Falls
noch jemand nicht weiß, was das ist: Big Brother wird
von der niederländischen Produktionsfirma Endemol
produziert – sie gehört dem spanischen Medienkonzern
Telefonica – und vom Fernsehkanal RTL 2 gesendet. RTL
2 zielt die angeblich kaufkräftigen, jedenfalls jungen
Leute an, der Marktanteil der 14-29-Jährigen liegt bei
12,5%, der 14-49-Jährigen bei 8,5%. Verschwiegen wird
gern, dass das Publikum aller kommerziellen Kanäle eher
niedriges Einkommen und niedrige Schulbildung hat
(Klingler: Fernsehforschung, S. 23, 144).
Von der ersten Staffel vom März bis Juni soll hier die
Rede sein. In Big Brother wurden fünf Frauen und fünf
Männer gezeigt, die sich für 100 Tage in eine Baracke
einsperren ließen, in der sie Tag und Nacht von Kameras
beobachtet wurden (in der zweiten Staffel, die von
September bis Dezember läuft, sind es 12 Personen und
106 Tage). Die Zusammenfassungen der Beobachtungen eines
Tages werden am nächsten Tag gezeigt, jeden Abend. Alle
14 Tage muss ein Teilnehmer die Baracke verlassen. Das
war in der ersten Staffel so geregelt, dass zuerst die
Eingesperrten zwei ihrer Mitbewohner benennen, »Nominierung«
wird das genannt. Dann haben die Zuschauer eine Woche
Zeit, per Telefon einen der beiden rauszuwählen (in der
zweiten Staffel ist das Rauswähl-Verfahren umgekehrt,
die Zuschauer »nominieren« zuerst). Wer am Ende übrigbleibt,
erhält 250.000 DM.
Die erste Staffel von Big Brother erreichte bei den für
die Werbung attraktiven 14-29-Jährigen einen
Marktanteil von 30-40%. 36% aller Zuschauer waren Schülerinnen
und Schüler. Bei den Erwerbstätigen überwogen die
Angestellten. Die Hälfte der Big-Brother-Seher hatte
eine niedrige Schulbildung. (Mikos: Im Auge der Kamera,
S. 153ff.)
Erniedrigung
An Big Brother interessiert das sportliche Wettspiel: Es
geht darum, die Überlebenschancen der Handelnden
abzuschätzen und Prognosen aufzustellen, wer mehr, wer
weniger Chancen hat. Solche Spiele werden überall
gespielt, im Actionfilm, beim Fußball. Natürlich hat
das seinen Reiz, und es ist falsch, das Angucken
derartiger Spiele »Voyeurismus« zu nennen. »Voyeurismus«
ist ein Begriff, den man auf das Enthüllen und
Betrachten des Verborgenen, Geheimen anwenden sollte,
auf das Betrachten von Intimität. Das ist nicht das
Thema von Big Brother, denn:
Erste These: In »Big Brother« werden die Teilnehmer
erniedrigt, aber nicht so weit, dass das Wort »Voyeurismus«
notwendig wäre, sondern nur so weit, wie es notwendig
ist, um »Lebenskampf« zu dramatisieren.
Der Große Bruder ist überall. Er zeigt die Leute im
Schlafzimmer, beim Duschen, in Überwacherperspektive,
und auch beim Kloputzen. Das ist erniedrigend. Aber hier
ist das Betrachten von Erniedrigung nur ein Element
unter vielen. Genau so häufig wird auch Glück gezeigt:
Die Leute tanzen, sie freuen sich wenn eine Aufgabe
gelingt, sie liegen in der Sonne, sie streicheln die
Baracken-Katze. Aber ein gewisses Maß an Erniedrigung
ist dramaturgisch notwendig, schließlich sollen die
Beteiligten nicht nur in der Sonne liegen, sie sollen
als Überlebenskämpfer inszeniert werden.
