Wenn Entsorgung Sorgen macht
Ein Toast auf eine erfolgreiche soziale Bewegung

von Martin Gohlke

09/2020

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„Entsorgung“ hört sich für einen Misanthropen schaurig an; er hat kaum andere Möglichkeiten als spontan an irgendeine typisch menschliche Niedertracht zu denken – das Substantiv „Ausschluss“ ist vielleicht noch das Mildeste, was einem Verächter des Menschengeschlechts bei der Suche nach einem Synonym für Entsorgung unmittelbar einfällt. Erst nach und nach eröffnen sich dem Misanthropen die Wörter, die Sachliches beschreiben, wobei sie zu seiner Überraschung sogar der Gattung Mensch Lernfähigkeit konstatieren können - so bei dem Wort „Abfallentsorgung“. Aber besonders verunsichern lässt sich davon der Misanthrop nicht, denn er findet bald viele Gründe, warum das Wort „Abfall“ seine Geisteshaltung bestens unterstützt, womit er dann auch dem zusammengesetzten Begriff Abfallentsorgung misstrauisch begegnet. So erfährt er: Misanthrop zu werden, ist nicht schwer, es dann aber damit mal sein zu lassen, dagegen sehr.

In „Entsorgung“ steckt eine Verneinung, das kann einem zu dem ebenfalls verneinenden Ausdruck „keine Sorgen“ führen. „Keine Sorgen“ hat etwas von „guten Leben“, ein Ausdruck, der wohl seit einer Dekade zum Neusprech in der Linken gehört. Mit dem Hinweis auf eine Leidenschaft für das „gute Leben“ kann man unter Menschen mit ausschließlich falschen Bewusstsein am Unauffälligsten seine kapitalismuskritische Haltung offenbaren, Bezeichnungen wie „Kommunismus“ oder „befreite Gesellschaft“ würden auf lautstarke Entgegnungen treffen. „Keine Sorgen“ kann man auch ganz metaphysisch in Bezug auf das Individuum problematisieren. Hiermit ließe sich ein Buch füllen, denn die individuellen Sorgen können bekanntlich unendlich sein.

Schreiben wir kein solches Buch, sondern fragen wir bei „Entsorgung“, wo uns in der Geschichte der bundesdeutschen sozialen Bewegungen dieser Begriff in welchem Kontext am Herausragendsten begegnet. Und nach Abschluss des Streifzugs wissen wir dann, warum einem bei dem Thema die Befindlichkeiten eines Misanthropen einfallen können…

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Einen Platz hat „Entsorgung“ in der bewegungsspezifischen Streitkultur gehabt, explizit in der Polemik. Bekannt sind Ausdrücke wie „entsorgen wir uns unserer Angst“ bei Graswurzelaktivisten oder auch „entsorgen wir den Quatsch auf dem Müllhaufen der Geschichte“ bei Anhängern von K-Gruppen. Für beide Redewendungen lassen sich Ableitungen finden.

Jenseits der Polemik gibt es in der sozialen Bewegungsgeschichte nur einen Platz, wo „Entsorgung“ von sich reden machte. Dabei stand der Begriff geradezu als Metapher für Menschenfeindlichkeit, denn die Verwendung des Begriffs verschwieg, dass man sich in Wirklichkeit gar keines Problems entsorgte, sondern ein Problem für faktisch ewige Zeiten unter den Tisch kehrte – besser gesagt unter die Erde. Gemeint ist die Entsorgung des radioaktiven Mülls.

Radioaktiver Müll war der Hauptfeind der Anti-AKW-Bewegung. Angesichts von Planungen, mit Dutzenden von Kernkraftwerken ganz Westdeutschland zuzupflastern, titulierte Ende der 1970er Jahre gefühlt die halbe Öffentlichkeit das bürgerliche Gemeinwesen als Atomstaat. Damit sollte gesagt werden, dass der Zweck des Staates in Zeiten der sogenannten Ölkrise (1973) im Bau von Atomkraftwerken für eine auch zukünftig gelingende Kapitalverwertung liegt. Die Titulierung konnte nicht nur Bitternis ausdrücken, sondern als Ventil für die Zumutungen einer menschenverachtenden Energiepolitik auch in neodadaistischer Intention verwertet werden: An der innerdeutschen Grenze ist der Vorfall bezeugt, dass die rhetorische Frage eines DDR-Grenzpolizisten „Sie kommen also aus der Bundesrepublik Deutschland und wollen nach Westberlin?“ (womit er die DDR-Sichtweise determinierte, dass Westberlin kein Teil der BRD ist), von den angesprochenen Atomkraftgegnern mit der Bemerkung gekontert wurde: „Nein, wir kommen aus dem Atomstaat Westdeutschland und fahren durch den Atomstaat Ostdeutschland, um in Westberlin einen Kongress gegen Atomkraftwerke zu besuchen“. Die Beiden wurden nicht erschossen.

