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Das System Pieck-Ulbricht (1925 - 1927)

Aus: Ruth Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus Bd. II

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Über das Muster, nach dem die deutsche Partei umzubilden war, wurde auf zwei Moskauer Konferenzen entschieden, die im März 1925 und Februar 1926 zur Behandlung spezieller Organisationsfragen abgehalten wurden.(1) Unter den Teilnehmern waren Paul Merker, Maurice Thorez für Frankreich, Viola Briacco für Italien und Vertreter aus Moskauer Betrieben. Die neue Form kommunistischer Organisation wurde in allen Einzelheiten beschrieben. Die Wirkung zum Beispiel, die eine Zelle von fünfunddreißig Kommunisten auf eine Fabrik mit zwei- oder dreitausend Arbeitern ausüben konnte, wurde genau abgeschätzt. Muster für Betriebsberichterstattung nach russischem Vorbild wurden hergestellt. Eine Korrespondenz zwischen den Putilow-Werken in Leningrad und der Zelle der Krupp-Werke wurde in die Wege geleitet.

Die deutsche Hauptfigur auf diesen beiden Konferenzen war Walter Ulbricht. Ulbricht, dessen Parteiname Zelle war, hatte eine Karriere der Zellenorganisierung hinter sich. 1923 war er ein unscheinbarer Parteifunktionär aus Thüringen gewesen, Mitglied der Mittelgruppe, der »Zentristen«. Er studierte die Organisationsstruktur der Partei von dem Gesichtspunkt aus, wie man am wirksamsten zur Auflösung der linken Organisationen beitragen konnte, und wurde sehr früh schon von Stalin als der geeignete Handlanger für diese Arbeit ausersehen. Er arbeitete unter GPU-Leuten in der Komintern und entwickelte allmählich eine Technik darin, Organisationen in leicht zu handhabende Zellen aufzuspalten. Zur Zeit der beiden Moskauer Konferenzen war aus ihm bereits ein Spezialist geworden.(2) »So wie das Industrieproletariat die Grundlage der kommunistischen Bewegung ist,« schrieb er, »so ist die Zelle die elementare Grundlage unserer Parteiorganisation.«(3) Das »System Pieck« ist auch das System Ulbricht. Die beiden Männer, die unter GPU-Befehl gemeinsam handelten, zerschlugen die deutsche Parteiorganisation und formten sie in stalinistische Kader um. Nur durch diese Zerschlagung und Neuzusammensetzung konnte die deutsche kommunistische Partei bolschewisiert werden.

Die Kommunistische Partei war aus der Bürgerkriegsperiode organisch hervorgegangen. Beinahe 95 Prozent ihrer Mitglieder waren Arbeiter. Die deutsche linke Intelligenz (insbesondere die jüdische Intelligenz), der unter dem Kaiser die Beamtenlaufbahn verschlossen war, zog im allgemeinen die demokratische oder sozialdemokratische Partei vor, die ihr eher Zugang zu Stellungen in der Verwaltung gaben. Der kommunistische Arbeiter hatte in einem schmerzhaften Prozeß der Klärung vitaler Fragen mit der Organisation und der starken Tradition der Sozialdemokratie gebrochen, einem Prozeß, aus dem er mit einem tiefen Mißtrauen gegen jede Parteibürokratie hervorgegangen war. Diese Verachtung der Bürokraten, die sich unter deutschen Kommunisten bis zum Extrem und in geringerem Grade unter deutschen Arbeitern überhaupt entwickelt hatte, werteten die Nazi in ihrer »Kampfzeit« zu ihrem Feldzug gegen die »Bonzen« aus.