Deswegen müssen sie auch »back to Basics«: mit
knappem Warmwasser und Brennholz auskommen, sparsam
haushalten, Brot selbst backen, Hühnereier direkt vom
Huhn holen (in einem Verschlag leben ein paar irritierte
Hühner). Außerdem haben die Lebenskämpfer an
Problemen zu arbeiten: John, der Zimmermann und Slatko,
der Arbeiter, sind arbeitslos. John hatte eine schwere
Kindheit, Slatko gierte nach den 250.000 DM Siegerprämie,
während alle anderen beteuerten, dass sie ganz und gar
nicht ans Geld denken. Sabrina, die Dachdeckerin, hatte
Schulden und keinen Freund. Alex, der
Edelkneipenbesitzer und Kerstin, die Schauspielschülerin,
suchten »Herausforderungen«. Jürgen, der
Facharbeiter, wollte seiner kleinen Tochter zeigen, dass
er durchhält. Andrea, die Freischaffende ohne
Karriereglück, ertrug keinen Gruppendruck, nahm aber »ihr
Schicksal in der Gruppe auf sich«. Deswegen ist es auch
falsch, in Big Brother eine große Puppenstube zu sehen.
In Puppenstuben gibt es nur artige Rollen. Hier aber gab
es Erniedrigte, Probleme und Lebenskampf. Man betrachtet
eine Inszenierung, mit von der Regie klar
herausgearbeiteten Charakteren und Handlungslinien. Man
darf gespannt sein, ob in der neuen Staffel Charaktere
und Handlungslinien genau so gut und klar
herausgearbeitet werden.
Die Eingesperrten machten viel Alltags-Konversation.
Meistens ging es um die eigenen Gefühlchen und
Befindlichkeiten. Die Beobachteten durften etwas im
kommerziellen Fernsehen längst Akzeptiertes zur Schau
stellen: Narzissmus. Ungenierte Selbstdarstellung ist
gesellschaftlich gestattet. Jeder darf in den Talkshows
sein Inneres veröffentlichen. Jeder darf ein wenig
Aufsehen erregen – solange er nicht mehr präsentiert
als seine persönliche Deformation. Indem sie alles
Problematische ausklammern, erhoffen sich die
Erniedrigten das Überleben.
Abschießen der Unangepassten
Zweite These: Für die Zuschauer ist Big Brother ein
Abschieß-Spiel. Wir dürfen abschätzen, wer im
Lebenskampf stark und wer schwach ist, und wir dürfen
die Schwachen abschießen.
Dritte These: Die Big Brother-Shows tun so, als gehörten
sie zum Format der Seifenopern, Docusoaps – in
Wirklichkeit sind es Talkshows – ohne Talkmaster.
Kein Talkmaster sorgt – als Instanz der ausgleichenden
Gerechtigkeit – dafür, dass alle Beteiligten die
gleichen Chancen haben. Jetzt gibt es nur noch Kameras,
die das freie Spiel der Kräfte beobachten, Starke und
Schwache. Darin ist Big Brother ein Modell des
Postfordismus, der Globalisierung, des Neoliberalismus.
Abgeschossen werden die Schwachen. Schwach sind die
Unbeholfenen, die ständig jammern; schwach sind aber
auch die Unbescheidenen und Größenwahnsinnigen. Slatko
flog raus, weil er unbescheiden wurde, Jürgen siegte
nicht, weil er größenwahnsinnig geworden war. Als
Zuschauer schätzen wir ab, wer angepasst genug ist, um
zu überleben. Oder wie John, der Sieger, es sagte: »Positiv
denken, sonst kann man das nicht durchziehen.« Und
bescheiden sein. John machte sich nützlich und hielt
das Maul. Der Mitläufer hat gesiegt.
Reaktionäres
Vierte These: Big Brother fasziniert, weil darin ein
populistischer Diktator falsche Hoffnungen macht. In
Orwells Roman 1984 war der Große Bruder ein
Schreckensbild der Diktatur. Jetzt maskiert er sich
zwar, er wird als Helfer inszeniert, er »lässt einen
nicht allein«, er »ist immer da«. Aber in einer Zeit,
in der die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen »Freisetzung«
oder »Abrundung« genannt wird, kann man diesem Großen
Helfer nicht trauen. Sieht man genauer hin, ist dieser
Big Brother nichts anderes als das Schicksal im
Zeitalter von Postfordismus, Globalisierung,
Neoliberalismus: Er ist immer da – als Bedrohung von
Ruhe, Sicherheit, Zufriedenheit und Karrierehoffnung. Er
schafft immer neue Aufgaben, Hindernisse, die zu bewältigen
sind, wenn man Erfolg haben will. Wenn die Teilnehmer
bei einer Aufgabe versagen, kriegen sie weniger
Haushaltsgeld. Die Aufgaben, die er schafft, werden als
willkürlich empfunden.
