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Christoph Juenke
Die Tränen des Edward P. Thompson
Zur Erinnerung an den vor fünf Jahren gestorbenen britischen Historiker und
sozialistischen Humanisten
Das waren nicht jene so häufigen Tränen der Trauer oder des Mitleids, die die Zuschauer
vor dem Bildschirm in der Regel teilnahmslos lassen. Es waren Tränen der Ergriffenheit,
die die Zuschauer des britischen Fernsehens an jenem Sommerabend 1993 zu sehen bekamen und
sich auf sie übertrugen. In einem dreiviertelstündigen Feature zu Leben und Werk Edward
P. Thompsons, des wohl bekanntesten und umstrittensten britischen marxistischen
Historikers, erzählte dieser u.a. von seiner kurzen, aber prägenden Zeit im
titoistischen Nachkriegsjugoslawien, von den kommunistischen Partisanenkämpfen der
Kriegszeit und von den internationalen freiwilligen Arbeitsbrigaden, in denen er am Aufbau
des jungen Landes tatkräftig teilnahm.
Als er die Kriegsleiden und den aufopferungsvollen Enthusiasmus gerade der namenlosen,
einfachen Menschen beschrieb, kamen ihm besagte Tränen. Gleichermaßen Tränen um die
Opfer jener Zeit wie um den gerade im Bruderkrieg in Schutt und Asche zerfallenden und
auch von ihm so intensiv geteilten Traum einer emanzipiert-solidarischen
Balkanföderation.
Die Tränen des Edward Palmer Thompson versinnbildlichen jenen tiefen, sozialistisch
gesättigten Humanismus, der Thompson viele Freunde und manche erbitterte Feinde machte.
Ein Humanismus, der praktisch gelebt wurde und, theoretisch verarbeitet, zum Synonym einer
bestimmten historischen Situation werden sollte.
Der sozialistische Humanismus ist, ideengeschichtlich betrachtet, ein Produkt der 50er
Jahre, eine innerlinke Reaktion auf die Verbrechen des Stalinismus, ein Versuch, diese
theoretisch zu verarbeiten und die sozialistische Bewegung damit auch praktisch zu
erneuern. Die Entdeckung des jungen Marx und seiner Entfremdungsproblematik, der
Rückgriff auf Hegel und das Erbe des Idealismus, auf Freud, die Psychoanalyse und den
Existenzialismus, sowie die Abscheu gegen eine kommunistische Bewegung, die die Verbrechen
des Stalinismus nur als "Fehler" zu verstehen imstande ist (XX.Parteitag der
KPdSU) und gleichzeitig Panzer gegen aufbegehrende Arbeiter einsetzt (Einmarsch in Ungarn
1956) markieren die Abkehr auch vom mechanistischen Determinismus der stalinistischen
Philosophie, in der der/ die Einzelne nichts, das im Führer sich vereinigende Kollektiv
alles ist.
Die "Rückkehr zum Menschen" wurde so zur programmatischen Anwort auf den
erziehungsdiktatorischen, gleichermaßen theoretischen wie praktischen Antihumanismus. In
Kombination mit dem v.a. nach 1956 sprunghaft sich entwickelnden dissidenten Kommunismus,
kam es zum Entstehen einer weltweiten Neuen Linken, die sich die Renaissance eines
emanzipativen Marxismus auf ihre Fahnen schrieb.
Edward P. Thompson sollte einer ihrer wichtigsten Exponenten werden. Als Jüngling fühlte
sich der 1924 als Sohn liberaler Kritiker des britischen Imperialismus Geborene zum Poeten
berufen, begann in Cambridge ein Literaturstudium und tat es seinem grossen Bruder und
Vorbild gleich, als er im Alter von 17 Jahren der Kommunistischen Partei beitrat. Der
Krieg machte ihn, 19jaehrig, kurzzeitig zum kämpfenden Offizier in Italien und
Frankreich, doch bald schon studierte er wieder, nun Geschichte. 1947 ging er als
Freiwilliger einer Jugendbrigade nach Jugoslawien und half beim Eisenbahnbau.