Damals wachten die Kommunisten eifersüchtig über ihre »demokratischen Urrechte«. Ein solches Recht war die allgemeine Bezirksversammlung, auf der alle politischen und organisatorischen Fragen diskutiert und auf Grundlage der Gleichwertigkeit aller Stimmen ohne Rücksicht auf Rang oder Position in der Partei beschlossen wurden. Diese Organisation nach Wohngebieten hatte einen starken persönlichen Zusammenhalt hervorgebracht, der auf gemeinsamer Vergangenheit, gleicher Wohngegend, täglichem Kontakt außerhalb der eigentlichen Parteiarbeit beruhte. Die Hunderte von Kommunisten, die sie umfaßte, kannten einander seit Jahren, hatten die Gefahren des Bürgerkriegs geteilt und gemeinsam ihre ersten politischen Erfahrungen in der alten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organisation gemacht. Die unbezahlten Funktionäre dieser Organisationen waren nach dem Bewährungsprinzip gewählt worden, das eine Auslese derjenigen, die sich als die Fähigsten erwiesen hatten, bewirkte; und nicht nur die lokalen Führer, auch die Mitglieder waren Fasern der gleichen demokratischen Organisation. Diese Männer waren in den vergangenen unruhigen zehn Jahren zusammen durch Glück und Unglück der deutschen Arbeiterbewegung gegangen. Es verband sie die Solidarität, die aus freier und freiwilliger Übereinstimmung kam, aus ihrer wesentlich gleichen politischen Erfahrung und Kenntnis. In ihrem Kampf gegen ungünstige Umstände entwickelten sie jene besten menschlichen Qualitäten: Selbständigkeit des Handelns und Unterordnung des persönlichen Interesses unter das Gruppeninteresse, Solidarität mit der Gruppe und persönliche Charakterfestigkeit, die Bereitschaft, schwierige Aufgaben und Verantwortung auf sich zu nehmen. Niemand wird diese Männer vergessen, der je mit ihnen gelebt hat.

Diese einzelnen Proletarier, die sich aus eigenem Entschluß zusammengefunden und in erprobter Gemeinschaft zueinander gestanden hatten, schleppten das Erbe komplizierter sektiererischer Abstraktionen über deutsche Politik mit. Gerade in jener Periode standen diese vielseitig verbundenen Persönlichkeiten, ein differenziertes Kollektiv, im Begriff, ihre ideologischen Hemmungen zu überwinden und eine angemessene deutsche Politik zu entwickeln. Sie kämpften um eine demokratische Parteistruktur, durch die das Zentralkomitee die Exekutive der verschiedenen örtlichen Körperschaften sein würde, und nur dies. Die örtlichen Körperschaften sollten die Parteipolitik beschließen, das Zentralkomitee sie ausführen, und nicht andersherum. Die Anhänger der russischen Arbeiteropposition, die Deutschland besuchten, waren von der deutschen Parteiorganisation fasziniert, denn sie stellte den Parteitypus dar, den sie in Rußland zu verwirklichen gehofft hatten. Stalin reagierte nicht weniger eindeutig, denn dieser Organisationstypus, in dem die Beschlüsse für die einzuschlagende Politik von unten gefaßt werden, war die Antithese zur stalinistischen Partei. Die zunehmende Tendenz zu verstärkter lokaler Initiative, die sich im Reichsmaßstab durch die frei gewählten Delegierten zu den Parteitagen ausdrückte, wurde gebrochen. Stalins Agenten organisierten mit konspirativen Methoden von der Spitze nach unten und zerlegten die lokalen Körperschaften in leicht zu handhabende Einheiten.

Bericht und Minderheitsbericht über die schwebenden Probleme hätten in diesen örtlichen Körperschaften den anti-stalinistischen Linken im ganzen Land eine starke Mehrheit gegeben. Nach den Erfahrungen des Jahres 1923, die allen Mitgliedern noch frisch im Gedächtnis standen, war das Mißtrauen gegen den russischen Staatsapparat gewaltig. Für diese revolutionären Arbeiter, die preußischen Militarismus, sozialdemokratische Führer und die Weimarer Polizei verabscheuten, waren die russischen Staatsbürokraten Gegenstände der gleichen leidenschaftlichen Abneigung. Stalin und Manyilskij hatten recht, wenn sie in den allgemeinen Bezirksversammungen einen Nährboden für beharrlichen Widerstand gegen die Politik des Kremls erkannten.

