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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998

aus "Neues Deutschland" vom 4.Sept. 98


Robert Kurz

BAERENTANZ DES WELTSYSTEMS

Der Bulle, das Symbol der Hausse an der Boerse, zieht den Schwanz ein;
jetzt gibt der Baer den Ton an, das Symbol der Baisse. Und ausgerechnet
der russische Baer ist es, der nun zum weltwirtschaftlichen Veitstanz
aufspielt.


Mit Schweissperlen auf der Stirn stammeln die schlotternden
Schreibtischtaeter des kapitalistischen Staatsoptimismus etwas von "rein
psychologisch" bedingter Panik; die Russenkrise koenne "uns" doch
eigentlich wenig anhaben, weil dorthin nur zwei Prozent der deutschen
Exporte gehen und die westlichen Oekonomien kerngesund seien. Russland
muesse endlich seine marktwirtschaftlichen Reformen umsetzen, auch um den
Preis sozialer Haerten.

Nach solchen - von nackter Angst belegten - Stimmen triumphiert jene
gewohnheitsmaessige Frechheit, die dazu gehoert, von einem Land
"schmerzhafte Einschnitte" zu verlangen, in dem sich ein Grossteil der
Bevoelkerung bereits aus Schrebergaerten und primitivem Tauschhandel
ernaehrt, waehrend die halbe Armee auf der Strasse bettelt. Dieser
glorreiche Zustand ist nichts anderes als das Resultat der bisherigen
marktwirtschaftlichen Oeffnung, und jeder weitere Schritt nach Westen
wird zur gesellschaftlichen Explosion fuehren.

Die Tatsachen beweisen nur eines: dass Russland ebensowenig wie die
meisten anderen Regionen der Erde in das kapitalistische Weltsystem zu
integrieren ist. Dieser Versuch konnte nur fuer wenige Jahre durch ein
finanzkapitalistisches Simulationsmodell vorgegaukelt werden. Aehnlich
wie in Asien und Lateinamerika suggerierte die Anbindung des Rubel an
einen fixierten Dollarkurs die Stabilitaet des Geldwerts in einer vom
Weltmarkt bereits zerstoerten Realoekonomie und zog kurzfristiges
spekulatives Geldkapital an. Die unzurechnungsfaehige Jelzin-Kamarilla
wurde mit Milliarden gefuettert, um die Illusion eines kapitalistischen
Junior-Partners im Osten zu naehren.

Diese Milliarden sind nicht bloss deswegen auf Schweizer Konten gelandet,
weil die Mafia-Oligarchie der "jungen Marktwirtschaft" so niedertraechtig
ist, wie sie eben ist, sondern weil es in Russland wie fast ueberall
keine ausreichend "rentablen" Anlagemoeglichkeiten nach kapitalistischen
Standards mehr gibt. Der Westen scheitert ueberall an seinen eigenen
oekonomischen Kriterien, die sich als verrueckt erweisen.

Es ist klar, dass Russland kurz vor seinem zweiten, diesmal
marktwirtschaftlichen Zusammenbruch steht. Im Unterschied zu Mexiko 1995
und Suedostasien 1997 geschieht dies jedoch nicht vor, sondern nach den
Rettungsversuchen des IWF. Dieses Desaster ist keineswegs bloss das Pech
der Russen und betrifft auch nicht allein die Peanuts von ein paar
lumpigen Milliarden realwirtschaftlicher Exporte und Hermes-Kredite.

Um die Realwirtschaft geht es sowieso schon lange nicht mehr. Der
russische Offenbarungseid hat nicht nur ueber Nacht mindestens 50
Millarden Dollar westliches spekulatives Geldkapital in Rauch aufgeloest,
sondern bringt das gesamte Kartenhaus des globalen Kasinokapitalismus ins
Wanken. Die unaufhaltsame Abwertung des Rubel potenziert den
Abwertungsdruck auf Asien ebenso wie auf Lateinamerika und beschleunigt
die Flucht des Geldkapitals. Jetzt handelt es sich nicht mehr - wie
bisher - um weltregional begrenzte Faelle, sondern um einen globalen
Eskalationsprozess mit wechselseitigen Rueckkoppelungen, der auch noch
die resttlichen Hoffnungstraeger ruiniert.

Damit wird nur sichtbar, dass die kapitalistische Expansion irreal
geworden ist. Insgesamt hat die Finanzmarktkrise seit dem letzten Herbst
schaetzungsweise mehr als eine Billion Dollar Geldkapital vernichtet -
und wenn die Boersen nicht mehr hochkommen, muessen diese Verluste
demnaechst realisiert werden. Schien es nach dem Einbruch in Suedostasien
noch so, als koenne die aus dem "emerging markets" fliehende Liquiditaet
die westlichen Boersen zu neuen Hoehenfluegen fuehren, so ist nun auch
diese Illusion geplatzt. Der Crash mitten im Sommerloch hat bereits 20
Prozent der fiktiv aufgeblaehten Aktienwerte abgeschmolzen, und der
heisse Herbst steht erst noch bevor.

Die Russlandkrise bringt es an den Tag, auf welch toenernen Fuessen das
westliche System selber steht. Das betrifft nicht zuletzt die letzte
Weltmacht an der Spitze: 1998 wird das jaehliche Handelsdefizit der USA
die Rekordsumme von 240 Milliarden Dollar erreichen. 30 Prozent des
US-Konsums speisen sich bereits aus dem breit gestreuten fiktiven Kapital
der aufgeblaehten Aktienwerte (soviel zur "robusten Konjunktur"). Nun
geht der Dollar gerade wegen der neuen Krisendimension in die Knie.
Werden aber die USA in den Strudel hineingezogen, dann gibt es kein
Halten mehr, und die zwangsweise Reduktion des abgehobenen Finanzkapitals
auf die dramatisch geschrumpfte realoekonomische Basis treibt eine
Weltwirtschaftskrise hervor, weitaus schlimmer als 1929.

Im Unterschied zu Mexiko und Indonesien wird der russische Zusammenbruch
nicht bloss Folgen auf den Finanzmaerkten haben. Die atomar bewaffnete
Mafia ist unberechenbar, und das Ruestungspotential des kollabierenden
Russlands sickert in die sprunghaft sich ausweitenden Konfliktregionen
ein, die der oekonomische Flaechenbrand zuruecklaesst.

Die Hybris einer "unipolaren" neuen Weltordnung mit einheitlichen
wirtschaftsliberalen Spielregeln unter Fuehrung der USA hat sich
endgueltig blamiert und droht im Inferno zu zu enden. Jetzt waere die
grosse sozialistische Alternative der Linken gefragt, die den unhaltbaren
buerokratischen Staatssozialismus radikal kritisch aufgearbeitet hat.
Aber leider haben sie alle auf Marktwirtschaft und Rentabilitaet, auf
"fredom and democracy" geschworen. Wie peinlich.

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Nr.9/1998