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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998


Christoph Juenke

Die Tränen des Edward P. Thompson

Zur Erinnerung an den vor fünf Jahren gestorbenen britischen Historiker und sozialistischen Humanisten


Das waren nicht jene so häufigen Tränen der Trauer oder des Mitleids, die die Zuschauer vor dem Bildschirm in der Regel teilnahmslos lassen. Es waren Tränen der Ergriffenheit, die die Zuschauer des britischen Fernsehens an jenem Sommerabend 1993 zu sehen bekamen und sich auf sie übertrugen. In einem dreiviertelstündigen Feature zu Leben und Werk Edward P. Thompsons, des wohl bekanntesten und umstrittensten britischen marxistischen Historikers, erzählte dieser u.a. von seiner kurzen, aber prägenden Zeit im titoistischen Nachkriegsjugoslawien, von den kommunistischen Partisanenkämpfen der Kriegszeit und von den internationalen freiwilligen Arbeitsbrigaden, in denen er am Aufbau des jungen Landes tatkräftig teilnahm.

Als er die Kriegsleiden und den aufopferungsvollen Enthusiasmus gerade der namenlosen, einfachen Menschen beschrieb, kamen ihm besagte Tränen. Gleichermaßen Tränen um die Opfer jener Zeit wie um den gerade im Bruderkrieg in Schutt und Asche zerfallenden und auch von ihm so intensiv geteilten Traum einer emanzipiert-solidarischen Balkanföderation.

Die Tränen des Edward Palmer Thompson versinnbildlichen jenen tiefen, sozialistisch gesättigten Humanismus, der Thompson viele Freunde und manche erbitterte Feinde machte. Ein Humanismus, der praktisch gelebt wurde und, theoretisch verarbeitet, zum Synonym einer bestimmten historischen Situation werden sollte.

Der sozialistische Humanismus ist, ideengeschichtlich betrachtet, ein Produkt der 50er Jahre, eine innerlinke Reaktion auf die Verbrechen des Stalinismus, ein Versuch, diese theoretisch zu verarbeiten und die sozialistische Bewegung damit auch praktisch zu erneuern. Die Entdeckung des jungen Marx und seiner Entfremdungsproblematik, der Rückgriff auf Hegel und das Erbe des Idealismus, auf Freud, die Psychoanalyse und den Existenzialismus, sowie die Abscheu gegen eine kommunistische Bewegung, die die Verbrechen des Stalinismus nur als "Fehler" zu verstehen imstande ist (XX.Parteitag der KPdSU) und gleichzeitig Panzer gegen aufbegehrende Arbeiter einsetzt (Einmarsch in Ungarn 1956) markieren die Abkehr auch vom mechanistischen Determinismus der stalinistischen Philosophie, in der der/ die Einzelne nichts, das im Führer sich vereinigende Kollektiv alles ist.

Die "Rückkehr zum Menschen" wurde so zur programmatischen Anwort auf den erziehungsdiktatorischen, gleichermaßen theoretischen wie praktischen Antihumanismus. In Kombination mit dem v.a. nach 1956 sprunghaft sich entwickelnden dissidenten Kommunismus, kam es zum Entstehen einer weltweiten Neuen Linken, die sich die Renaissance eines emanzipativen Marxismus auf ihre Fahnen schrieb.

Edward P. Thompson sollte einer ihrer wichtigsten Exponenten werden. Als Jüngling fühlte sich der 1924 als Sohn liberaler Kritiker des britischen Imperialismus Geborene zum Poeten berufen, begann in Cambridge ein Literaturstudium und tat es seinem grossen Bruder und Vorbild gleich, als er im Alter von 17 Jahren der Kommunistischen Partei beitrat. Der Krieg machte ihn, 19jaehrig, kurzzeitig zum kämpfenden Offizier in Italien und Frankreich, doch bald schon studierte er wieder, nun Geschichte. 1947 ging er als Freiwilliger einer Jugendbrigade nach Jugoslawien und half beim Eisenbahnbau.

Nach seiner Rückkehr arbeitete er intensiv in der KP, und v.a. in deren Historikergruppe mit. Hier lernte er nicht nur seine zukünftige Frau Dorothy kennen und lieben, er diskutierte und arbeitete auch mit Maurice Dobb, Rodney Hilton, Christopher Hill, Eric Hobsbawm u.v.a. eng zusammen, begründete mit ihnen die bedeutendste "Schule" marxistischer Geschichtsschreibung im 20.Jahrhundert.

