht ihr eigenes gesellschaftliches Produkt unmittelbar vorenthalten, sondern vielmehr wird die gesellschaftliche Reichtumsproduktion selber den systemischen Restriktionen eines monströsen Selbstzwecks unterworfen.

Indem das verselbständigte Mittel ("Arbeit") oder Medium (Geld) selbstbezüglich geworden ist, entsteht ein paradoxes "gesellschaftliches Verhältnis der Sachen" (Marx), während die Menschen selber nicht direkt aufeinander bezogen sind, sondern primär voneinander isoliert bleiben und erst über die Werteigenschaft der Produkte sekundär vergesellschaftet werden. Genau das ist es, was Marx den Fetischismus der Warenform genannt hat. Der Einsatz der gesellschaftlichen Ressourcen geschieht nicht vermittels einer bewußten gemeinschaftlichen Regulation im vorhinein durch gesellschaftliche Institutionen, sondern vermittels einer blinden Verausgabung von Arbeitsenergie für anonyme Mäkte, deren gesellschaftliches Zusammenstimmen sich ebenso blind und objektiviert-systemgesetzlich erst im nachhinein und "hinter dem Rücken" der beteiligten Subjekte erweisen kann, also niemals gewährleistet ist (was bekanntlich Adam Smith mit dem Topos der "invisible hand" gefeiert hat, obwohl die Friktionen einer derartigen blinden Vergesellschaftung offensichtlich sind).

In diesem Fetischismus einer Vergesellschaftung der toten Dinge statt der lebendigen Menschen selbst, der das Wesen des "automatischen Subjekts" ausmacht, stellt sich ein Verhältnis von Form und substantiellem Inhalt her, das sowohl real als auch phantasmagorisch ist. Die konkrete menschliche Tätigkeit in der Umformung der Naturstoffe bleibt ungesellschaftlich und partikular ("betriebswirtschaftlich"), obwohl sie von vornherein nicht autark, sondern auf einen Zusammenhang allseitiger und wechselseitiger Abhängigkeit ausgerichtet ist. Die erst sekundäre Vergesellschaftung über den Markt macht zweierlei notwendig: Erstens wird die produktive Tätigkeit jeder konkreten Bestimmung entkleidet, also abstraktifiziert zur puren "Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn" (Marx) und erst dadurch zur abstrakten "Arbeit", um die qualitativ verschiedenen Tätigkeiten und Güter im Äquivalententausch kommensurabel zu machen; zweitens erscheint diese abstraktifizierte Verausgabung von menschlich-gesellschaftlicher Energie (in der durch den jeweiligen Produktivitätsstandard gültigen Quantifizierung) nunmehr, obwohl sie als realer Prozeß bereits vergangen ist, als gesellschaftliche Eigenschaft und Substanz der Produkte - die wiederum durch die ausgesonderte "allgemeine Ware" des Geldes ihren Ausdruck in der Form des Geldpreises erhält.
Weil jedoch das Geld als Geldkapital in der "Verwertung des Werts" das übergreifende und selbstbezügliche Moment (und insofern auch den Ausgangspunkt) darstellt, findet die konkrete Tätigkeit des produktiven menschlichen Naturbezugs auch von vornherein nur im Hinblick (und für den Selbstzweck) der in Werteigenschaft und Geld buchstäblich real gewordenen Abstraktion statt: Der Verkehrung von Zweck und Mittel entspricht daher eine Verkehrung des Konkreten und des Abstrakten; das Konkretum ist nur noch Ausdruck des Abstraktums statt umgekehrt. Die sogenannte "konkrete Arbeit" und das entsprechende Spektrum der "Gebrauchswerte" sind also nicht die "gute", bedürfnisorientierte Seite des Systems, sondern selber nur die konkrete Erscheinungsform einer Realabstraktion. Denn die konkrete Produktionstätigkeit erscheint gesellschaftlich nur als "Träger" dieser Abstraktion. Sie steht nicht für sich, sondern unterliegt dem Diktat der "Verwertung des Werts". Die "konkrete Arbeit" bringt daher auch irrationale und zerstörerische Resultate auf der Gebrauchswertseite hervor; und zwar wider besseren Wissens aller Beteiligten, die dennoch an den Strukturzwang des Systems gefesselt bleiben.