Der Moskauer Apparat sagte diesen örtlichen Parteiversammlungen offenen Krieg an. Unter der Losung ,»Konzentration der Parteiarbeit in den Betrieben« wurde die alte Aufgliederung der Partei in Bezirksversammlungen, die im Rahmen des Bezirks sowohl nach Wohngebiet wie nach Betriebszugehörigkeit gruppiert waren, liquidiert. Eingeführt wurde das System Pieck; Sitzungen von Einheiten größer als eine einzelne Betriebszelle wurden formell verboten, und sogar größere Betriebszellen wurden in kleinere Einheiten von nicht mehr als zehn bis fünfzehn Mitgliedern aufgespalten. Die Partei wurde atomisiert; jede zusammenhängende Gruppe von Aktivisten wurde aufgelöst. Parteitagsdelegierte wurden doppelt und dreifach gesiebt: zunächst wählten kleine Zellengruppen Vertreter; diese Vertreter wählten Delegierte zu einem Bezirksparteitag; und nur dieser Bezirksparteitag hatte schließlich das Recht, Delegierte zum Reichsparteitag zu wählen.

Ein weiteres demokratisches Urrecht war die Wahl von bezahlten und unbezahlten Parteifunktionären. Es war eine heilige und eifrig gehütete Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, daß niemand eine Position in einer Arbeiterorganisation bekommen konnte, der nicht von der Mitgliedschaft aufgestellt und nach eingehender Diskussion gewählt worden war. Von jetzt an ernannte das Zentralkomitee bezahlte Funktionäre nach vorheriger Billigung durch die Moskauer Kontrollbeamten. Landtags- und Reichstagskandidaten, die bisher von den Mitgliedern ernannt worden waren, wurden ebenfalls vom Zentralkomitee nach Billigung durch den Moskauer Apparat »vorgeschlagen« und dann von den Delegierten eines Parteitags bestätigt.

Es gab Hunderte deutscher Parteimitglieder, die bezahlte Angestellte der verschiedenen sowjetrussischen Vertretungen in Deutschland wurden. Eine solche Anstellung war ein von vielen deutschen Kommunisten eifrig gesuchter Hafen. Die Gehälter waren erheblich höher als in entsprechenden deutschen Betrieben, die Arbeitszeit war kürzer, und man hatte auch sonst Vorteile. Angestellte der russischen Handelsvertretung in Berlin konnten zum Beispiel Motorräder, Pelzjacken und ähnlichen Luxus mit beträchtlichem Rabatt kaufen und konnten mit ihren Familien billige Ferien in Rußland verbringen oder in russische Sanatorien gehen. Prestigegewinn und soziales Ansehen begleiteten diese materiellen Vorteile. Viele Revolutionäre, denen durch ihre kommunistische Aktivität Karrieren in der Weimarer Republik verschlossen waren und die solche Opfer nunmehr in einer Periode »relativer Stabilisierung« für sinnlos hielten, fanden im Dienste des russischen Staates einen Ersatz. Diese Karrieren änderten grundlegend die materiellen und psychologischen Bedingungen ihres Daseins.

In diesen Jahren hatte die deutsche Partei 125000 bis 135 000Mitglieder.(4) Der Parteiapparat jedoch war stark; seine Zusammensetzung war folgendermaßen:

  • Zentralkomitee mit seinen Sekretären, Redakteuren und technischen Angestellten 850
  • Zeitungen und Druckereien einschließlich der Inseratenabteilung 1 800
  • Buchhandlungen mit den damit verbundenen Agit-Prop-Gruppen 200
  • Gewerkschaftsangestellte (hauptsächlich in Stuttgart, Berlin, Halle, Thüringen und Chemnitz) 200
  • Krankenkassen 150
  • Internationale Arbeiter-Hilfe mit dazugehörigen Zeitungen 50
  • Rote Hilfe einschließlich des Kinderheims in Thüringen 50
  • Deutsche Angestellte in sowjetrussischen Institutionen (Sowjetbotschaft, Handelsvertretung in Berlin, Leipzig und Hamburg, Ostbank, verschiedene deutsch-russische Gesellschaften) 1 000