1955 veröffentlichte der in der Erwachsenenbildung Tätige sein erstes Buch, die Biographie des englischen, vom Marxismus beeinflußten Sozialutopisten William Morris ("William Morris. Romantic to Revolutionary") und wandte sich mit seiner Abkehr vom Stalinismus zunehmend der verschütteten Geschichte subalterner Klassen zu. Ende der 50er Jahre - Thompson ist führender Aktivist der Neuen Linken - arbeitete er an einem umfangreichen Manuskript zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse, das 1963 unter dem mehrdeutigen Titel "The Making of the English Working Class" (dt. Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 1987) erschien und zu einem der bedeutendsten Pionierwerke der neueren Sozialgeschichte werden sollte. "Es heisst Making, denn was hier untersucht wird, ist ein aktiver Prozeß, Resultat menschlichen Handelns und historischer Bedingungen. Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt."

Was bald den Namen "Geschichte von unten" bekommen sollte, hier findet man sie thematisiert als alternative Gegengeschichte gegen die herrschende Geschichtsschreibung großer Persönlichkeiten, Institutionen und Strukturen. Eine Geschichtsschreibung vergangener Klassenkämpfe, die die Besiegten der Geschichte, ihre Kämpfe und Vorstellungen, ihre Kultur und ihren Widerstandsgeist wieder lebendig werden läßt. Ohne allerdings pessimistisch zu meinen, dass diese Besiegten endgültig und unwiederbringlich besiegt seien, denn gerade um die weiterwirkenden Traditionen des plebejischen Radikalismus ging es Thompson, darum, mit Erinnerungsarbeit zur Reaktivierung solcherart Traditionen beizutragen.

Als besonders streitbar erwies sich dabei der dem Buch und Thompsons Gesamtwerk zugrundeliegende Klassenbegriff. Thompson verstand Klasse nicht als schlichte Kategorie oder als Struktur, nicht als abgeleitetes Phänomen einer alles beherrschenden Ökonomie oder als Erfüllungsgehilfen einer allwissenden Partei. ",Sie' existiert nicht, um ein ideales Interesse oder Bewußtsein zu zeigen oder als Patient auf dem Seziertisch zu liegen." Klasse war ihm ein zutiefst historisches Produkt, etwas Fließendes, aktiv handelnd zu Konstruierendes, "etwas, das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, abspielt", etwas, das ohne die Kategorie von "Erfahrung" nicht gedacht und verstanden werden kann und das wir als "Muster in ihren Beziehungen, ihren Ideen und ihren Institutionen" erkennen können. Klassenanalyse war ihm so Analyse von Klassenbewußtsein. "Indem Menschen ihre eigene Geschichte leben, definieren sie Klasse, und dies ist letzten Endes die einzige Definition."

Edward P. Thompsons theoretische Provokation wurde zu einer mächtigen Waffe im Kampfe gegen den mechanischen Determinismus großer Teile der traditionellen Linken. Seine Reaktivierung voluntaristischer Elemente im marxistischen Theoriegebäude war, auch wenn es ihm viele vorwerfen sollten und trotz aller Problematik, keine Abkehr vom Materialismus, kein philosophischer Idealismus. Sie war immanenter Teil der neulinken Rückkehr zur Dialektik, "Dialektik, verstanden als Logik des Prozesses", wie es Thompson einmal nannte. Und sie war probates Mittel gegen den herrschenden Technokratismus von Spätkapitalismus und Spätstalinismus - bspw. im 1968 zusammen mit Raymond Williams und Stuart Hall verfaßten "May Day Manifesto", in dem (verblüffend aktuell) jenes technokratische Gesellschaftsdenken der sozialdemokratischen Labourregierung angegriffen wird, dem die allseits im Munde geführte Modernisierung bloßes technisches Mittel ist, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne jedoch Zukunft wirklich zu gestalten.

Gegen technokratische Fortschrittsgläubigkeit und den Kult der Zukunft beschwor Thompson die revolutionäre Romantik, die Traditionen romantischer Kritik der industriell-kapitalistischen Zivilisation - nicht im Sinne einer Rückkehr in vorkapitalistische Vergangenheit, sondern als mentale Kraftquelle für die Kämpfe um eine nachkapitalistische Zukunft. In dieser Wiederentdeckung und Neuformulierung der romantischen Vision, darauf haben Michael Loewy und Robert Sayre vor wenigen Jahren zu Recht hingewiesen, ist das originelle "sich unauslöschlich einprägende Leitmotiv" des Thompsonschen Werkes zu sehen, seine subversive Kraft.

