„Entsorgung“
hört sich für einen Misanthropen schaurig
an; er hat kaum andere Möglichkeiten als
spontan an irgendeine typisch menschliche
Niedertracht zu denken – das Substantiv
„Ausschluss“ ist vielleicht noch das
Mildeste, was einem Verächter des
Menschengeschlechts bei der Suche nach einem
Synonym für Entsorgung unmittelbar einfällt.
Erst nach und nach eröffnen sich dem
Misanthropen die Wörter, die Sachliches
beschreiben, wobei sie zu seiner
Überraschung sogar der Gattung Mensch
Lernfähigkeit konstatieren können - so bei
dem Wort „Abfallentsorgung“. Aber besonders
verunsichern lässt sich davon der Misanthrop
nicht, denn er findet bald viele Gründe,
warum das Wort „Abfall“ seine Geisteshaltung
bestens unterstützt, womit er dann auch dem
zusammengesetzten Begriff Abfallentsorgung
misstrauisch begegnet. So erfährt er:
Misanthrop zu werden, ist nicht schwer, es
dann aber damit mal sein zu lassen, dagegen
sehr.
In
„Entsorgung“ steckt eine Verneinung, das
kann einem zu dem ebenfalls verneinenden
Ausdruck „keine Sorgen“ führen. „Keine
Sorgen“ hat etwas von „guten Leben“, ein
Ausdruck, der wohl seit einer Dekade zum
Neusprech in der Linken gehört. Mit dem
Hinweis auf eine Leidenschaft für das „gute
Leben“ kann man unter Menschen mit
ausschließlich falschen Bewusstsein am
Unauffälligsten seine kapitalismuskritische
Haltung offenbaren, Bezeichnungen wie
„Kommunismus“ oder „befreite Gesellschaft“
würden auf lautstarke Entgegnungen treffen.
„Keine Sorgen“ kann man auch ganz
metaphysisch in Bezug auf das Individuum
problematisieren. Hiermit ließe sich ein
Buch füllen, denn die individuellen Sorgen
können bekanntlich unendlich sein.
Schreiben wir
kein solches Buch, sondern fragen wir bei
„Entsorgung“, wo uns in der Geschichte der
bundesdeutschen sozialen Bewegungen dieser
Begriff in welchem Kontext am
Herausragendsten begegnet. Und nach
Abschluss des Streifzugs wissen wir dann,
warum einem bei dem Thema die
Befindlichkeiten eines Misanthropen
einfallen können…
*
Einen Platz
hat „Entsorgung“ in der
bewegungsspezifischen Streitkultur gehabt,
explizit in der Polemik. Bekannt sind
Ausdrücke wie „entsorgen wir uns unserer
Angst“ bei Graswurzelaktivisten oder auch
„entsorgen wir den Quatsch auf dem
Müllhaufen der Geschichte“ bei Anhängern von
K-Gruppen. Für beide Redewendungen lassen
sich Ableitungen finden.
Jenseits der
Polemik gibt es in der sozialen
Bewegungsgeschichte nur einen Platz, wo
„Entsorgung“ von sich reden machte. Dabei
stand der Begriff geradezu als Metapher für
Menschenfeindlichkeit, denn die Verwendung
des Begriffs verschwieg, dass man sich in
Wirklichkeit gar keines Problems entsorgte,
sondern ein Problem für faktisch ewige
Zeiten unter den Tisch kehrte – besser
gesagt unter die Erde. Gemeint ist die
Entsorgung des radioaktiven Mülls.
Radioaktiver
Müll war der Hauptfeind der
Anti-AKW-Bewegung. Angesichts von Planungen,
mit Dutzenden von Kernkraftwerken ganz
Westdeutschland zuzupflastern, titulierte
Ende der 1970er Jahre gefühlt die halbe
Öffentlichkeit das bürgerliche Gemeinwesen
als Atomstaat. Damit sollte gesagt werden,
dass der Zweck des Staates in Zeiten der
sogenannten Ölkrise (1973) im Bau von
Atomkraftwerken für eine auch zukünftig
gelingende Kapitalverwertung liegt. Die
Titulierung konnte nicht nur Bitternis
ausdrücken, sondern als Ventil für die
Zumutungen einer menschenverachtenden
Energiepolitik auch in neodadaistischer
Intention verwertet werden: An der
innerdeutschen Grenze ist der Vorfall
bezeugt, dass die rhetorische Frage eines
DDR-Grenzpolizisten „Sie kommen also aus der
Bundesrepublik Deutschland und wollen nach
Westberlin?“ (womit er die DDR-Sichtweise
determinierte, dass Westberlin kein Teil der
BRD ist), von den angesprochenen
Atomkraftgegnern mit der Bemerkung gekontert
wurde: „Nein, wir kommen aus dem Atomstaat
Westdeutschland und fahren durch den
Atomstaat Ostdeutschland, um in Westberlin
einen Kongress gegen Atomkraftwerke zu
besuchen“. Die Beiden wurden nicht
erschossen.
