Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Prozess wegen der Charlie Hebdo-Attentate läuft derzeit in Paris

09/2020

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Es ist ein Prozess größeren Ausmaßes, welcher am Mittwoch, den 02. September d.J. im Pariser Justizpalast begonnen hat und der derzeit läuft. 171 Tonnen wiegen die Prozessunterlagen. Insgesamt 49 Verhandlungstage sind bis zum 10. November dieses Jahres angesetzt. 84 Anwälte und Anwältinnen werden plädieren, Strafverteidiger wie Opferanwälte als Vertreter der Nebenkläger. Neunzig Medien, unter ihnen 27 ausländische, wurden für die Prozessbeobachtung registriert. Ausnahmsweise sind auch Photo- und Filmaufnahmen von der Verhandlung zugelassen. Diese sind in französischen Gerichtssälen normalerweise grundsätzlich untersagt, können jedoch auf der Grundlage eines nach dem damaligen Justizminister Robert Badinter benannten Gesetzes aus dem Jahr 1985 ausnahmsweise erlaubt werden, wenn das besondere historische Interesse an einem Prozess es rechtfertigt.

Es geht um die Morde an siebzehn Menschen, die im Januar 2015 im Raum Pariser begangen wurden und die aufgrund der Tatumstände und der „Zielauswahl“ für internationales Aufsehen sorgten – also um die jihadistisch motivierten Anschläge auf die Redaktion der Wochenzeitung Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in Paris, auf eine Polizistin mit karibikfranzösischem Hintergrund am 8. Januar in der Vorstadt Montrouge sowie auf den koscheren Supermarkt Hyper Cacher am Pariser Stadtrand am 9. Januar desselben Jahres. Begangen durch die Brüder Chérif und Saïd Kouachi und den gleichfalls von jihadistischer Ideologie vollgesogenen, vormaligen Klein- und späteren Schwerkriminellen Amedy Coulibaly.

Millionen Menschen demonstrierten damals aus diesem Anlass. Allein in Paris wurde ihre Zahl am 11. Januar 2015 offiziell mit vier Millionen angegeben, und auch wenn diese Zählung wohl leicht übertrieben war, fiel die Mobilisierung doch spektakulär aus und ließ für Stunden kein Durchkommen in der Innenstadt. Doch fünfeinhalb Jahre danach schien die Erinnerung daran zunächst verblasst, hatten doch jüngere Ereignisse wie einen Film über die damaligen Bilder gelegt. Seit Anfang September 20 liefen nun jedoch zahlreiche Rückblenden in den französischen Medien dazu.

Die ersten, öffentlich geführten Debatten zum Verfahrensablauf vor der Justiz – ursprünglich sollten alle Beteiligten ständig einen Mund-Nasen-Schutz tragen, doch dagegen rebellierten die beteiligten Anwälte, da auch Emotionen, Gesichtsausdruck und Haltung wichtige Elemente einer solchen Verhandlung seien; schließlich wurde das Maskentragen denen, die jeweils das Wort haben, freigestellt – riefen dem Publikum in Erinnerung, dass man im Jahr 2020 war und es nicht nur um die jüngere Vergangenheit ging. Dabei standen sich zunächst vor allem Verteidiger der Angeklagten untereinander gegenüber: Beryl Brown echauffierte sich etwa darüber, hier würden die fünf Richter der für Terrorsachen zuständigen Sonderstrafkammer „über Männer urteilen, deren Gesicht Sie nicht sehen können“. Darauf antwortete der ebenfalls als Strafverteidiger engagierte Christian Saint-Palais: „Wenn nur einer von uns kontaminiert wird, ist der Prozess gelaufen!“ Auch der Chef der Pariser Anwaltskammer, Olivier Cousi, meldete sich in dieser Debatte über die Medien zu Wort, um für eine Lockerung der Vorschrift zu plädieren.

Die Emotion der Hinterbliebenen mehrerer Mordopfer war wiederum mit Händen zu greifen. Am spürbarsten, als der Vorsitzende Richter Régis de Jorna den Namen des getöteten Zeichners „Charb“ von Charlie Hebdo – Stéphane Charbonnier – zunächst mit „François Charbonnier“ falsch wiedergab, woraufhin seine Mutter im Verhandlungssaal in Tränen ausbrach. Wiederholte Zwischenrufe zu Verhandlungsbeginn, die die Angeklagten bei ihrer Vernehmung zur Person mit „Man hört nichts, man hört nichts!“ unterbrachen und auf technische Probleme bei der Tonübertragung zurückgingen, ließen den Ablauf zu Anfang penibel werden. Nach einiger Zeit war die Panne behoben.

Elf Angeklagte sitzen im Gerichtssaal – nicht die Brüder Kouachi und Coulibaly selbst, die in kurzem Abstand hintereinander bei Schusswechseln mit der Polizei starben. Ursprünglich sollten es ihrer vierzehn sein, doch gegen drei wird in Abwesenheit verhandelt. Die „Terrorwitwe“ Hayat Boumeddiene, 32, die damals mit dem Angreifer vom Hyper Cacher – Amedy Coulibaly – religiös verheiratet war und mutmaßlich zuvor einen bestimmenden Einfluss auf ihn ausübte, konnte kurz vor der Tat – um sie gewusst haben muss - rechtzeitig über Spanien und über die Türkei in Richtung Syrien ausreisen. Boumeddiene soll über betrügerische Machenschaften den Kauf der Tatfahrzeuge finanziert haben.