Insgesamt 4 300

Alle diese Angestellten waren vom Wohlwollen des Moskauer Apparats abhängig. Ein Wort gegen die Parteilinie oder auch die bloße Unterlassung ihrer Verteidigung mit genügendem Nachdruck reichte aus, um auf der Stelle entlassen zu werden, und das wußten sie. Man gab ihnen freizügig Urlaub für »Parteiarbeit« und teilte sie als »verantwortliche Parteiarbeiter« je einer der reorganisierten Betriebszellen zu. Diese zur Kontrolle bestimmte Maßnahme wurde den Parteimitgliedern mit dem hochtönenden und schmeichlerischen Argument schmackhaft gemacht, daß durch den engen und täglichen Umgang mit dem Arbeiter von der Drehbank die Sowjetangestellten vor Bürokratisierung und Verbürgerlichung bewahrt werden sollten.

Außerdem muß man die unsichtbaren Geheimagenten mit mindestens der gleichen Ziffer einsetzen. Somit war beinahe ein Zwölftel der Parteimitgliedschaft direkt von Rußland bezahlt, und sie waren die aktivsten Elemente der Partei, diejenigen, denen man jede Art der Parteiarbeit zuweisen konnte, die sich nicht weigern konnten, selbst an der unwichtigsten Betriebszellensitzung teilzunehmen. Überall sind Bürokraten die Stützen des politischen Apparats; der besondere Zug dieser russischen Kader innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung aber war ihre geheime Koordinierung, armee-ähnliche Kontrolle durch Geheimagenten, ihre direkte Abhängigkeit vom Moskauer Zentrum. Dieses Geflecht stalinistischer Agenten wurde so dicht, daß es schließlich die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung in der deutschen kommunistischen Partei erstickte und alle anti-stalinistischen Kräfte durch die Ausschaltung eines jeden potentiellen Antistalinisten erdrosselte.

Die Umstellung auf Betriebszellen brachte den besseren Kontakt zwischen der Partei und den breiten Massen des Proletariats Hauptargument, mit dem man sie der Partei aufgedrängt hatte nicht zustande. In dieser Zeit waren große Betriebe fast vollkommen von kommunistischen Arbeitern gesäubert. Viele standen auf der schwarzen Liste und konnten selbst in einer Zeit relativer Besserung der Wirtschaftslage nur mit Mühe Arbeit in Großbetrieben bekommen; einige unter denen, die es fertiggebracht hatten, ihre Arbeit zu behalten, wurden als Kommunisten entdeckt und entlassen. Der kommunistische Arbeiter wurde mehr und mehr in die Randindustrien vom Hauptstrom der deutschen Wirtschaft abgedrängt. Ulbrichts Ausspruch, daß »zehn Arbeiter in einem Großbetrieb wichtiger sind als zehn Friseure« war eine Binsenwahrheit, änderte aber nichts an den tatsächlichen Verhältnissen.

Die deutschen Betriebe waren von Kommunisten sechs-, sieben-, achtmal gesäubert worden. Die Partei war am stärksten in den Industriegebieten, aber selbst hier hatten große Fabriken mit Hunderten von Arbeitern wahrscheinlich nur eine Handvoll Kommunisten.