Nach seiner Rückkehr arbeitete er intensiv in der KP, und v.a. in deren Historikergruppe
mit. Hier lernte er nicht nur seine zukünftige Frau Dorothy kennen und lieben, er
diskutierte und arbeitete auch mit Maurice Dobb, Rodney Hilton, Christopher Hill, Eric
Hobsbawm u.v.a. eng zusammen, begründete mit ihnen die bedeutendste "Schule"
marxistischer Geschichtsschreibung im 20.Jahrhundert.
1955 veröffentlichte der in der Erwachsenenbildung Tätige sein erstes Buch, die
Biographie des englischen, vom Marxismus beeinflußten Sozialutopisten William Morris
("William Morris. Romantic to Revolutionary") und wandte sich mit seiner Abkehr
vom Stalinismus zunehmend der verschütteten Geschichte subalterner Klassen zu. Ende der
50er Jahre - Thompson ist führender Aktivist der Neuen Linken - arbeitete er an einem
umfangreichen Manuskript zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse, das 1963 unter dem
mehrdeutigen Titel "The Making of the English Working Class" (dt. Die Entstehung
der englischen Arbeiterklasse, 1987) erschien und zu einem der bedeutendsten Pionierwerke
der neueren Sozialgeschichte werden sollte. "Es heisst Making, denn was hier
untersucht wird, ist ein aktiver Prozeß, Resultat menschlichen Handelns und historischer
Bedingungen. Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt
in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt."
Was bald den Namen "Geschichte von unten" bekommen sollte, hier findet man sie
thematisiert als alternative Gegengeschichte gegen die herrschende Geschichtsschreibung
großer Persönlichkeiten, Institutionen und Strukturen. Eine Geschichtsschreibung
vergangener Klassenkämpfe, die die Besiegten der Geschichte, ihre Kämpfe und
Vorstellungen, ihre Kultur und ihren Widerstandsgeist wieder lebendig werden läßt. Ohne
allerdings pessimistisch zu meinen, dass diese Besiegten endgültig und unwiederbringlich
besiegt seien, denn gerade um die weiterwirkenden Traditionen des plebejischen
Radikalismus ging es Thompson, darum, mit Erinnerungsarbeit zur Reaktivierung solcherart
Traditionen beizutragen.
Als besonders streitbar erwies sich dabei der dem Buch und Thompsons Gesamtwerk
zugrundeliegende Klassenbegriff. Thompson verstand Klasse nicht als schlichte Kategorie
oder als Struktur, nicht als abgeleitetes Phänomen einer alles beherrschenden Ökonomie
oder als Erfüllungsgehilfen einer allwissenden Partei. ",Sie' existiert nicht, um
ein ideales Interesse oder Bewußtsein zu zeigen oder als Patient auf dem Seziertisch zu
liegen." Klasse war ihm ein zutiefst historisches Produkt, etwas Fließendes, aktiv
handelnd zu Konstruierendes, "etwas, das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen,
abspielt", etwas, das ohne die Kategorie von "Erfahrung" nicht gedacht und
verstanden werden kann und das wir als "Muster in ihren Beziehungen, ihren Ideen und
ihren Institutionen" erkennen können. Klassenanalyse war ihm so Analyse von
Klassenbewußtsein. "Indem Menschen ihre eigene Geschichte leben, definieren sie
Klasse, und dies ist letzten Endes die einzige Definition."