Bis vor kurzem schien unklar, ob sie sich noch am Leben befindet. Die Aussage der 31jährigen tunesischstämmigen Französin und Syrien-Rückkehrerin Sonia M., die Ende 2019 nach Frankreich zurückreiste sich der Justiz als Zeugin gegen im Mittleren Osten aktive französische Jihadisten zur Verfügung gestellt hat, scheint jedoch zu belegen, dass Boumeddiene sich am Leben befindet. Sonia M. zufolge verbrachte sie im Jahr 2019 mehrere Monate zusammen mit ihr im Lager El-Hol, in dem sich vor allem weibliche Jihadistinnen mit ihren Kindern aufhalten und das unter der Kontrolle syrisch-kurdischer Verbände steht. Boumeddiene soll es in jüngerer Zeit gelungen sein, von dort auszubrechen. Sonia M.s Aussage bei den Polizeibehörden gilt in dem Verfahren zu den Morden bei Charlie Hebdo und Hyper Cacher auch deswegen als wichtig, weil sie selbst angibt, ihr früherer Ehemann im Gebiet des „Islamischen Staates“ (IS) – der 1973 in Algerien geborene Abdelnasser Benyoucef alias Abou Mouthana sei ein wichtiger Anstifter für Amedy Couliably gewesen und habe seinen Tatentschluss befördert. Er wurde allerdings mutmaßlich 2016 im syrisch-irakischen Grenzgebiet getötet.

Zwei weitere jihadistische Aktivisten, die in Paris mit den elf dort Anwesenden mit auf der Anklagebank hätten sitzen sollen, sind mutmaßlich ebenfalls im Mittleren Osten zu Tode gekommen, auch wenn diese Frage noch nicht definitiv geklärt ist. Es handelt sich um die französisch-algerischen Brüder Mohamed und Mehdi Belhoucine, die wahrscheinlich Coulibaly beim Abfassen des Schreibens, in welchem er dem IS die Treue schwor, sowie Boumeddienne bei der Ausreise über Madrid und Istanbul halfen und die Verbindung zur Führungsebene des IS hergestellt haben dürften.

Eine der Besonderheiten der Mordserie im Januar 2015 besteht darin, dass Amedy Coulibaly indirekt mit dem IS in Verbindung stand, die Brüder Kouachi ihrerseits jedoch mit „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (APQA) im Jemen – was darauf zurückzuführen ist, dass offenkundig eine zunächst autonom, d.h. aus eigenem Antrieb handelnde jihadistische Zelle in Frankreich aus eigenen Stücken heraus nach internationalen Kontakten gesucht hatte und dabei auch bei untereinander rivalisierenden internationalen Organisationen wie Al-Qaida einerseits und dem IS auf der anderen Seite andockte. (Vgl. https://jungle.world/artikel/2015/03/franzoesischer-jihad ) Zu ihr zählten der langjährig inhaftierte Jihadist Djamel Beghal (54 Jahre alt; der ehemalige Afghanistan-Kombattant wurde im Juli 2001 in Abu Dhabi festgesetzt, war von 2001 bis 2009 sowie von 2010 bis 18 in Frankreich, seit seiner Abschiebung im Juli 2018 bis Dezember 2019 in Algerien inhaftiert und ist derzeit dort frei) und Farid Benyettou, beide wiesen einen französisch-algerischen Hintergrund auf. Benyettou gilt als „Aussteiger“ der jihadistischen Szene, hat sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen (vgl. https://www.liberation.fr/ ) und eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert. Die Aussagen beider sollen im derzeitigen Prozess, wohl per Video-Zuschaltung, eingeholt werden; vgl. https://actu.orange.fr/l Ob es wirklich dazu kommt, ist jedoch fraglich, vor allem im Falle des mittlerweile in Algerien lebenden Beghal. Es könnte inhaltlich durchaus Spannung versprechen, obwohl man solche Typen nun wirklich „nur mit der Kneifzange anfassen“ möchte, um es mit sprichwörtlich auszudrücken.

Und so befinden sich heute überwiegend Helfer auf der Anklagebank, die zwar eine wichtige Rolle bei der Beschaffung der für die Mordtaten erforderlichen Logistik – beim Beschaffen von Waffen oder Fluchtfahrzeugen – spielten (ihr Beitrag war laut Staatsanwaltschaft zum Zustandekommen der Mordtaten „unverzichtbar“), doch in ihrer Mehrheit wohl nicht die ideologischen Motive der Haupttäter teilten, diese zum Teil eventuell auch nicht kannten. Mehrere von ihnen hatten einen Haftaufenthalt entweder mit den Brüdern Kouachi oder mit Coulibaly geteilt und sich daraufhin auf krumme Geschäfte mit einem von ihnen eingelassen; Coulibaly war etwa lange im Drogenmilieu tätig und deswegen sowie wegen Raubüberfällen in den 2000er Jahren inhaftiert; in den 2010er Jahren dann allerdings als Jihadist.