Zu besichtigen ist diese revolutionäre Romantik v.a. in seinen seit Ende der 60er Jahre veröffentlichten Aufsätzen zur moralischen Ökonomie der Unterschichten im 18.Jahrhundert (dt. "Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts", 1980). Hier widmet er sich der Untersuchung der Hunger- und Brotrevolten und den in ihnen zutagetretenden spezifisch rationalen Wertvorstellungen, verfolgt die teils schleichende, teils gewaltsame Durchsetzung von Bargeldkultur und industriellem Zeitgefühl und - verständnis, beschreibt und analysiert die ritualisierten Formen von Feindseligkeit innerhalb der plebejischen Unterschichten und das in ihnen sich manifestierende und von heutigem so verschiedene Rechtsverständnis.

Auf der Suche nach der sozialen Logik plebejischen Aufbegehrens lehrt er uns nicht nur die Geschichte vergangener Zeiten und Menschen, nicht nur, wie sich Plebejer und Arbeiterklasse gegen das Aufkommen des industriellen Kapitalismus handfest und durchaus nicht ohne Erfolg wehrten. Er lehrt uns mit seiner Vergegenwärtigung moralischer Ökonomie auch, wie man zuallererst gegen den Kapitalismus und die immer totalitärer werdende Durchsetzung der Marktlogik andenkt - darauf hat besonders Ellen Meiksins Wood hingewiesen ("analyse und kritik", Nr.417, 27.8.98).

Wood sieht Thompsons politisches Vermächtnis v.a. darin, dass er uns die historische Einzigartigkeit der gewaltsam durchgesetzten kapitalistischen Produktionsweise nicht vergessen läßt. Geschichte fungiert hier als Kritik, als Mittel, ideologische Denkgewohnheiten spätkapitalistischer Geschichtslosigkeit aufzubrechen und das für selbstverständlich Genommene in Frage zu stellen, aufzuzeigen, dass der Kapitalismus nicht das von seinen Apologeten behauptete natürliche Ergebnis menschlicher Geschichte ist, dass der Markt kein unvermeidbares, natürliches, ewig währendes Gesetz ist.

Thompson mischte sich jedoch auch weiterhin nicht nur indirekt in die politische Kämpfe seiner Zeit ein. Gerade seine in den politisch-sozialen Kämpfen der 40er und 50er Jahre verwurzelte Volkstümlichkeit sollte ihn allerdings in Konflikt bringen mit jener zweiten Generation Neuer Linker, die den Ton von 68 ausmachen und die Theorieproduktion der 70er Jahre wesentlich bestimmen sollten. Schon zu Beginn der 60er Jahre kam es zum Bruch mit Perry Anderson, Robin Blackburn u.a., die als neue Herausgeber die von ihm mitgegründete "New Left Review" für den kontinentalen Marxismus, den sog. "westlichen Marxismus" öffneten und das Erbe des auch von Thompson und seiner Generation überwiegend vernachlässigten revolutionären Sozialismus aufarbeiteten (Luxemburg, Lukçcs, Korsch, Gramsci, Trotzki u.a.).

Auf deren heftige Abrechnung mit der auch von Thompson verkörperten und als "Empirismus" und "Moralismus" beschimpften Tradition britischer Linker reagierte er mit ebenso heftigem Temperament, wollte "englische Poesie und moralische Kritik nicht gegen deutsche Philosophie und Soziologie tauschen", wie er es einmal nannte. Er wetterte gegen jene, wie er es sah, im revoltierenden Bürgertum wurzelnde Intellektuellenbewegung, die vom "expressiven und rationalistischen, von sich selbst berauschten Stil der Gesten, der mit einer ernsthaften, festverwurzelten rationalen revolutionären Tradition nichts gemein hat" geprägt wurde und aus dieser gesellschaftlichen Isolation eine Tugend machte.

Sein gleichermaßen theoretisch wie praktischer Kampf gegen den mechanischen Determinismus des marxistischen Basis-Ueberbau-Schemas, der die Menschen zu willfährigen Auführungsorganen eines geschichtlichen Zwangscharakters macht, war ihm ein erbitterter Kampf gegen jede Form des Elitismus, den er gerade im westlichen Marxismus der 68er am Werke sah. "Nichts ist typischer und für den westlichen Marxismus enthüllender, als seine von Grund auf antidemokratischen Prämissen. Ob Frankfurter Schule oder Althusser, sie sind geprägt durch die sehr starke Betonung, die sie auf dem unentrinnbaren Druck ideologischer Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die jeglichen Raum für Initiative und Kreativität der Masse der Menschen zerstört, eine Herrschaft, von der sich nur eine aufgeklärte Minderheit von Intellektuellen freikämpfen kann."