Phantasmagorisch dabei ist natürlich die Werteigenschaft der Produkte als Träger verausgabter und abstraktifizierter "Arbeitssubstanz". Denn erstens kann die produzierende Tätigkeit nicht real als abstrakte Verausgabung menschlicher Energie von der stofflich-sinnlichen Gestalt der "konkreten Arbeit" abgelöst werden. Dieser Vorgang findet nur im abstraktifizierenden gesellschaftlichen Unbewußten als impliziter Automatismus statt, auch wenn er im Geld reale dingliche Gestalt annimmt: Durch das Geld tritt der Gesellschaft ihre eigene bewußtlose Abstraktion als verselbständigte, entfremdete Macht gegenüber. Zweitens kann die produzierende Tätigkeit, da es sich um einen lebendigen Prozeß handelt, auch nicht real als abstraktifizierter "Stoff sui generis" in "geronnener" Form an den Produkten festgehalten werden. Die sozial voneinander getrennten, erst im nachhinein über die Produkte miteinander vermittelten Gesellschaftsmitglieder müssen also ihre vergangene jeweilige "Arbeit" als Eigenschaft der Produkte halluzinieren (und in der systemischen Rückkoppelung die jeweilige Produktionstätigkeit unter diesem Aspekt ihrer abstrakten und halluzinatorischen Verdinglichung bereits beginnen). Nur ein in den Kategorien des warenproduzierenden Systems sozialisiertes Wesen wird die materiell nirgendwo dingfest zu machende halluzinierte Wert- und Preiseigenschaft überhaupt wahrnehmen. Diese fetischistische Halluzination ist aber dennoch keine willkürliche und zufällige: Die gemäß dem jeweiligen Produktivitätsstandard gesellschaftlich gültige Arbeitsmenge muß wirklich verausgabt worden sein. Der als warenproduzierendes System in Erscheinung tretende kapitalistische Selbstzweck gewinnt Festigkeit und Reproduktionsfähigkeit nur als gesellschaftlich-halluzinatorische Verhältnisbeziehung von in der Vergangenheit jeweils real (in konkret-sinnlicher Form) verausgabten Arbeitsquanta.

Die Marxsche Analyse der kapitalistischen Tiefenstruktur und des darin eingeschlossenen Fetischismus, die den negativen Charakter der Arbeitssubstanz und ihrer Wertform enthüllt, wurde vom Arbeiterbewegungs-Marxismus schamhaft ignoriert und von der offiziellen Volkswirtschaftslehre als "philosophischer Quatsch" abgetan. In ihrer Abwehr der Marxschen Theorie verwarf die akademische Wissenschaft sogar die Lehre der bürgerlichen Klassiker von der aufgewendeten Arbeitsmenge als Inhalt des ökonomischen Werts. Das herrschende Bewußtsein behielt vom positiven Arbeitsbegriff nur die ethische repressive Sinngebung und Zwangsmoral bei und wappnete sich so durch Ignoranz gegen die im Marxschen Fetischbegriff lauernde Erkenntnis der eigenen irrationalen Konstitution. Die Volkswirtschaftslehre verflachte zur Grenznutzentheorie oder subjektiven Wertlehre, die den Wertbegriff völlig in der Erscheinung des Preises auflöst und den Preis wiederum auf das rein subjektive Nutzenkalkül der (als solche apriorisch vorausgesetzten) Marktteilnehmer zurückführt. Diese postklassische Theorie kann und will eigentlich nichts mehr erklären, sondern nur noch die Kalküle der Marktsubjekte in eine systemisch mathematisierte Darstellung bringen. In den Gesellschaftswissenschaften tritt die Mathematik offensichtlich immer dann auf den Plan, wenn der kritische Begriff verlorengegangen ist und die Deskription des begriffslos gewordenen sozialen Zusammenhangs handhabbar gemacht werden soll.

Daß der Preis nichts mit einer objektiven Wertsubstanz zu tun habe, sondern in den subjektiven Nutzenschätzungen aufgehe, kann jedoch nur an Extremsituationen außerhalb der implizit vorausgesetzten gesellschaftlichen Beziehungen den Schein der Plausibilität gewinnen; so etwa beim berühmten "Glas Wasser in der Wüste", dessen Grenznutzen nahezu ins Unendliche steigen würde. Solche Beispiele sind jedoch unernsthaft, weil sie aus den alltäglichen Vollzügen sozialökonomischer Handlungen und somit aus dem Gegenstandsbereich der Volkswirtschaftslehre herausfallen. Innerhalb der realen Gesellschaftlichkeit eines warenproduzierenden Systems dagegen ist der Erklärungswert der Grenznutzenschätzungen von Gebrauchswerten gleich Null. Denn die Marktteilnehmer wägen zwar selbstverständlich beim Kauf ihren subjektiven Nutzen und den dafür zu zahlenden Preis ab; aber sie tun dies eben keineswegs voraussetzungslos, sondern unter objektivierten Bedingungen, die ihnen aufgeherrscht sind und die bereits apriori und unreflektiert in ihr Kalkül eingehen. Dabei verdreht die subjektive Wert- bzw. Preislehre Ursache und Wirkung. Denn normalerweise steht ja ein Gut nur deshalb in größerer Reichlichkeit zur Verfügung, weil die entsprechende Produktivität erhöht, also die aufgewendete Arbeitsmenge pro Exemplar vermindert und somit der objektive Wert der einzelnen Ware durch Verminderung seiner Arbeitssubstanz gesenkt worden ist. Die subjektive Nutzenschätzung folgt also bestenfalls nur dem Gang der gesellschaftlichen Produktivität bei der Verausgabung von Arbeitssubstanz.