Die Übriggebliebenen trafen sich in ihren neuen Betriebszellen in gedrückter Stimmung. In den Großindustriezentren, in Berlin und Hamburg und insbesondere im Ruhrgebiet und Rheinland, waren die Wohngegenden weit entfernt von den Fabriken. Die alte Intimität der Organisation nach Wohngegenden war zerstört und nichts Ähnliches trat je an ihre Stelle. Die »verantwortlichen Parteiarbeiter« setzten bei ihren politischen Kombinationen die Fahrpläne der verschiedenen Vorortszüge und Autobusse geschickt in Rechnung, die Zeiten des Schichtwechsels und die durch diese Umstände hervorgerufene Ermüdung. Der zeitgenössische Bericht eines linken Kommunisten über eine Zellenzusammenkunft ist eine treffende Schilderung dieser Situation:

»Man stelle sich nun so eine Durchschnittszellenversammlung vor. Es sind vielleicht 7 bis 8 wirkliche Arbeiter vorhanden und 3 bis 4 zugeteilte Parteiangestellte. Der Referent hält eine gewaltige Schimpfrede gegen die Opposition. Oppositionsredner ist nicht zur Stelle, weil die Zellenleitung entweder ihn vergessen oder sabotiert hat, ihm die Einladung zu schicken . ..

In der Diskussion reden die Parteiangestellten und erklären jeden für einen >Antibolschewisten und einen Feind des Kommunismus der nicht für die Zentrale stimme. Sagt nun vielleicht ein Arbeiter, daß ihm das alles nicht gefiele und daß die Bonzen sich doch vertragen sollten, so stürzt sich die ganze Bande auf den armen Kerl, um ihm beizubringen, daß er noch kein Bolschewist sei.«(5) Der Widerstand gegen die Auferlegung dieses Systems war besonders hartnäckig in der Berliner Organisation. Einer der Berliner Unterbezirke stimmte mehrmals gegen alle vom Zentralkomitee als Sekretäre vorgeschlagenen Kandidaten. Als es dem Zentralkomitee durch künstlich konstruierte Versammlungen von Delegierten gelungen war, Schritt für Schritt eine Mehrheit für Moskau zu erreichen, gewann die Opposition unmittelbar danach die Kontrolle in so wichtigen Bezirken wie Neukölln und Hallesches Tor, wo die Parteiversammlungen in Schlägereien ausliefen. »Ohne die Reorganisierung hätten wir die Berliner Kommunisten niemals für uns gewinnen können.«(6) Auf dem elften Parteitag 1927 erklärte Philipp Dengel(7), Berichterstatter fürs Zentralkomitee:

»Viele Monate lang mußten wir drei Viertel oder vier Fünftel unserer Arbeit darauf konzentrieren, solche Elemente wie Katz und Korsch, Ruth Fischer und Scholem zu isolieren, um eine große Zahl von Arbeitern in der Partei ihrem Einfluß zu entziehen. Es war eine Heldenarbeit.«(8)

In allen diesen Übergangsjahren revoltierten die deutschen kommunistischen Arbeiter gegen den stalinistischen Kurs. Es war, selbst mit Hilfe der Umstellung auf das Zellensystem und der in die Partei eingebauten Geheimagenten, nicht einfach, die Opposition zu unterdrücken. In den Jahren 1926-1927 herrschte ein Belagerungszustand in der Partei. Unter den Maßnahmen, durch die die Opposition schrittweise erstickt wurde, waren die folgenden charakteristisch:

1. Erklärungen der Opposition wurden nicht mehr in der kommunistischen Presse veröffentlicht, zunächst hauptsächlich solche, die auf die russische Krise Bezug nahmen. Zum Beispiel wurde die Erklärung Fritz Engels, des Delegierten vom Wedding auf der Plenarsitzung des Exekutivkomitees im Februar 1926, die die Solidarität der Berliner linken Kommunisten mit der Leningrader Opposition zum Ausdruck brachte, weder in der Prawda noch in der Roten Fahne abgedruckt.

