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Israel: Sharon attackiert den Friedensprozess
Provokation auf dem Tempelberg

von André Anchuelo

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Die Ereignisse der letzten Woche deuten darauf hin, dass der Rest des Herbstes im Nahen Osten heiß werden wird. Am 28. September besuchte Ariel Sharon, Vorsitzender des rechtskonservativen Likud-Blocks, der wichtigsten Oppositionspartei Israels, zusammen mit einigen seiner Fraktionskollegen aus der Knesset den Tempelberg in Jerusalem.

Im Anschluß daran kam es auf dem Berg - wo sich neben den drittwichtigsten Heiligtümern des Islam auch die Überreste des jüdischen Tempels befinden - zu Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften, wie es sie lange nicht mehr gegeben hat. Hunderte wurden verletzt, 28 palästinensische Demonstranten und zwei israelische Soldaten kamen bei Auseinandersetzungen in Jerusalem und in den besetzten Gebieten ums Leben. Erst als sich Vertreter des israelischen Militärs und palästinensischer Sicherheitskräfte am Samstag auf eine Art Waffenstillstand einigten, kehrte wieder Ruhe ein.

Sharons Provokation hatte ihren Zweck erfüllt. Ihr Termin war im Hinblick auf die erwartete Verfahrenseinstellung für seinen innerparteilichen Rivalen Benjamin Netanyahu gewählt, gegen den wegen des Verdachts auf Bestechung, Betrug und Untreue ermittelt worden war. Zwar bekam Netanyahu nur einen Freispruch zweiter Klasse, denn die Staatsanwaltschaft begründete die Verfahrenseinstellung mit Beweismangel und rügte Netanyahu ausdrücklich für sein Verhalten während seiner Amtszeit als israelischer Premier. Trotzdem ist für »Bibi« damit der Weg zurück auf die politische Bühne frei von rechtlichen Hindernissen.

In dieser Situation hat Sharon offenbar beschlossen, mit seiner Provokation auf dem Tempelberg eine Eskalation einzuleiten. Aus seiner Sicht war die Aktion ein kluger Schachzug. Zum einen konnte er sich damit kurz vor dem Comeback Netanyahus als mutiger Vorkämpfer der israelischen Rechten innerhalb seiner eigenen Partei profilieren. Zum anderen hat er womöglich den Friedensverhandlungen zu einem Zeitpunkt dauerhaften Schaden zugefügt, als sich ein entscheidender Durchbruch ankündigte.

Am Tage vor Sharons Auftritt auf dem Tempelberg hatte nämlich Ministerpräsident Ehud Barak, dessen politisches Überleben an einem Verhandlungserfolg mit den Palästinensern hängt, in einem Interview mit der Jerusalem Post eine bedeutende Konzession in Aussicht gestellt. #Barak deutete erstmals an, dass er nicht nur bereit wäre, Teile Ostjerusalems als Hauptstadt eines künftigen Palästinenserstaates zu akzeptieren, sondern möglicherweise auch ein Ende der israelischen Sicherheitshoheit auf dem Tempelberg. Diese könnte dann zum Beispiel von Sicherheitskräften übernommen werden, die von den fünf ständigen Mitgliedern im Uno-Sicherheitsrat gestellt würden. Mit diesem Kompromiss-Angebot ist Barak weiter gegangen als jeder seiner Vorgänger.

Jetzt kommt es darauf an, dass Barak und Arafat sich schnell einigen. Denn die Zeit wird knapp. Zum einen naht das Ende der Amtszeit von US-Präsident William Clinton. Dessen Nachfolger könnte frühestens nach einigen Monaten die Nahost-Vermittlungsrolle wieder aufnehmen. Ob Barak dann noch Regierungschef ist, ist fraglich. Denn bereits in der Ende November beginnenden neuen Sitzungsperiode der Knesset hat er keinerlei Aussicht auf eine politische Mehrheit. Und auch Arafat steht, trotz der Verbesserung seiner Position nach dem gescheiterten Camp-David-Gipfel, unter enormem innenpolitischen Druck, nachdem er im September zum wiederholten Mal die Ausrufung des Staates Palästina verschoben hat.

Wenn jetzt neuerlich auf beiden Seiten Blut vergossen wird, dürfte es sowohl für Barak als auch für Arafat immer schwieriger werden, bei ihren jeweiligen politischen Bündnispartnern wie auch in der eigenen Bevölkerung Rückhalt für eine Verständigung in der Jerusalem-Frage zu finden.