Die Empfindung des größeren oder geringeren Nutzens durch den Grad der eigenen Bedürftigkeit reguliert jedoch keineswegs die Produktion der Güter. Wenn etwa für eine große Masse von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die subjektive Nutzenschätzung von für sie unerreichbar gewordenen Gütern steigt, so werden deswegen nicht etwa auch die Preise dieser Güter steigen, sondern im Gegenteil eher fallen, weil die Nachfrage trotz steigender Bedürftigkeit mangels Kaufkraft abgenommen hat. Es wäre ein bloßer Zynismus, dieses Fallen der Preise (etwa in einem deflationären Schub) darauf zurückzuführen, daß der Grenznutzen der Güter durch Sättigung der entsprechenden Bedürfnisse eben abgenommen habe. Umgekehrt wird die mangelnde Nachfrage aber auch nicht zu einem beliebigen Sinken der Preise weit unter die durch den Produktivitätsstandard objektivierte Arbeitssubstanz führen, sondern vielmehr zur Stillegung der Produktion trotz unbefriedigter (sogar elementarer) Bedürfnisse und reichlicher Produktionspotenz.

Die Grenznutzenschule oder subjektive Wertlehre samt ihren diversen Fortentwicklungen im 20. Jahrhundert ignoriert vollständig, daß die marktwirtschaftlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht durch die Subjekte der Zirkulation, sondern durch den irrationalen Selbstzweck der Produktion bestimmt wird. Die von Marx analysierte kapitalistische Verkehrung von Zweck und Mittel erzwingt erstens, daß die Menschen überhaupt nicht als Nachfrager auf den Warenmärkten erscheinen können, bevor sie nicht im Namen des systemischen Selbstzwecks ihr eigenes Fell auf den Arbeitsmärkten verscherbelt haben. Daraus folgt zweitens, daß der Warenmarkt gerade nicht der Ort ist, an dem die Gebrauchswert-Nutzenschätzungen unabhängig produzierender Subjekte aufeinander treffen. Vielmehr stellt der Markt, der Ort der scheinhaften zirkulativen "Freiheit" des Kaufens und Verkaufens, nichts anderes als die Sphäre der "Realisation des Mehrwerts" dar, d.h. der Rückverwandlung der verausgabten Arbeitsquanta in die Form des prozessierende Geldkapitals. Der Warenmarkt ist insofern nur eine Durchlaufstufe des rastlos pulsierenden kapitalistischen Selbstzwecks und weit davon entfernt, durch eine Summe subjektiver Nutzenschätzungen konstituiert zu werden. Genau umgekehrt: diese Nutzenschätzungen können sich nur im Rahmen der vorgegebenen kapitalistischen Systemgesetze bewegen. Der Begriff des Nutzens selbst ist davon bestimmt und keineswegs vom Wohlbehagen und von der Bedürfnisbefriedigung der Marktteilnehmer.

Der tendenzielle Fall der Profitrate und das Zusammenbruchsgesetz des Kapitals

Es ist leicht erkennbar, was die Ideologen der Volkswirtschaftslehre bei ihrer Leugnung der objektiven Arbeitssubstanz umtreibt: Das Substanzproblem muß entsorgt werden, weil dem Kapitalismus selber die Tendenz innewohnt, diese Substanz überflüssig und obsolet zu machen, genau dadurch aber sich selbst zu zerstören. Für ein Bewußtsein, das nur in den bürgerlichen Formkategorien (der Zirkulation, des Warentauschs und seiner "Relationalitäten") denken kann und will, muß deswegen die Form für sich allein übrigbleiben und - mit welchen scheinemanzipatorischen Illusionen auch immer - verewigt werden, während der substantielle Inhalt ideologisch entwirklicht wird, um die Katastrophenpotenz seiner realen Entwirklichung und damit das unaufhaltsame Obsoletwerden des Warentauschs und seiner Bewußtseinsformen nicht wahrhaben zu müssen.

Der systemische Selbstwiderspruch, in dem der Kapitalismus seine eigene fetischistische Substanz zerstört, wird gerade durch den hoch gepriesenen Konkurrenzmechanismus gesetzt, der die kapitalistische Dynamik antreibt. Diese von der Vermittlung über anonyme Märkte erzeugte Konkurrenz der partikularen betriebswirtschaftlichen Marktteilnehmer erzwingt eine permanente Steigerung der Produktivität, die auf die Dauer wiederum nur zu erreichen ist, indem menschliche Arbeitskraft durch "wissenschaftlich-technische Agenzien" (Marx) ersetzt wird. Das bedeutet, daß die einzelne Ware logischerweise immer weniger "wert" ist, weil sie immer weniger "Arbeitssubstanz" darstellen kann. Somit ist ein absoluter Endpunkt extrapolierbar, an dem die gesamte gesellschaftliche Arbeitssubstanz auf eine derart geringe Quantität herabgesetzt wird, daß die halluzinierte Werteigenschaft der Produkte real verfällt und ad absurdum geführt wird.