Edward P. Thompsons theoretische Provokation wurde zu einer mächtigen Waffe im Kampfe
gegen den mechanischen Determinismus großer Teile der traditionellen Linken. Seine
Reaktivierung voluntaristischer Elemente im marxistischen Theoriegebäude war, auch wenn
es ihm viele vorwerfen sollten und trotz aller Problematik, keine Abkehr vom
Materialismus, kein philosophischer Idealismus. Sie war immanenter Teil der neulinken
Rückkehr zur Dialektik, "Dialektik, verstanden als Logik des Prozesses", wie es
Thompson einmal nannte. Und sie war probates Mittel gegen den herrschenden Technokratismus
von Spätkapitalismus und Spätstalinismus - bspw. im 1968 zusammen mit Raymond Williams
und Stuart Hall verfaßten "May Day Manifesto", in dem (verblüffend aktuell)
jenes technokratische Gesellschaftsdenken der sozialdemokratischen Labourregierung
angegriffen wird, dem die allseits im Munde geführte Modernisierung bloßes technisches
Mittel ist, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne jedoch Zukunft wirklich zu gestalten.
Gegen technokratische Fortschrittsgläubigkeit und den Kult der Zukunft beschwor Thompson
die revolutionäre Romantik, die Traditionen romantischer Kritik der
industriell-kapitalistischen Zivilisation - nicht im Sinne einer Rückkehr in
vorkapitalistische Vergangenheit, sondern als mentale Kraftquelle für die Kämpfe um eine
nachkapitalistische Zukunft. In dieser Wiederentdeckung und Neuformulierung der
romantischen Vision, darauf haben Michael Loewy und Robert Sayre vor wenigen Jahren zu
Recht hingewiesen, ist das originelle "sich unauslöschlich einprägende
Leitmotiv" des Thompsonschen Werkes zu sehen, seine subversive Kraft.
Zu besichtigen ist diese revolutionäre Romantik v.a. in seinen seit Ende der 60er Jahre
veröffentlichten Aufsätzen zur moralischen Ökonomie der Unterschichten im
18.Jahrhundert (dt. "Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur
englischen Sozialgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts", 1980). Hier widmet er sich
der Untersuchung der Hunger- und Brotrevolten und den in ihnen zutagetretenden spezifisch
rationalen Wertvorstellungen, verfolgt die teils schleichende, teils gewaltsame
Durchsetzung von Bargeldkultur und industriellem Zeitgefühl und - verständnis,
beschreibt und analysiert die ritualisierten Formen von Feindseligkeit innerhalb der
plebejischen Unterschichten und das in ihnen sich manifestierende und von heutigem so
verschiedene Rechtsverständnis.
Auf der Suche nach der sozialen Logik plebejischen Aufbegehrens lehrt er uns nicht nur die
Geschichte vergangener Zeiten und Menschen, nicht nur, wie sich Plebejer und
Arbeiterklasse gegen das Aufkommen des industriellen Kapitalismus handfest und durchaus
nicht ohne Erfolg wehrten. Er lehrt uns mit seiner Vergegenwärtigung moralischer
Ökonomie auch, wie man zuallererst gegen den Kapitalismus und die immer totalitärer
werdende Durchsetzung der Marktlogik andenkt - darauf hat besonders Ellen Meiksins Wood
hingewiesen ("analyse und kritik", Nr.417, 27.8.98).
Wood sieht Thompsons politisches Vermächtnis v.a. darin, dass er uns die historische
Einzigartigkeit der gewaltsam durchgesetzten kapitalistischen Produktionsweise nicht
vergessen läßt. Geschichte fungiert hier als Kritik, als Mittel, ideologische
Denkgewohnheiten spätkapitalistischer Geschichtslosigkeit aufzubrechen und das für
selbstverständlich Genommene in Frage zu stellen, aufzuzeigen, dass der Kapitalismus
nicht das von seinen Apologeten behauptete natürliche Ergebnis menschlicher Geschichte
ist, dass der Markt kein unvermeidbares, natürliches, ewig währendes Gesetz ist.