Die intellektuellen Suchbewegungen der 70er Jahre intensivierten auch Thompsons Rechenschaftslegung jener seiner Meinung nach auch im ursprünglichen Marxismus verwurzelten theoretischen Ursachen des Stalinismus, und gipfelten in seiner 1978 veröffentlichten furiosen Abrechnung mit Louis Althusser, dem Säulenheiligen einer ganzen Generation (halb-)marxistischer Intellektueller (dt. "Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung", 1980).

Er entlarvte dabei Althussers theoretisch gefaßten Stalinismus und entwickelte im Gegenzug seine libertär-kommunistische Sicht der Dinge, die auch vor weitgehender Marxkritik nicht halt machte, dem er theoretisches Schweigen vorwarf "was die kulturellen und moralischen Vermittlungen angeht, wie Menschen in spezifische, vorgegebene Produktionsverhältnisse eingebunden sind, die Art und Weise, in der diese materiellen Erfahrungen kulturell verarbeitet werden, und auf welche Weise bestimmte Wertsysteme mit bestimmten Produktionsweisen zusammenpassen und bestimmte Produktionsweisen und Produktionsverhältnisse ohne passende Wertsysteme unvorstellbar sind".

Statt sich jener von der Althusser-Schule gepflegten "theoretischen Praxis" hinzugeben, sprich schlaue Bücher zu schreiben, warf sich Thompson in der Folge in die aufzehrende Arbeit der entstehenden internationalen Friedensbewegung. Viele Jahre hindurch widmete er ihr seine gesamte Energie, organisierte, hielt Vorträge, schrieb Artikel und gab Interviews, verstand die sich jenseits von Osten und Westen postierende Friedensbewegung als Fortsetzung der Neuen Linken und kämpfte gleichermaßen gegen undemokratische Militärdiplomatie wie gegen die apokalyptischen Reiter des Atomzeitalters.

Mitte der 80er Jahre merkte er schließlich, dass seine Gesundheit zerrüttet war, zog sich zunehmend zurück und arbeitete fortan an der Beendigung seiner lange angekündigten historischen Arbeiten ("Customs in Common", 1991; "William Blake and the Moral Law", 1993). Nach getaner Arbeit und im Angesicht der auch für ihn sicherlich bitteren Niederlagen der 90er Jahre blieb es ihm schließlich vergönnt, seinem eigenen Motto zu folgen: "Nach jeder Niederlage sollte man sich jedoch aufrappeln, sich den Staub von den Knien bürsten und fröhlich und erhobenen Hauptes weitermarschieren." Am 28.August 1993, nur kurze Zeit nach Ausstrahlung des TV-Features, erlag Edward P. Thompson seinem langjährigen Leiden.

SoZ Nr.18 vom 3.9.1998
Kontakt: SoZ, Dasselstr.75--77, 50674 Köln.
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E-Mail: soz@link-lev.dinoco.de

Der Artikel erschien vorab in CL/SOZIALISMUS/THEORIE und Gregor Zattler postete dort seine kritischen Anmerkungen, die wir hier dokumentieren wollen.

G.ZATTLER@VLBERLIN.comlink.de  (Gregor Zattler)
Betreff : Re: E.P.Thompson - zum 5.Todestag
Datum : Fr 04.09.98, 00:52 (erhalten: 05.09.98)

Liebe Netzgemeinde,
hallo SoZ-Verlag,
hallo Christoph Juenke,

Die SoZ postete einen Artikel von Christoph Juenke aus ihrer aktuellen Ausgabe Nr.18 vom 3.9.1998:

"Die Traenen des Edward P. Thompson. Zur Erinnerung an den vor fuenf Jahren gestorbenen britischen Historiker und sozialistischen Humanisten". Es handelt sich um einen Artikel zum 5. Todestag Edward P. Thompsons, der sehr freundlich ausgefallen ist.

Mir geht es hier nur um ein paar theoretisch interessante Punkte: Christoph Juenke schreibt u.a.:

S> Sein [gemeint ist E. P. Thompson; Gregor] gleichermassen

S> theoretisch wie praktischer Kampf gegen den

S> mechanischen Determinismus des marxistischen Basis-Ueberbau-Schemas, der

S> die Menschen zu willfaehrigen Aufuehrungsorganen eines geschichtlichen

S> Zwangscharakters macht, war ihm ein erbitterter Kampf gegen jede Form

S> des Elitismus, den er gerade im westlichen Marxismus der 68er am Werke

S> sah. "Nichts ist typischer und fuer den westlichen Marxismus

S> enthuellender, als seine von Grund auf antidemokratischen Praemissen. Ob

S> Frankfurter Schule oder Althusser, sie sind gepraegt durch die sehr

S> starke Betonung, die sie auf dem unentrinnbaren Druck ideologischer

S> Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die jeglichen Raum

S> fuer Initiative und Kreativitaet der Masse der Menschen zerstoert, eine

S> Herrschaft, von der sich nur eine aufgeklaerte Minderheit von

S> Intellektuellen freikaempfen kann."