Wenn sich die kapitalistische Produktionsweise trotz dieses logischen Selbstwiderspruchs reproduzieren konnte, so nur durch ihre beständige Expansion: Je weniger Wert alias Arbeitssubstanz die einzelne Ware darstellen konnte, desto mehr Waren mußten produziert und verkauft werden. Solange sich die Menge der produzierten Waren schneller ausdehnte als sich die Arbeits- oder Wertsubstanz der einzelnen Ware verminderte, wurde der Systemzusammenbruch hinausgeschoben. Es galt also, die Welt mit Waren zuzuschütten und die Menschen darauf zu konditionieren, ihr Leben in der Form einer unaufhörlichen Warenproduktion und eines ständig gesteigerten Warenkonsums zu organisieren. Innerhalb dieses Horizonts der kapitalistischen Binnen- oder Durchsetzungsgeschichte konnte die Expansionsbewegung zwar krisenhafte Stockungen erleben, aber sie kam immer wieder in Gang.

Auf genau dieser Ebene ist auch das berühmte Marxsche "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" angesiedelt. Die Profitrate ist das Verhältnis des betriebswirtschaftlichen Gewinns zu den gesamten Vorauskosten. Am Ende des Reproduktionsprozesses eines Kapitals müssen die Vorauskosten wieder eingespielt und außerdem ein Surplus erzielt worden sein. Die Vorauskosten setzen sich nun aus zwei Bestandteilen zusammen: den Kosten für das Sachkapital (Gebäude, Maschinen, Verarbeitungsmaterial) und den Kosten für die Lohnarbeiter. Da sich der Wert der toten Materialbestandteile durch den Produktionsprozeß an den Produkten nur unveränderlich reproduziert (die Wertsubstanz wird gewissermaßen, in der Sprache der fetischistischen Halluzination ausgedrückt, durch die Abnutzung der Materialien auf die Produkte "übertragen"), kann der Surplus nur vom Anteil der lebendigen Arbeitskraft kommen, die über ihre eigene Reproduktion hinaus zusätzliche Wertsubstanz schafft und so den gesellschaftlichen Automaten füttert.

Wie sich nun wegen der Substitution von Arbeitskraft durch wissenschaftlich-technische Aggregate die Wertsubstanz der einzelnen Ware vermindert, so fällt durch denselben Prozeß logischerweise auch die Profitrate eines jeweiligen Geldkapitals von bestimmter Größenordnung. Denn wenn sich der relative Anteil der bloß reproduzierten und keine zusätzliche Surplus-Wertsubstanz schöpfenden toten Materialbestandteile am eingesetzten Gesamtkapital ständig vergrößert, während der relative Anteil der allein Surplus-Wertsubstanz setzenden Arbeitskraft sich entsprechend vermindert, so muß notwendigerweise auch der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital immer kleiner werden. Mit anderen Worten: Um denselben Profit erzielen zu können, sind immer größere Vorauskosten erforderlich.

Wie der Name schon sagt, ist dieser "tendenzielle Fall der Profitrate" aber nur eine relative Größe, die deshalb keineswegs (wie oft fälschlich angenommen wird) die absolute Grenze der kapitalistischen Produktionsweise markiert und etwa das Argument dafür wäre. Das Fallen der Profitrate ist nur die Art und Weise, wie der kapitalistische Selbstwiderspruch auch in der kompensierenden Expansionsbewegung zum Ausdruck kommt. Wie die Verminderung der Wertsubstanz an der einzelnen Ware dadurch kompensiert und überkompensiert wird, daß sich die Produktion zusätzlicher Waren schneller ausdehnt und also trotzdem insgesamt mehr Wertsubstanz "erzeugt" wird, ebenso wird durch denselben Prozeß der Fall der Profitrate dadurch kompensiert und überkompensiert, daß insgesamt mehr Geldkapital eingesetzt wird, als sich die Profitrate des einzelnen, jeweiligen Geldkapitals vermindert. Die (relative) Profitrate kann also fallen, während die (absolute) Profitmasse trotzdem steigt.