Thompson mischte sich jedoch auch weiterhin nicht nur indirekt in die politische Kämpfe
seiner Zeit ein. Gerade seine in den politisch-sozialen Kämpfen der 40er und 50er Jahre
verwurzelte Volkstümlichkeit sollte ihn allerdings in Konflikt bringen mit jener zweiten
Generation Neuer Linker, die den Ton von 68 ausmachen und die Theorieproduktion der 70er
Jahre wesentlich bestimmen sollten. Schon zu Beginn der 60er Jahre kam es zum Bruch mit
Perry Anderson, Robin Blackburn u.a., die als neue Herausgeber die von ihm mitgegründete
"New Left Review" für den kontinentalen Marxismus, den sog. "westlichen
Marxismus" öffneten und das Erbe des auch von Thompson und seiner Generation
überwiegend vernachlässigten revolutionären Sozialismus aufarbeiteten (Luxemburg,
Lukçcs, Korsch, Gramsci, Trotzki u.a.).
Auf deren heftige Abrechnung mit der auch von Thompson verkörperten und als
"Empirismus" und "Moralismus" beschimpften Tradition britischer Linker
reagierte er mit ebenso heftigem Temperament, wollte "englische Poesie und moralische
Kritik nicht gegen deutsche Philosophie und Soziologie tauschen", wie er es einmal
nannte. Er wetterte gegen jene, wie er es sah, im revoltierenden Bürgertum wurzelnde
Intellektuellenbewegung, die vom "expressiven und rationalistischen, von sich selbst
berauschten Stil der Gesten, der mit einer ernsthaften, festverwurzelten rationalen
revolutionären Tradition nichts gemein hat" geprägt wurde und aus dieser
gesellschaftlichen Isolation eine Tugend machte.
Sein gleichermaßen theoretisch wie praktischer Kampf gegen den mechanischen Determinismus
des marxistischen Basis-Ueberbau-Schemas, der die Menschen zu willfährigen
Auführungsorganen eines geschichtlichen Zwangscharakters macht, war ihm ein erbitterter
Kampf gegen jede Form des Elitismus, den er gerade im westlichen Marxismus der 68er am
Werke sah. "Nichts ist typischer und für den westlichen Marxismus enthüllender, als
seine von Grund auf antidemokratischen Prämissen. Ob Frankfurter Schule oder Althusser,
sie sind geprägt durch die sehr starke Betonung, die sie auf dem unentrinnbaren Druck
ideologischer Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die jeglichen Raum für
Initiative und Kreativität der Masse der Menschen zerstört, eine Herrschaft, von der
sich nur eine aufgeklärte Minderheit von Intellektuellen freikämpfen kann."
Die intellektuellen Suchbewegungen der 70er Jahre intensivierten auch Thompsons
Rechenschaftslegung jener seiner Meinung nach auch im ursprünglichen Marxismus
verwurzelten theoretischen Ursachen des Stalinismus, und gipfelten in seiner 1978
veröffentlichten furiosen Abrechnung mit Louis Althusser, dem Säulenheiligen einer
ganzen Generation (halb-)marxistischer Intellektueller (dt. "Das Elend der Theorie.
Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung", 1980).
Er entlarvte dabei Althussers theoretisch gefaßten Stalinismus und entwickelte im
Gegenzug seine libertär-kommunistische Sicht der Dinge, die auch vor weitgehender
Marxkritik nicht halt machte, dem er theoretisches Schweigen vorwarf "was die
kulturellen und moralischen Vermittlungen angeht, wie Menschen in spezifische, vorgegebene
Produktionsverhältnisse eingebunden sind, die Art und Weise, in der diese materiellen
Erfahrungen kulturell verarbeitet werden, und auf welche Weise bestimmte Wertsysteme mit
bestimmten Produktionsweisen zusammenpassen und bestimmte Produktionsweisen und
Produktionsverhältnisse ohne passende Wertsysteme unvorstellbar sind".
Statt sich jener von der Althusser-Schule gepflegten "theoretischen Praxis"
hinzugeben, sprich schlaue Bücher zu schreiben, warf sich Thompson in der Folge in die
aufzehrende Arbeit der entstehenden internationalen Friedensbewegung. Viele Jahre hindurch
widmete er ihr seine gesamte Energie, organisierte, hielt Vorträge, schrieb Artikel und
gab Interviews, verstand die sich jenseits von Osten und Westen postierende
Friedensbewegung als Fortsetzung der Neuen Linken und kämpfte gleichermaßen gegen
undemokratische Militärdiplomatie wie gegen die apokalyptischen Reiter des
Atomzeitalters.