In der ersten Folge hatten die Lebenskämpfer den Überwacher
und Diktator ständig zu besingen: Sie sangen: Big
Brother ist OK. Vielleicht wollten die Veranstalter
sehen, wie weit sie gehen können, was Menschen, die
nach Erfolg gieren, alles schlucken. Keiner der
Eingesperrten sagte: »Nein, so was singe ich nicht.«
Insofern sind die Eingesperrten Testkaninchen,
Experimentier-Ratten. »Wir machen ja alles mit«, sagen
sie danach, und man spürte, dass es ihnen auf die
Nerven ging.
Fünfte These: Weil Big Brother größenwahnsinnige
Fantasien anspricht, wird ihm eine gewaltige
Marketing-Macht unterstellt.
Erstaunlich ist der Glaube in der Öffentlichkeit an das
Raffinierte der Vermarktungstechniken der Fernsehfirmen
Endemol und RTL 2. Der Erfolg des Arbeiters Slatko, der
mit seinem Ich vermiss dich wie die Hölle-Song
angeblich Millionen gemacht hat, scheint das zu bestätigen.
In den Monaten danach standen Slatko und Jürgen mit dem
Song Du bist mein Großer Bruder auf Platz 1 der
Hitliste. Die Schnellverwertung löst bei vielen von
Arbeitslosigkeit Bedrohten Erlösungsfantasien aus. Der
Diktator gibt seinen Untertanen Hoffnung: Er lässt sie
hoffen, sie könnten allein durch ihn superreich und berühmt
werden. Mittels Vermarktung scheint alles möglich, und
das auch noch ohne Anstrengung, ohne Qualifikation. Die
Erlösungshoffnungen wurden in den nachbereitenden
Sendungen in Einkaufsfantasien kanalisiert: Kaum aus dem
Container raus, gehen die frisch gemachten Stars in die
Boutiquen: »Endlich ein paar geile Klamotten!« So
schafft RTL 2 das freundliche Umfeld für Werbung,
bereit für Werbeaufträge, ausgerichtet auf die
Zielgruppe der Konsumfreudigen.
Und wir, die Zuschauer und Objekte dieser
Akquisitionsstrategie, erhalten den Ratschlag: »Leb,
ja, leb wie Du dich fühlst, ja, ja«. So lautete der
Titelsong von Big Brother. Das war ein Lied der
Gegenreform: Verlass Dich nicht auf Deinen Verstand. Sei
voll Gefühl.
Ein Diktator als Helfer in der Not, Medienkonzerne mit
unbegrenzter Marketing-Macht und viel Zuschauer-Gefühl:
Das ist die schöne neue Fantasiewelt.
Emanzipatorisches
Sechste These: Big Brother fasziniert auch, weil es
darin freiheitliche Momente gibt: die Suche nach dem Glück
im Hier und Jetzt.
Wir, die Zuschauer, sind nicht nur brutale
Moorhuhn-Abknaller und Zocker. Wir sehen immerhin
fasziniert zu, wie Menschen durch taktische
Kommunikationsarbeit etwas aus sich machen wollen. Das
sind Leute, die die Erlösung im Hier und Jetzt suchen.
Es sind Leute, deren Erlösung in Geld und Anerkennung
besteht. Sie versuchen, sich selbst aus dem Sumpf zu
ziehen, indem sie kommunizieren und taktieren. Manche
lehnen Big Brother als »kulturlos« ab, solchen Mist
sehen sie sich nicht an: Ablehnung wird zum
Intelligenznachweis. Demgegenüber halte ich die
Zuschauer, die den »Trash« ansehen, für die
Intelligenteren: Das ist nicht mehr das Publikum von
Dallas und Denver Clan, das die Leiden von göttergleichen
Reichen und Schönen beobachtete und sich daran
erfreute, dass es Göttern dreckig geht. Wenn
Fernsehzuschauer – selbst vom Leben geplagt – keine
leidenden göttlichen Stars mehr brauchen, wenn die
Stellvertreter ihrer Leiden jetzt reale Menschen sind
– ist das nicht ein Fortschritt? Dass dieser
Fortschritt nicht tadellos sauber zu haben ist, also
ohne die reaktionären Fantasien vom erlösenden
Diktator, liegt daran, dass Fantasien so sind wie die
Gesellschaft, aus der sie hervorgehen.
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