Dieser bloß relative Charakter des Falls der Profitrate zeigt sich auch in den von Marx genannten "entgegenwirkenden Ursachen", deren wichtigste die Verbilligung des sogenannten "konstanten Kapitals" (d.h. des toten Sachkapitals) ist. Wenn die Steigerung der Produktivität bei der Produktion von Produktionsmitteln (Investitionsgütern) größer ist als die Produktivitätssteigerung insgesamt, dann verbilligen sich auch die Sachkapitalgüter mehr als sich der Anteil der lebendigen Arbeitskraft pro Geldkapital vermindert; der Fall der Profitrate kann also aufgehalten werden oder die Profitrate kann sogar steigen, obwohl sich die "stofflich-technische Masse" des toten Sachkapitals im Verhältnis zur rentabel einsetzbaren Arbeitskraft weiterhin erhöht. Aber da sich die kapitalistischen Kategorien immer nur auf die Realabstraktion der Wertsubstanz beziehen, kommt es auch allein auf deren Größenverhältnisse an. Kann also die schnellere Verbilligung des Sachkapitals den Fall der Profitrate stoppen, so ist sie doch gleichzeitig absolut gesehen Bestandteil der Verminderung der Wertsubstanz pro Ware, da diese ja bei der Steigerung der Produktivität in der Produktion von Investitionsgütern ebenso gültig ist wie in der Produktion von Konsumgütern.

Was in den Krisen geschieht, ist eben gerade nicht ein irgendwie verstärkter Fall der relativen Profitrate, sondern der Fall der absoluten Profitmasse, d.h. die kompensierende Expansionsbewegung kommt zum Stehen und damit die Produktion überhaupt in einem großen, gesellschaftlichen Ausmaß. An diesen Krisen ist ihrerseits nur soviel relativ, als sie zeitlich beschränkt sind, also sich nur auf eine bestimmte Konstellation der noch nicht abgeschlossenen kapitalistischen Entwicklung beziehen. Marx sah als abstrakte Möglichkeit (und in den "Grundrissen" als logischen Endpunkt) eine ausweglose Konstellation voraus, in der die kompensierende Expansionsbewegung nicht mehr in Gang kommen kann, die absolute Profitmasse ins Bodenlose fällt und die Mehrheit der Bevölkerung "außer Kurs gesetzt wird", weil die zugrunde liegende Produktion von "Wertsubstanz" durch den erreichten Grad der Verwissenschaftlichung (und damit der Substitution von Arbeitskraft durch technische Aggregate) nicht mehr in einem gesellschaftlich nennenswerten Ausmaß möglich ist.

Der Verfall der Wertsubstanz wird dann endgültig und irreversibel aus einem relativen (Fall der Profitrate) in einen absoluten (Fall der Profitmasse) Status überführt; sichtbar an der massenhaften Stillegung der Produktion und einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit. Unter Beibehaltung der kapitalistischen Formbeziehungen von allgemeinem Warentausch, Arbeitsmarkt und "Geldverdienen" würde dann die absurde Situation entstehen, daß die Gesellschaft verelendet, obwohl alle materiellen Faktoren der Reichtumsproduktion in einem sogar überreichlichen Ausmaß zur Verfügung stehen.
Genau in diese Absurdität führt die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik heute mit Riesenschritten real hinein. Was Marx nur als abstrakte, in weiter Ferne liegende "Endlogik" in dürren Worten erfaßte, erscheint in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die neuen Potentiale der Rationalisierung und Automatisierung, die nach einer langen Inkubationszeit (die ersten Debatten in dieser Hinsicht fanden schon in den 50er und 60er Jahren statt) zu greifen beginnen, obwohl sie noch lange nicht ausgeschöpft sind. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit (andere einschlägige Phänomene sind Billiglohn, Sozialhilfe, Müllhaldenproduktion und verwandte Elendsformen) zeigt an, daß die kompensierende historische Expansionsbewegung des Kapitals zum Stillstand kommt.

Wenn dieser Stillstand zunächst nur auf der sozialen Ebene und nicht als Zusammenbruch der absoluten Profitmasse erscheint, also die Illusion einer Kapitalakkumulation ohne entsprechende Arbeitssubstanz erzeugt wird, so aus dem einfachen Grund, weil die auf der realökonomischen Ebene (der Erzeugung und dem Verkauf von Gütern) nicht mehr weiterlaufende erweiterte Reproduktion der Wert- oder Arbeitssubstanz durch das Kreditsystem und die Entkoppelung der spekulativen Finanzmärkte für einen gewissen Zeitraum simuliert wird. Der Kredit (d.h. die Masse der im Bankensystem gesammelten und für Produktions- oder Konsumzwecke gegen Zins ausgeliehenen Spargelder der Gesellschaft) ist zwar eine ganz normale kapitalistische Erscheinung, die aber mit zunehmender Geschwindigkeit der kapitalistischen Expansionsbewegung an Bedeutung gewonnen hat: Es handelt sich um einen Zugriff auf zukünftige Geldeinkommen (also auch auf zukünftige Verausgabung von Arbeitskraft und zukünftige Bildung von Wertsubstanz), um den gegenwärtigen Betrieb am Laufen zu halten. Darin deutet sich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts die heute hautnah herangerückte innere Grenze des Verwertungsprozesses an, ebenso wie in der "Entsubstantialisierung" des Geldes durch die Entkoppelung von der realen Wertsubstanz des Goldes seit dem 1. Weltkrieg.