Nun, die Frage waere doch zunaechst, ob die sehr hermetischen ideologitheoretischen Ueberlegungen der Frankfurter Schule oder Althussers nicht vielleicht doch den Kern treffen. Ich denke, beide wurden produziert um die unheimliche Stabilitaet von Verhaeltnissen zu erklaeren, die der Masse der Leute eher zum Nachteil gereichen. Wer demgegenueber immer die Freiheit der Menschen, ihre Kreativitaet und Initiative besingt muss doch ratlos vor dem Phaenomen stehen, dass Thatcher nicht abgewaehlt wurde und Kohl noch Kanzler ist.

An dieser Stelle des Artikels ist noch unklar, weswegen die kritisierten Vertreter "antidemokratischer Praemissen" (Louis Althusser und Frankfurter Schule) im Zusammenhang mit "mechanischen Determinismus des marxistischen Basis-Ueberbau-Schemas" genannt werden. Mit der Frankfurter Schule kenn' ich mich nur wenig aus, kann mir aber nicht so recht vorstellen, dass diese Unterstellung Sinn ergibt.

Ganz sicher Unfug ist es Althusser als Mechaniker des Basis-Ueberbau Klapperatismus darzustellen. Vielmehr hebelt Althussers "materialistische Dialektik" das Basis-Ueberbau-Schema eher aus (obwohl er es immer darauf bezieht).

Den genannten Richtung mechanistischen Determinismus zu unterstellen ergibt freilich durchaus Sinn: Als Vorbereitung auf die naechsten Zeilen, mit denen Althusser zum Stalinisten gestempelt wird:

S> Die intellektuellen Suchbewegungen der 70er Jahre intensivierten auch

S> Thompsons Rechenschaftslegung jener seiner Meinung nach auch im

S> urspruenglichen Marxismus verwurzelten theoretischen Ursachen des

S> Stalinismus, und gipfelten in seiner 1978 veroeffentlichten furiosen

S> Abrechnung mit Louis Althusser, dem Saeulenheiligen einer ganzen

S> Generation (halb-)marxistischer Intellektueller (dt. "Das Elend der

S> Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung", 1980).

S> Er entlarvte dabei Althussers theoretisch gefassten Stalinismus [...]

Es ist schon richtig, dass Thompson etwas dieser Art geschrieben hatte, aber deswegen muss man es ja nicht kritiklos wiedergeben. Welche Rolle Althusser, der nie aus der FKP ausgetreten ist, fuer diese letztlich gespielt hat, ist schwer zu sagen. Sicher ist aber, dass man den Verfasser von "Marxismus und Humanismus" (1963) genau so wenig als Stalinisten bezeichnen kann, wie den von "Wie es in der FKP nicht mehr weitergehen kann" (1978).

Es waere schon erfreulich, wenn Christoph Juenke wenigstens angeben wuerde, worin der "theoretisch gefassten Stalinismus" Althussers eigentlich bestanden haben soll.

Billig ist freilich, sich seinen Marxismus dadurch zu retten, dass man diejenigen, die einem nicht in den Kram passen zu Halb-Marxisten macht. Billig ist auch, einem Theoretiker vorzuwerfen, Theorie zu produzieren:

S> Statt sich jener von der Althusser-Schule gepflegten "theoretischen

S> Praxis" hinzugeben, sprich schlaue Buecher zu schreiben, warf sich

S> Thompson in der Folge in die aufzehrende Arbeit der entstehenden

S> internationalen Friedensbewegung [...]

Das appelliert an ganz tiefe intellektuellenfeindliche Vorurteile und macht sich letztlich in einem freundlichen Artikel ueber einen anderen Theoretiker auch nicht gut. Der hat ja nun auch einiges geschrieben -- oder sollte es sich um den versteckten Hinweis handeln, dass Thompsons Texte nicht "schlau" sind?

Der Artikel hat mir gar nicht gefallen.

Ciao, Gregor

Diese Nachricht bezieht sich auf SoZ-Verlag <Soz@LINK-LEV.dinoco.de>: "E.P.Thompson - zum 5.Todestag" in: /CL/SOZIALISMUS/ALLGEMEIN  vom: Dienstag, den 01.09.98 (message-id:700vr-Rc2VB@posoz.link-lev.dinoco.de).

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