Mitte der 80er Jahre merkte er schließlich, dass seine Gesundheit zerrüttet war, zog
sich zunehmend zurück und arbeitete fortan an der Beendigung seiner lange angekündigten
historischen Arbeiten ("Customs in Common", 1991; "William Blake and the
Moral Law", 1993). Nach getaner Arbeit und im Angesicht der auch für ihn sicherlich
bitteren Niederlagen der 90er Jahre blieb es ihm schließlich vergönnt, seinem eigenen
Motto zu folgen: "Nach jeder Niederlage sollte man sich jedoch aufrappeln, sich den
Staub von den Knien bürsten und fröhlich und erhobenen Hauptes weitermarschieren."
Am 28.August 1993, nur kurze Zeit nach Ausstrahlung des TV-Features, erlag Edward P.
Thompson seinem langjährigen Leiden.
SoZ Nr.18 vom 3.9.1998
Kontakt: SoZ, Dasselstr.75--77, 50674 Köln.
Fon: (0221) 9231196; Fax: (0221) 9231197.
E-Mail: soz@link-lev.dinoco.de
Der Artikel erschien vorab in CL/SOZIALISMUS/THEORIE und Gregor Zattler
postete dort seine kritischen Anmerkungen, die wir hier dokumentieren wollen.
G.ZATTLER@VLBERLIN.comlink.de (Gregor Zattler)
Betreff : Re: E.P.Thompson - zum 5.Todestag
Datum : Fr 04.09.98, 00:52 (erhalten: 05.09.98)
Liebe Netzgemeinde,
hallo SoZ-Verlag,
hallo Christoph Juenke,
Die SoZ postete einen Artikel von Christoph Juenke aus ihrer
aktuellen Ausgabe Nr.18 vom 3.9.1998:
"Die Traenen des Edward P. Thompson. Zur Erinnerung an den
vor fuenf Jahren gestorbenen britischen Historiker und sozialistischen Humanisten".
Es handelt sich um einen Artikel zum 5. Todestag Edward P. Thompsons, der sehr freundlich
ausgefallen ist.
Mir geht es hier nur um ein paar theoretisch interessante Punkte:
Christoph Juenke schreibt u.a.:
S> Sein [gemeint ist E. P. Thompson; Gregor] gleichermassen
S> theoretisch wie praktischer Kampf gegen den
S> mechanischen Determinismus des marxistischen
Basis-Ueberbau-Schemas, der
S> die Menschen zu willfaehrigen Aufuehrungsorganen eines
geschichtlichen
S> Zwangscharakters macht, war ihm ein erbitterter Kampf gegen
jede Form
S> des Elitismus, den er gerade im westlichen Marxismus der
68er am Werke
S> sah. "Nichts ist typischer und fuer den westlichen
Marxismus
S> enthuellender, als seine von Grund auf antidemokratischen
Praemissen. Ob
S> Frankfurter Schule oder Althusser, sie sind gepraegt durch
die sehr
S> starke Betonung, die sie auf dem unentrinnbaren Druck
ideologischer
S> Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die
jeglichen Raum
S> fuer Initiative und Kreativitaet der Masse der Menschen
zerstoert, eine
S> Herrschaft, von der sich nur eine aufgeklaerte Minderheit
von
S> Intellektuellen freikaempfen kann."
Nun, die Frage waere doch zunaechst, ob die sehr hermetischen
ideologitheoretischen Ueberlegungen der Frankfurter Schule oder Althussers nicht
vielleicht doch den Kern treffen. Ich denke, beide wurden produziert um die unheimliche
Stabilitaet von Verhaeltnissen zu erklaeren, die der Masse der Leute eher zum Nachteil
gereichen. Wer demgegenueber immer die Freiheit der Menschen, ihre Kreativitaet und
Initiative besingt muss doch ratlos vor dem Phaenomen stehen, dass Thatcher nicht
abgewaehlt wurde und Kohl noch Kanzler ist.