Die kompensierende Expansion und damit die ständige Erweiterung der Profitmasse bei in der Regel fallender Profitrate konnte dennoch fortgesetzt werden, solange die entsprechenden Geldeinkommen in der Zukunft wirklich auf der Basis realer Wertsubstanz (einschließlich der Bedienung der Zinsen) nachfolgten. Je mehr dies aber inzwischen die dritte industrielle Revolution verunmöglicht, desto stärker und massenhafter wird die Flucht in den Kredit, desto abrupter und tiefer muß dann aber auch der Absturz in die allgemeine Finanzkrise sein, wenn die reale Wertsubstanz nicht mehr nachfolgt. Der kreditfinanzierte Staatskonsum ist an diese Grenze der simulativen Reproduktion bereits weltweit herangekommen; aber auch der kreditfinanzierte private Massenkonsum und die Plünderung der Sparguthaben, Erbschaften usw. für Konsumzwecke, die Auflösung stiller Reserven bei den Unternehmen, das stetige Sinken der Eigenkapitalquote und vor allem die Kreation von "fiktivem Kapital" durch das beispiellose Abheben der Aktienkurse (im Verhältnis zum realökonomischen Wachstum) zeigen, daß das simulierte Weiterlaufen der kapitalistischen Expansion seinen äußersten Grenzbereich zu erreichen beginnt.

Die groteske Illusion einer unendlich weiterprozessierenden Form ohne substantiellen Inhalt konnte in der gegenwärtig noch andauernden Epoche des "Kasinokapitalismus" und des "Lebens auf Pump" nur den Anschein der Haltbarkeit gewinnen, weil sich der Zusammenbruch des abgehobenen, substanzlosen Finanzüberbaus erst nach einer gewissen Inkubationszeit realisiert: Die Laufzeiten des Kreditsystems bewegen sich zwischen einem Tag am kurzen und mehreren Jahren oder Jahrzehnten am langen Ende, außerdem kann vorübergehend auch noch einmal "umgeschuldet" werden; und die Blase der scheinbar beliebig sich blähenden Aktienwerte bedarf eines äußeren Anlasses, um ihr unvermeidliches Platzen zu erleben. In dem Maße aber, wie sich die anstehende "Entwertung des Werts" realisiert, wird auch der fetischistische Selbstzweck der ganzen Produktionsweise für alle enthüllt - und damit sowohl das theoretische Denken als auch der Alltagsverstand in den "relationalen" Beziehungsformen des allumfassenden Warentauschs historisch lächerlich gemacht.

Utopie und Planwirtschaft

Keineswegs zufällig hatte die positivistische historische Arbeiterbewegung ihre Begehrlichkeit nicht auf die Befreiung der Reichtumsproduktion von der restriktiven und in ihren Wirkungen absurden "Arbeit" und ihrer Wertform gerichtet, sondern im Gegenteil auf die vermeintliche "Befreiung" der fetischistischen Substanz selbst ("Befreiung der Arbeit") und auf die eigene "gerechte Beteiligung" an den Erträgen der irrationalen Verausgabung menschlicher Energie. Eben dadurch wurde diese große soziale Bewegung unfreiwillig selber zum Promotor der kapitalistischen Produktionsweise, indem sie gegen die bornierten Repräsentanten des unentwickelten Kapitalverhältnisses die Voraussetzungen für dessen Verallgemeinerung durchkämpfte. Der Marxsche "Klassenkampf" entpuppte sich so als die immanente Bewegungsform des Kapitalismus selbst und nicht als seine transzendierende Aufhebungsbewegung, wie Marx gemeint hatte.