Um Tod geht es
ansonsten sehr wohl bei dem Thema. Bei der
Entsorgung des Atommülls werden
hochradioaktive Abfälle, die bei der
Energieproduktion in den Kernkraftwerken
anfallen, eingelagert. Die Brennstäbe
bleiben nach ihrem Gebrauch erst einmal
lange in einem Abklingbecken des
Kernkraftwerks liegen, denn zuerst dürfen
sie wegen ihrer hohen Anfangsstrahlung nicht
großartig bewegt werden. Danach wird der
Müll jahrzehntelang zwischengelagert, bevor
er sodann endgelagert wird. Jedes Jahr
entstehen 12.000 Tonnen hochradioaktive
Abfälle, bis Ende 2020 dürften weltweit
deutlich über 400.000 Tonnen angefallen
sein. Allein der große Transportbedarf, der
sich angesichts dieser Menge und des
ständigen Hin- und Herbewegens des Mülls
zwischen den Kernkraftwerken, den Zwischen-
und den Endlagern ergibt (wobei man nie
weiß, ob ein Endlager aufgrund negativer
Sicherheitsprognosen nicht irgendwann zum
Zwischenlager degradiert wird), kann den
kritischen Beobachter schwindelig vor
Unbehagen werden lassen.
Es muss nicht
bei dem Schwindel bleiben, wobei es leider
nur schlimmer werden kann. Denn selbst wenn
bei der von allerhand Rüttelei begleiteten
Transporterei auf nicht immer gut gewarteten
Straßen und Schienen keine Radioaktivität
ausgewichen ist und selbst, wenn ein
Endlager als sicher angesehen wird, kann
einiges schief gehen. Denn es dauert lange
bis der Müll nicht mehr strahlt; die
Möglichkeit ist gegeben, das bis dahin die
Gattung Mensch gar nicht mehr existiert,
sondern sich die Kakerlaken um die Wartung
der Endlager kümmern müssen. Denn erst wenn
die Strahlungsaktivität auf das Niveau der
natürlichen Radioaktivität abgesunken ist,
sind keine Strahlenschutzmaßnahmen mehr
erforderlich. Das kann dauern, die
Halbwertzeiten (Zeit, wann die
Strahlungswerte um die Hälfte gesunken sind)
der verschiedenen radioaktiven Abfälle
divergieren stark; so richtig interessant
wird es beim Jod-129, das 17 Millionen Jahre
benötigt – das schafft jede Menge
Arbeitsplätze: Wenn der Leiter eines
Endlagers seinen Job 50 Jahre macht, sind es
insgesamt 340.000 Lagerleiter, die dort
ihren Dienst tun. Wie viel werden davon
Kakerlaken sein?
Nicht 17
Millionen, aber zumindest eine Millionen
Jahre muss der Atommüll von der Biosphäre
abgeschlossen werden. Aber „es ist gar nicht
möglich, die Abfälle für diesen Zeitraum zu
sichern. Er ist einfach zu lang. Es kann
keine Lösung geben.“ Wer sagt so etwas? Ein
Atomsemiotiker. Semiotik ist die
Wissenschaft, die sich mit Zeichensystem
aller Art befasst (z.B. Bilderschrift,
Gestik, Formeln, Sprache). Die Atomsemiotik
entstand als Forschungsrichtung im Jahr
1981, nachdem verschiedene Wissenschaftler
die Frage aufgeworfen hatten, wie man
eigentlich garantieren will, dass in ferner
Zukunft ein Endmülllager überhaupt noch als
ein gefährlicher Ort registriert wird.
Bereits nach 10.000 Jahren seien die
heutigen Sprachen für dann Lebenden komplett
unverständlich, Religionen gehen und
vergehen, und, und, und – fundamentale
Veränderungen seien so sicher wie der Abriss
von Traditionen und auch das Wissen über
sie, eine Auffassung, die übrigens auch in
der Geschichtswissenschaft Freunde hat. Für
den Beobachter ist das nicht leicht zu
glauben, die Überlieferung des Wissens kann
doch nicht so schwierig sein, denkt er, und
so staunt er, mit welcher Sicherheit viele
Semiotiker nach jahrzehntelanger
Forschungsarbeit als gesichertes Wissen
verkünden: Ein Gefahrenschild in einer
gefundenen Höhle nahe bei Gorleben kapiert
später kein Mensch! Die Semiotiker wissen,
warum sie so überzeugt sind, denn sie hatten
sich in der Anfertigung von Dutzenden von
Modellen versucht, die das Gegenteil
anvisierten. Dabei waren ihre
Lösungsvorschläge in Form von aggressiv
gekennzeichneten Schildern in martialisch
gestalteten, ausladenden Eingangsbereichen
immer autoritärer geworden, worüber sie
selbst erschraken. Das obige Zitat trifft
die Mehrheitsmeinung der Semiotiker,
geschrieben von dem US-amerikanischen
Wissenschaftler Peter von Wyck. Noch einmal,
weil es so gruselig ist: „Es kann keine
Lösung geben.“
„Wahnsinn mit
Methode“ überschrieb Rudolf Bahro, der
längst verstorbene DDR-Dissident und spätere
Radikalökologe, solche Beobachtungen und
fing verstärkt an Alkohol zu trinken. Dabei
wird ihm geholfen haben, dass die Liste der
ökologischen Verwerfungen, die uns die
Entsorgung des radioaktiven Mülls schon in
der Vergangenheit beschert haben, lang ist.