An dieser Stelle des Artikels ist noch unklar, weswegen die
kritisierten Vertreter "antidemokratischer Praemissen" (Louis Althusser und
Frankfurter Schule) im Zusammenhang mit "mechanischen Determinismus des marxistischen
Basis-Ueberbau-Schemas" genannt werden. Mit der Frankfurter Schule kenn' ich mich nur
wenig aus, kann mir aber nicht so recht vorstellen, dass diese Unterstellung Sinn ergibt.
Ganz sicher Unfug ist es Althusser als Mechaniker des
Basis-Ueberbau Klapperatismus darzustellen. Vielmehr hebelt Althussers
"materialistische Dialektik" das Basis-Ueberbau-Schema eher aus (obwohl er es
immer darauf bezieht).
Den genannten Richtung mechanistischen Determinismus zu
unterstellen ergibt freilich durchaus Sinn: Als Vorbereitung auf die naechsten Zeilen, mit
denen Althusser zum Stalinisten gestempelt wird:
S> Die intellektuellen Suchbewegungen der 70er Jahre
intensivierten auch
S> Thompsons Rechenschaftslegung jener seiner Meinung nach
auch im
S> urspruenglichen Marxismus verwurzelten theoretischen
Ursachen des
S> Stalinismus, und gipfelten in seiner 1978 veroeffentlichten
furiosen
S> Abrechnung mit Louis Althusser, dem Saeulenheiligen einer
ganzen
S> Generation (halb-)marxistischer Intellektueller (dt.
"Das Elend der
S> Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung",
1980).
S> Er entlarvte dabei Althussers theoretisch gefassten
Stalinismus [...]
Es ist schon richtig, dass Thompson etwas dieser Art geschrieben
hatte, aber deswegen muss man es ja nicht kritiklos wiedergeben. Welche Rolle Althusser,
der nie aus der FKP ausgetreten ist, fuer diese letztlich gespielt hat, ist schwer zu
sagen. Sicher ist aber, dass man den Verfasser von "Marxismus und Humanismus"
(1963) genau so wenig als Stalinisten bezeichnen kann, wie den von "Wie es in der FKP
nicht mehr weitergehen kann" (1978).
Es waere schon erfreulich, wenn Christoph Juenke wenigstens
angeben wuerde, worin der "theoretisch gefassten Stalinismus" Althussers
eigentlich bestanden haben soll.
Billig ist freilich, sich seinen Marxismus dadurch zu retten,
dass man diejenigen, die einem nicht in den Kram passen zu Halb-Marxisten macht. Billig
ist auch, einem Theoretiker vorzuwerfen, Theorie zu produzieren:
S> Statt sich jener von der Althusser-Schule gepflegten
"theoretischen
S> Praxis" hinzugeben, sprich schlaue Buecher zu
schreiben, warf sich
S> Thompson in der Folge in die aufzehrende Arbeit der
entstehenden
S> internationalen Friedensbewegung [...]
Das appelliert an ganz tiefe intellektuellenfeindliche Vorurteile
und macht sich letztlich in einem freundlichen Artikel ueber einen anderen Theoretiker
auch nicht gut. Der hat ja nun auch einiges geschrieben -- oder sollte es sich um den
versteckten Hinweis handeln, dass Thompsons Texte nicht "schlau" sind?
Der Artikel hat mir gar nicht gefallen.
Ciao, Gregor
Diese Nachricht bezieht sich auf SoZ-Verlag
<Soz@LINK-LEV.dinoco.de>: "E.P.Thompson - zum 5.Todestag" in:
/CL/SOZIALISMUS/ALLGEMEIN vom: Dienstag, den 01.09.98
(message-id:700vr-Rc2VB@posoz.link-lev.dinoco.de). |