Die Arbeiterbewegung machte sich dabei zum Subjekt und gleichzeitig zum Idioten des modernen warenfetischistischen Systems. Zusammen mit der abstrakten Arbeitssubstanz und der allgemeinen Wertform der gesellschaftlichen Reproduktion positivierte sie alle Strukturkategorien der kapitalistischen Gesellschaft, machte sie sich zu eigen und blies sie zu ontologischen menschlichen Existenzbedingungen auf: Ebenso wie Arbeitsmarkt, Geldlohn und Warentausch wurden so Staatsapparat (abstrakte Menschenverwaltung), Nation und Nationalökonomie, Betriebswirtschaft und Geheimpolizei, blutsverwandtschaftliche Kleinfamilie und Automobilisierung etc. übernommen und mit "sozialistischen" Vorzeichen versehen. Figuren wie Blair, Schröder, Clement oder auf der anderen Seite der Welt Gorbatschow, Jelzin u.Co. stellen nichts anderes als das Endstadium dieses historischen Mißverständnisses dar. Aus dieser systemimmanenten Perspektive durfte natürlich die Krise auf keinen Fall bis zu einem absoluten, ausweglosen Verfall der substantiellen Produktion von "Wert" ausgeweitet werden, weil sonst das ganze Konstrukt des positivistischen Selbstverständnisses hinfällig gewesen wäre. Die arbeiterbewegte Ideologie war geradezu naiv optimistisch im Hinblick auf die Erhaltung der Arbeitssubstanz, die auch noch den Sozialismus in eine unabsehbare Zukunft tragen sollte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß sich dieses verkürzte Verständnis des Kapitalismus auch auf die Vorstellungen über eine nachkapitalistische Gesellschaft auswirkte. Marx selber hat nur an wenigen Stellen zu erkennen gegeben, daß mit der Aufhebung des gesellschaftlichen Fetischismus Arbeitssubstanz und Wertform gemeinsam verschwinden müssen. Ansonsten beharrt er ziemlich durchgängig auf einer substantiellen Ontologie der "Arbeit" auch und gerade im Sozialismus, der gegenüber die Aufhebung der Fetischform in einem von ihm anvisierten "Verein freier Menschen" reichlich dunkel bleibt. Indem die Arbeiterbewegung vollends als Modernisierungs-Agentur in die gesellschaftliche Form-Unbewußtheit zurücksank, blieb für den Sozialismus nur noch die Vorstellung einer staatlichen Planung der gesellschaftlichen Arbeitsquanta übrig. Die postulierte gesellschaftliche Planung "im vorhinein" bezog sich daher paradoxerweise auf die Fetisch-Kategorien einer Vergesellschaftung "im nachhinein". Eben deswegen mußte sie auch von einer modernen Staatsbürokratie übernommen werden. Per definitionem ist aber der Staatsapparat in der Marxschen Theorie als ein von der Gesellschaft getrennter Sonderkörper bestimmt, der somit nicht als Institution der bewußten gesellschaftlichen Selbstverständigung fungieren kann, sondern immer nur als Agentur der äußerlichen Menschenverwaltung im Namen des vorausgesetzten kapitalistischen Selbstzwecks.
Sowohl das programmatische Sozialismusverständnis der westlichen Sozialdemokratie als auch die reale Praxis des östlichen Staatssozialismus waren in diesem Sinne schlechte "Arbeitsutopien", also aus dem paradoxen Modernisierungsprozeß entlaufene paradoxe Erscheinungen eines "Nirgendlandes", in dem der unaufgehobene Fetischismus von Selbstzweck-Arbeitssubstanz und Wertform im "proletarischen Sonnenstaat" nicht allein die Befreiung von den absurden kapitalistischen Restriktionen der Reichtumsproduktion, sondern gleich eine Art paradiesischen Endzustand der Geschichte herbeiführen sollte. Die metaphysische Überhöhung des Zwecks resultierte notwendig aus der Ahnung des Selbstbetrugs, die in dieser arbeitsutopischen Vorstellungswelt immer mitschwingen mußte. Soweit versucht wurde, dieses "Nirgendland" zu "realisieren", konnte dieses Unterfangen entweder nur staatsterroristische Formen annehmen und mußte letzten Endes scheitern, oder es führte (wie im Fall der westlichen Sozialdemokratie) direkt zur Integration in den bestehenden kapitalistischen Staats- und Verwaltungsapparat.

Gerade die scheinbar radikalsten Ideen in dieser Geschichte blieben befangen in den Erscheinungen der kapitalistischen Oberfläche und konnten so auch nur die zugrunde liegenden oder den jeweils anderen Pol bildenden Kategorien derselben negativen Vergesellschaftung verabsolutieren; aber nur deswegen, weil sie eben in Wirklichkeit nicht radikal genug waren. Vor allem die unvermittelte Idee einer "Abschaffung des Geldes" als vereinzelt auftretender Oberflächen-Radikalismus konnte so nur als Zerstörung eines vermittelnden Moments im Kontext der unaufgehobenen fetischistischen Substanzbewegung auftreten, die dann einzig als unmittelbarer Staatsterrorismus zu bewerkstelligen war. Das vielbeschworene terroristische Regime eines Pol Pot ist in diesem Sinne viel eher als Irrläufer einer "nachholenden" Modernisierungs-Diktatur zu begreifen denn als gescheiterter Aufhebungsversuch des warenproduzierenden Systems. Eine emanzipatorische "Abschaffung des Geldes" wäre nur zu haben zusammen mit einer Abschaffung der Arbeitssubstanz, ihrer Wertform und des dazugehörigen, der Gesellschaft äußerlichen Staatsapparats. Es ist gerade nicht der "esoterische", fetischismus-kritische Marx, der sich in Pol Pot gewissermaßen realisiert hätte und deshalb mit allen Zeichen des Entsetzens zu verwerfen wäre. Dieser Marx ist es ja im Gegenteil gerade, für den die Aufhebung der Warenform (und damit des Geldes als Selbstzweck-Medium) nicht nur identisch mit einem Obsoletwerden der abstrakten "Arbeit", sondern auch mit einer "Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft" ist. Die Marxsche Theorie in ihrer nicht-positivistischen Lesart bestimmt das Geld und den Staat gleichermaßen als die beiden Pole der negativen abstrakten Allgemeinheit in einer Gesellschaft, die ihrer selbst nicht bewußt und mächtig ist, weil sich in ihrer Reproduktion Zweck und Mittel, Abstraktum und Konkretum verkehrt haben.