2. Nach einer kurzen Frist wurden Minderheitsberichte nicht mehr zugelassen. Auf dem elften Parteitag wurden solche Erklärungen der Opposition, die verteilt worden waren, beschlagnahmt. »Diese skandalösen, gehässigen, heimtückischen Dokumente der Schande«, erklärte Wilhelm Pieck, »können auf besonderen Wunsch im Parteibüro eingesehen werden.«

3. Als sogar die Zellensitzungen der atomisierten Partei unbequem wurden, was in einigen Gebieten eine lange Zeit hindurch der Fall war, nahm man den Mitgliedern das Recht, zusammenzukommen. Statt einer Zellensitzung veranstaltete man eine Sitzung der »verantwortlichen Parteiarbeiters; das heißt, die Parteiangestellten kamen zusammen und stimmten für die Unterstützung ihres Arbeitgebers.

4. Privatbriefe wurden verdächtigen Genossen entwendet und in der deutschen Organisation als politisches Erpressungsmittel benutzt oder nach Moskau gesandt.

5. Der Geheimapparat mischte sich in Parteidiskussionen. N-Leute überfielen Oppositionsversammlungen, umstellten mit bewaffneten Gruppen Versammlungslokale, schlossen die Türen und durchsuchten die Versammlungsteilnehmer nach oppositioneller Literatur oder belastenden Briefen.

6. Derselbe N-Dienst machte Überfälle auf Privatwohnungen und veranstaltete reguläre Haussuchungen. Genossen wurden zum Hauptquartier mitgenommen und dort verhört, nicht von der regulären Parteiorganisation, sondern von Leuten des Nachrichtendienstes.

7. Der Nachrichtendienst organisierte besondere Verleumdungskampagnen gegen gewisse Personen, die als Personifizierung alles Bösen dargestellt wurden. In Moskau fabriziertes Material wurde durch die Partei und auf jedem anderen Wege verbreitet.

8. Es gab verschiedene Parteistrafen. Abtrünnige durften ein Jahr lang keine Parteiposten innehaben und nicht an Mitgliederversammlungen teilnehmen - und (eine für deutsche Verhältnisse höchst seltsame Moskauer Erfindung) sie durften über politische Fragen weder reden noch schreiben, weder in der allgemeinen noch in der Parteipresse, über welches Thema auch immer. Sie wurden nach Moskau verbannt, ins russische Hinterland, in asiatische oder südamerikanische Länder, besonders gern nach China. Während einer solchen Verbannung durften sie zum Beispiel kein deutsches Material lesen.

9. Ausgewählte Oppositionelle, Oppositionsgruppen, ganze Ortsgruppen wurden als »konterrevolutionär« ausgeschlossen; zum Beispiel kleine Industrieortschaften im Ruhrgebiet, Ickern und Hückeswagen. München-Gladbach im Rheintal, Triebes und Suhl in Thüringen und viele andere wurden summarisch ausgeschlossen, nachdem sechs Konferenzen ohne das Zustandekommen einer Mehrheit für das Zentralkomitee stattgefunden hatten.

Parteimitglieder mußten alle Beziehungen zu Ausgeschlossenen abbrechen; sie durften sich nicht einmal mit ihnen unterhalten oder ihren Gruß auf der Straße erwidern. Auf diese Weise wurden Tausende von Parteimitgliedern für kein größeres Verbrechen ausgeschlossen, als daß sie persönlichen Kontakt mit Genossen, die sie im Betrieb oder auf dem Arbeitslosenamt trafen, aufrechterhielten. »Ausschluß wegen Verbindungen« wurde zunächst in den höheren Schichten der Partei angewandt. Korsch wurde wegen seiner Verbindung zu Katz, Ruth Fischer wegen ihrer Verbindung zu Korsch ausgeschlossen; Sinowjew und Trotzkij hatten eine Erklärung abzugeben, daß sie keine Verbindung zu Fischer hatten. In einigen Fällen, vor allem wenn es sich um eines der Mitglieder des Geheimdienstes handelte, wurden Kommunisten ausgeschlossen, weil sie den Verkehr mit ihren gegenrevolutionären Ehehälften aufrechterhielten. In Halle wurde ein junger Genosse namens Springstubbe ausgeschlossen, weil er angeblich unter einem Pseudonym in einer linken kommunistischen Zeitschrift geschrieben hatte. In Dresden wurde ein Mitglied der Rechten, Erich Melcher, ausgeschlossen, weil man ihn im Volkshaus im Gespräch mit einem Sozialdemokraten gesehen hatte. In München-Gladbach wurden drei Mitglieder des Roten Frontkämpfer-Bundes ausgeschlossen, weil sie zu einer RFB-Versammlung in einem »parteifeindlichen Auto, Eigentum der ausgeschlossenen München-Gladbacher Parteiorganisation, gefahren waren.(9)