Viele von ihnen weisen kaputte Biographien auf (was ihre kriminellen Aktivität sicherlich nicht entschuldigt oder gar rechtfertigt!), wie beispielsweise Abdelaziz Abbad (36): Er erlitt im Alter von neun Jahren lebensgefährliche Verbrennungen bei einem Unfall mit Benzin, war vier Jahre lang in Reha-Behandlung und geriet in jungen Jahren auf die sprichwörtliche schiefe Bahn. Miguel Martinez, 38, mutmaßlich einer der Waffenlieferanten der Kouachi-Brüder und ansonsten Heroinhändler, erlebte mit acht Jahren den Tod seines Vaters. Dass dieser Selbstmord beging, wurde ihm zunächst verborgen, er entdeckte es jedoch durch hämische Zurufe im Schulhof. Der 34jährige Willy Prevost wurde im Alter von 9 durch einen Querschläger bei einem Schusswechsel in seiner Hochhaussiedlung, La Grande Borne zwischen den beiden Pariser Vorstadt Grigny und Viry-Châtillon, verletzt. Die allgemeine gesellschaftliche Misere in vielen sozialen Brennpunkten der Trabantenstädte trifft bei mehreren der Angeklagten, jedoch nicht bei allen, auf markante lebensgeschichtliche Brüche und viel Skrupellosigkeit. Die Mehrzahl von ihnen blicken auf kriminelle Karrieren zurück, unter ihnen auch die beiden Betreiber eines Cafés im belgischen Charleroi – der 50jährige türkischstämmige Metin Karasular und der 77jährige Michel Catino -, das wohl als Umschlagplatz für vom Balkan stammende Schusswaffen diente. Abbad und Martinez hielten sich in den letzten Jahreswochen 2014 oder Anfang Januar 2015 in Charleroi auf, trafen dort Karasular in einer Werkstatt und entwarfen Waffen nach einer List, die der Mitangeklagte Ali Riza Polat den Ermittlern zufolge vorbereitet hatte. Prevost kaufe wohl schusssichere Westen, Messer und einen Elektroschocker für Coulibaly, gilt den Ermittlern jedoch als Krimineller und nicht als Terrorist.

Ideologische Motive der Haupttäter teilte der 35jährige Polat allem Anschein nach, auch wenn er just diese Dimension vor Gericht zu verdecken sucht, indem er wiederholt und in besonders intensiver Weise auf seine eigene Geldgier insistiert („Ich will reich sterben“) – was eigentlich nicht in seinem Interesse sein dürfte, da diese als „niedriger Beweggrund“ eingestuft werden könnten. Werden die meisten Angeklagten wegen Beihilfe zu den Haupttaten der Kouachi-Brüder und Coulibalys ohne umfassendes Wissen um deren Pläne verfolgt, wird er als möglicher Mitwisser und dadurch Mittäter eingestuft und riskiert lebenslängliche Haft.

Riza Polat, in Istanbul geboren und kurdischer Herkunft, als Kind nach Frankreich gekommen, bezeichnete sich selbst im Laufe der Verhandlungen wörtlich als „zum Islam konvertiert“. Eine bemerkenswerte Einstufung, die die Nebenkläger/innen-Anwälte aufhorchen ließ, da er ja ursprünglich in eine muslimische Familie hineingeboren wurde. Diese bezeichnete der Angeklagte jedoch als falsche Gläubige, seinen Eltern hätten Schweinefleisch gegessen. Der Ausdruck „konvertiert“ für einen Menschen, der bereits aus einer moslemischen Familie stammt, deutet auf eine mindestens salafistische Ideologie hin. Wie er seine erklärte Religiosität mit seinen Verbrechen, auch im allgemein kriminellen Milieu, vereinbart, beantwortete Riza Polat wie folgt: „Auch Juden und Christen beten und begehen ihre Verbrechen daneben, dann bitten sie Gott um Vergebung.“

Am Tag des Prozessbeginns hatte Charlie Hebdo noch einmal die Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed, die sie bereits 2015 publiziert hatte und ihr durch Islamisten unterschiedlicher Schattierungen immer wieder vorgeworfen wurden, nachgedruckt. Die Zeitung erklärte dazu, man habe sie zwischenzeitlich immer wieder aufgefordert, neue zu publizieren, doch dies könne man „nur aus einem vernünftigen Anlass“, nicht etwa leichtfertig tun. In Pakistan fanden daraufhin Demonstrationen wutentbannter Islamisten statt, das Institut Al-Azhar sprach von einem „Verbrechen“, und die türkische Regierung in Ankara bekundete deswegen ihre „Verurteilung“. Neben diesen Reaktionen üblicher Verdächtiger blieb es allerdings weitgehend ruhig. Der französische Islam-Rat CFCM forderte zur „Nichtbeachtung“ auf, erklärte, jeden Terrorismus zu verurteilen und „für die Meinungsfreiheit, aber auch für das Recht, die Veröffentlichung schlecht zu finden“ einzutreten.

 

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