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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998



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Editorial


Wenn`s nicht
mehr ruckt!

Gedanken zum
Ruckstau


von Karl Müller

 

Jutta, Rainer & Gisela (oben von links nach rechts abgebildet) sowie weitere zwei dutzend Menschen - überwiegend zwischen fünfzig und sechzig - gingen beim mittäglichen Chillout des Ruckfestivals am Sonntag, den 30.8.1998, vor dem Tempodrom einschätzender Weise der Frage nach: "Warum hat es nicht geruckt?"

Rainer eröffnete das als Frühstück mit Inhalt bei freiem Eintritt annoncierte "Palaver" durch ein dreifaches Mea Culpa. Freilich wollte er die Selbstanklagen als solche nicht stehen lassen. Schließlich habe er sich durch ready to Ruck auch richtig wohlgefühlt. Nach dieser mentalen Bestandsaufnahme folgten seinerseits einige betriebwirtschaftliche Mutmaßungen über das Scheitern des Ruckfestivals. Mittels Vergleichung (die Ruckies hatten sich nächtens noch mit Marc Wohlrabe vom zeitgleich gescheiterten BerlinBETA getroffen) wurde festgestellt, daß es nicht geruckt habe, weil das Ruckfestival seine Zielgruppen nicht gefunden hatte. Kurzum: ein typisches Marketingproblem von Erlebnisanbietern, die ihr Produkt als GenerationmiX labeln.

So richtig wollte darüber aber das Palaver nicht in Gang kommen. Lag´s an der gemeinsamen Mediationsübung im Tempodromzelt, welche den großen Potlatsch in der Nacht zuvor beendet hatte? Gingen den Leuten ihre Mantras nicht aus Kopf? Oder lag´s daran, daß zusammengeworfen wurde, was zusammengehörte?

Ein grauköpfiger Irokesenhaarschnittträger im Dritte-Welt-Look bedauerte jedenfalls, daß keiner seine 3-D-Brillen geschenkt haben wollte. Die mitgereiste Tochter konnte ihren Vati nur bestätigen. Und eine schicke Webpelzhütchenträgerin schloß sich mit der mutigen Bemerkung an, sie vermisse vor allem die Jugend. Einwendungen, daß Arbeitslose nichts zu verschenken hätten, und deswegen auch nicht zum Ruckfestival gekommen wären, ignorierte sie einfach. Da das Palaver - ungetrübt von Realitätsbezügen - sich weiterhin der Visionsarbeit widmete, verließ der Berichterstatter, in seinen Vorurteilen bestätigt, die Selbsterfahrungsrunde.

Der Ruckstau war gerade nicht Ergebnis mangelnder medialer Vermittlung. Ganz im Gegenteil. Das Partisan.net stellte die bunte Ruckpage an der Datenautobahn auf. Trend präsentierte das Rucklogo auf der Titelseite. Mehr noch: die Tagespresse, die Stadtillustrierten und sogar das lokale Fernsehen ("Alex") fungierten als Vertriebswege. Doch es ruckte schlichtweg nichts. 


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Daß der Führer des vierten Reiches mit seinem "Ruck durch Deutschland" nur ein Plagiat auf ein vom Führer des dritten Reiches formuliertes Verlangen produziert hatte, sei mal dahin gestellt. Rainers Ruckies wollten den doitschen Trend für sich   nutzen. Herzogs Ruck sollte mittels Hassemer´s Mark persifliert werden, um eigene Botschaften zu transportieren. Doch wer das Ruckmanifest las, suchte Botschaften vergeblich. Das bauchige Geraune ließ eher den Schluß zu, als ob hier Leute vom Zen-Buddhismus, vom roten Libanesen oder vom Warsteiner erleuchtet waren - oder mittels Erlebnisreise durch alle drei Drogenwelten gleichermaßen. Wer die Plakate sah, die Liste der eingeladenen Promis las, sich die lancierten Presseberichte oder Rainer Langhans Ruckvorbereitenden Fernsehauftritt antat, der konnte - wenn überhaupt - nur eine Botschaft entdecken: Mutti und Vati wollen nicht alt werden.

Okasa galt bisher als probates Mittel, wenn´s bei Herren mittleren Alters nicht mehr ruckte. Allein hier half der Glaube. Bei Rainers ready to Ruck halfen offensichtlich weder das eine noch das andere. Auch den Mangel an Inhalten durch eine spezifische Ästhetik der Leere auszugleichen, reichte nicht hin. Rainers Stamm blieb bei seiner religiösen Reise in die Innenwelten auf sich selbst zurückgeworfen.
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Nr.9/1998