Erwähnen wir nur ansatzweise die Spitze des
Eisbergs: Mindestens 32 Schiffe mit Gift-
und Atommüll wurden von der italienischen
Mafia seit den 1980er Jahren illegal im
Mittelmeer entsorgt; in die Ostsee wurde aus
sowjetischen Beständen ebenfalls illegal
Atommüll gekippt (1991-94); bei der
Katastrophe von Fukushima (2011) wurde
radioaktiver Müll auf Kinderspielplätzen
vergraben und in Wälder und Bäche geworfen.
Fragen der
Entsorgung berühren auch die
Katastrophengeschichte der im
Spätstalinismus von 70.000 Gulag-Insassen
gebauten und bis heute betriebenen
Kerntechnischen Anlage Majak in Russland.
Die Geschichte kann als ein Beispiel
negativer Dialektik genommen werden, wenn
man sich vergegenwärtigt, dass die Anlage in
der Zeit ihres Bestehens fast so viel
Radioaktivität freigesetzt hat wie der
Atomunfall in Tschernobyl 1986. Neun
schwerwiegende Unfälle wurden dokumentiert,
dabei war insbesondere der letzte von 2017
von jeder Menge Vertuschungen begleitet. Die
Havarien zogen fast ausnahmslos das für
Atomunfälle typische menschliche Elend nach
sich: Sofort gestorbene Beschäftigte und
Anwohner, von ihren Händen und Füßen
getrennt lebende Überlebende, großflächige
kontaminierte Gewässer und Landflächen.
Einmal wurden 270.000 Menschen einer
erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, dabei
kam es zu 1.000 zusätzlichen Krebsfällen…
Nach neun Unglücken stellt sich die Frage:
Gibt es noch ein zehntes? Zwar wird der
riesige Anlagenkomplex seit Längerem
abgerüstet (1987 wurde die Produktion von
kernwaffenfähigen Material gestoppt und bis
1991 acht der 10 Reaktoren stillgelegt),
aber die immer mal wieder defekte
Wiederaufbereitungsanlage soll bis
mindestens 2030 in Betrieb bleiben.
Unfälle
stellen auch global eine große Kontinuität
bei der Entsorgung des Atommülls dar.
Wikipedia hebt aus einer Vielzahl von
verantwortungslosem Verhalten einige
Havarien hervor, die beim Leser bizarre
Fantasien über Atommüll fressende Menschen
erzeugen können, nur weil sie dafür ein paar
Dollar bekommen. Beispiel gefällig?
Radioaktiver Abfall lagerte billig auf einer
ungenügenden Deponie des
Entsorgungsunternehmen Republik Services in
St. Louis anstatt zu einem höheren Preis
ordentlich entsorgt zu werden. Die Fässer
waren nicht dicht, so dass bei starken
Regenfällen radioaktives Material in den
benachbarten Bach gespült wurde. Schon bald
stieg die Krebsrate in der Umgebung. Protest
von Betroffenen gibt es bis heute.
Grotesk muten
ernst gemeinte Vorschläge an, den Müll im
Weltraum los zu werden. Hierbei gibt es
Überlegungen, den Müll nicht nur auf
Planeten und Asteroiden zu lagern, sondern
auch direkt in die Sonne zu schießen. Das
muss Spaß machen. Für die jährlich
anfallende Menge müssten jedes Jahr 2.000
Raketen starten; wohl so 60.000 Starts würde
die Altmüllentsorgung erfordern. Die dabei
freigesetzte Menge an Treibhausgasen wäre
eine Katastrophe für sich. Kaum zu glauben:
Die Idee beschäftigt bis heute einige
Wissenschaftler.
Was tun? Erst
einmal den Nachschub stoppen, also die
Atomkraftwerke abschalten, denn die
produzieren schließlich den größten Teil des
hochradioaktiven Mülls. Das geschieht,
jedenfalls in Deutschland. 2022 ist Schluss.
Zu spät, aber immerhin. Ohne die
Anti-AKW-Bewegung wäre es nicht dazu
gekommen. Danke an alle, die am Bauzaun
gerüttelt haben.
Editorische Hinweise
Wir erhielten
den Beitrag vom Autor zur
Vorveröffentlichung.
Der Text
erscheint in der
Philosophie-Vierteljahreszeitschrift
„Lichtwolf“ im Herbst 2020, Nr. 71,
Titelthema: Entsorgung.
Martin Gohlke
gab Anfang der Nullerjahre in Oldenburg eine
Lehrveranstaltung „Geschichte der
Anti-AKW-Bewegung“.

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