Anmerkungen

1 Siehe Inprekorr, 1926, Seite 655 und folgende.

2 Als Mitglied einer großen Gruppe deutscher Kommunisten, die im Bürgerkrieg nach Spanien geschickt wurden, organisiere Ulbricht dort eine deutsche Abteilung der GPU. Er schlug sein Hauptquartier in Albacete auf, wo er persönlich die Untersuchung gegen deutsche, schweizerische und österreichische »Trotzkisten« leitete. Er war verantwortlich für die Mißhandlungen an vielen dieser deutschen Abtrünnigen, die ähnliche Quälereien zu erdulden hatten wie in den Gestapo-Kellern. Tagelang wurden sie ohne Nahrung in fensterlose Zellen eingesperrt, die ganze Nacht hindurch verhöre; viele Stunden mußten sie in schrankartigen Zellen aufrecht stehen und wurden mit Peitschen geschlagen. Frauen wurden nicht verschont.
Nach der Niederlage der spanischen Republikaner gingen die meisten deutschen Kommunisten nach Frankreich. Nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Jahre 1940, zur Zeit des russisch-deutschen Pakts, befahl Moskau den meisten von ihnen, nach Deutschland zurückzugehen; als besonderes Vorrecht erhielt Ulbricht den Befehl, nach Moskau zu kommen. Als führendes Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau war Ulbricht einer der ersten, die nach der Nazi-Niederlage nach Berlin versetze Wurden Jetzt ist er führend in der Sozialistischen Einheits-Partei.

3 Inprekorr, 1926, Seite 39.

4 Nach The Communist International between the Fifth and Sixth Wold Congress, 1924-1928 (London, 1928, Seite 109-110) hatte die deutsche Partei auf Grund der bezahlten Mitgliedsbeiträge die folgenden Mitgliedsziffern:

1924 121394
1925 122 755
1926 134 348
1927 124729

Der deutsche Parteitag 1927 gab andererseits eine Mitgliederzahl von 145000 an. Die Verbreitung der Parteipresse wurde ungefähr aufs Doppelte der Parteimitglieder geschätzt.

5 Kommunistische Politik (Berlin, Ende Mai 1926), Bd. I, Nr. 5.

6 Franz Dahlem, Inprekorr, Nr. 27, 1926, Seite 270.

7 Philipp Dengel, ehemaliger Sekretär der Kölner Organisation, war während der Diskussion des Offenen Briefes im August 1925 zu Stalin übergegangen. Er war bis 1933 in der Thälmann-Gruppe; nach dem Sieg der Nazi ging er nach Rußland. Hier überlebte er die Prozesse; er wurde mehrmals während des Krieges als ein kommunistischer Flüchtling in Moskau erwähnt. 1943 oder 1944 verschwand er von der Bildfläche und ist seither niemals mehr erwähnt worden. Er war nicht unter den deutschen Kommunisten, die nach dem Kriege nach Deutschland zurückgeschickt worden sind.

8 Parteitagsbericht, Essener Parteitag, März 1927, Seite 41.

9 »Die zentrale Frage der Parteientwicklung«, schrieb Radek später, »ist die Frage der Parteispaltung«. Jeder, der die Dinge politisch sieht und sich den Blick nicht durch Haß trüben läßt, weiß, daß Ruth Fischer, Maslow, Urbahns, Scholem eine ganze Schicht kommunistischer Arbeiter repräsentieren. In den ersten Nachkriegsjahren repräsentierte diese Schicht revolutionäre Ungeduld.

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