Wenn statt einer emanzipatorischen Aufhebung der negativen Totalität der Staat gegen das Geld verabsolutierend ausgespielt werden soll, muß dieser Versuch ebenso die soziale und moralische Katastrophe gebären wie die umgekehrte Verabsolutierung des Geldes gegenüber der staatlichen Regulation. Es ist aber gerade der gegenwärtige neoliberale Konsens der globalen Eliten, der genau diesen zu Pol Pot spiegelbildlichen Versuch unternimmt. Bürokratische Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger oder Restriktionen der medizinischen Versorgung und Skinhead-Überfälle auf Behindertenheime sind ebenso "Pol-Pot-Spurenelemente" in der westlich-demokratischen Gesellschaft wie der grassierende pragmatistische Haß gegen die intellektuelle Reflexion. Es ist die Wut des subjektlos entfesselten Geldes, die mit zunehmender Ausweglosigkeit der arbeitsgesellschaftlichen Krise das liberaldemokratische westliche Regime letzten Endes ebenso in die Errichtung von Schädelstätten zu treiben droht wie jenes verwilderte totale Staatsregime in Ostasien.

Die gegenwärtig in Europa grassierende schwache keynesianische Nostalgie kann die historische Drohung nicht auf den Begriff bringen, weil sie selber nur der matte Abglanz eines matten Abglanzes des selber ursprünglich schon matten positivistischen Arbeitsmarxismus ist; dennoch ahnt sie die Drohung und möchte deshalb die beiden Pole negativer Vergesellschaftung auf dem fast schon flehentlich beschworenen Boden der Arbeitssubstanz wieder ins Gleichgewicht bringen. Aber wenn diese Substanz irreversibel verfällt und deshalb Geld und Staat als Pole der abstrakten Allgemeinheit die gesellschaftliche Reproduktion nicht mehr tragen können, hat es auch keinen Zweck mehr, nach "Bündnissen für Arbeit" und einer "Rückkehr der staatlichen Regulation" zu rufen.

Was unausweichlich historisch ansteht, ist eine Negation der negativen Vergesellschaftung selbst, also die Befreiung der Reichtumsproduktion von den Restriktionen des modernen warenproduzierenden Systems. Unter den Bedingungen der 3. industriellen Revolution ist dabei die Planung von "Arbeitsquanta" ebenso obsolet und unsinnig geworden wie die Verteilung nach "Leistungsquanta" der einzelnen Verausgabungs-Individuen abstraktifizierter Energie (also dem wirklichen oder angeblichen Anteil an der gesellschaftlichen Substanzmasse). Der Vergesellschaftungsgrad hat eine derartige Höhe erreicht, daß die individuelle "Leistung" weder zurechenbar noch von entscheidendem Gewicht ist. Vielmehr geht es um die vernünftige Handhabung der wissenschaftlich-technischen Aggregate und deren planmäßigen Einsatz. Eine bewußte gesellschaftliche Selbstverständigung in diesem Sinne ist weder in der Fetischform des Werts möglich noch vermittels eines staatsbürokratischen Apparats, sondern nur jenseits von Markt und Staat durch die Entscheidung über den Ressourcenfluß "im vorhinein" und unter Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder. Der gesellschaftliche Zeitfonds dafür ist durch die Produktivkraftentwicklung längst überreichlich vorhanden, kann aber unter den Bedingungen des warenproduzierenden Systems ebenfalls nur in negativer Form als "Massenarbeitslosigkeit" erscheinen.

Der Marxsche Kommunismus ist und bleibt für die kapitalistische Produktionsweise das Gespenst radikaler Kritik. Solange jedoch die Marxsche Theorie weiterhin in der alten, obsolet gewordenen Lesart des positiven Arbeitsmarxismus verstanden wird, ist dieses Gespenst zur Harmlosigkeit verurteilt. Das objektivierte Zusammenbruchsgesetz der fetischistischen Substanz erfüllt sich auch ohne Kritik, dann freilich auch ohne Hoffnung.

Quelle: Weg und Ziel 2/99