Um Tod geht es ansonsten sehr wohl bei dem Thema. Bei der Entsorgung des Atommülls werden hochradioaktive Abfälle, die bei der Energieproduktion in den Kernkraftwerken anfallen, eingelagert. Die Brennstäbe bleiben nach ihrem Gebrauch erst einmal lange in einem Abklingbecken des Kernkraftwerks liegen, denn zuerst dürfen sie wegen ihrer hohen Anfangsstrahlung nicht großartig bewegt werden. Danach wird der Müll jahrzehntelang zwischengelagert, bevor er sodann endgelagert wird. Jedes Jahr entstehen 12.000 Tonnen hochradioaktive Abfälle, bis Ende 2020 dürften weltweit deutlich über 400.000 Tonnen angefallen sein. Allein der große Transportbedarf, der sich angesichts dieser Menge und des ständigen Hin- und Herbewegens des Mülls zwischen den Kernkraftwerken, den Zwischen- und den Endlagern ergibt (wobei man nie weiß, ob ein Endlager aufgrund negativer Sicherheitsprognosen nicht irgendwann zum Zwischenlager degradiert wird), kann den kritischen Beobachter schwindelig vor Unbehagen werden lassen.

Es muss nicht bei dem Schwindel bleiben, wobei es leider nur schlimmer werden kann. Denn selbst wenn bei der von allerhand Rüttelei begleiteten Transporterei auf nicht immer gut gewarteten Straßen und Schienen keine Radioaktivität ausgewichen ist und selbst, wenn ein Endlager als sicher angesehen wird, kann einiges schief gehen. Denn es dauert lange bis der Müll nicht mehr strahlt; die Möglichkeit ist gegeben, das bis dahin die Gattung Mensch gar nicht mehr existiert, sondern sich die Kakerlaken um die Wartung der Endlager kümmern müssen. Denn erst wenn die Strahlungsaktivität auf das Niveau der natürlichen Radioaktivität abgesunken ist, sind keine Strahlenschutzmaßnahmen mehr erforderlich. Das kann dauern, die Halbwertzeiten (Zeit, wann die Strahlungswerte um die Hälfte gesunken sind) der verschiedenen radioaktiven Abfälle divergieren stark; so richtig interessant wird es beim Jod-129, das 17 Millionen Jahre benötigt – das schafft jede Menge Arbeitsplätze: Wenn der Leiter eines Endlagers seinen Job 50 Jahre macht, sind es insgesamt 340.000 Lagerleiter, die dort ihren Dienst tun. Wie viel werden davon Kakerlaken sein?

Nicht 17 Millionen, aber zumindest eine Millionen Jahre muss der Atommüll von der Biosphäre abgeschlossen werden. Aber „es ist gar nicht möglich, die Abfälle für diesen Zeitraum zu sichern. Er ist einfach zu lang. Es kann keine Lösung geben.“ Wer sagt so etwas? Ein Atomsemiotiker. Semiotik ist die Wissenschaft, die sich mit Zeichensystem aller Art befasst (z.B. Bilderschrift, Gestik, Formeln, Sprache). Die Atomsemiotik entstand als Forschungsrichtung im Jahr 1981, nachdem verschiedene Wissenschaftler die Frage aufgeworfen hatten, wie man eigentlich garantieren will, dass in ferner Zukunft ein Endmülllager überhaupt noch als ein gefährlicher Ort registriert wird. Bereits nach 10.000 Jahren seien die heutigen Sprachen für dann Lebenden komplett unverständlich, Religionen gehen und vergehen, und, und, und – fundamentale Veränderungen seien so sicher wie der Abriss von Traditionen und auch das Wissen über sie, eine Auffassung, die übrigens auch in der Geschichtswissenschaft Freunde hat. Für den Beobachter ist das nicht leicht zu glauben, die Überlieferung des Wissens kann doch nicht so schwierig sein, denkt er, und so staunt er, mit welcher Sicherheit viele Semiotiker nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit als gesichertes Wissen verkünden: Ein Gefahrenschild in einer gefundenen Höhle nahe bei Gorleben kapiert später kein Mensch! Die Semiotiker wissen, warum sie so überzeugt sind, denn sie hatten sich in der Anfertigung von Dutzenden von Modellen versucht, die das Gegenteil anvisierten. Dabei waren ihre Lösungsvorschläge in Form von aggressiv gekennzeichneten Schildern in martialisch gestalteten, ausladenden Eingangsbereichen immer autoritärer geworden, worüber sie selbst erschraken. Das obige Zitat trifft die Mehrheitsmeinung der Semiotiker, geschrieben von dem US-amerikanischen Wissenschaftler Peter von Wyck. Noch einmal, weil es so gruselig ist: „Es kann keine Lösung geben.“

„Wahnsinn mit Methode“ überschrieb Rudolf Bahro, der längst verstorbene DDR-Dissident und spätere Radikalökologe, solche Beobachtungen und fing verstärkt an Alkohol zu trinken. Dabei wird ihm geholfen haben, dass die Liste der ökologischen Verwerfungen, die uns die Entsorgung des radioaktiven Mülls schon in der Vergangenheit beschert haben, lang ist. Erwähnen wir nur ansatzweise die Spitze des Eisbergs: Mindestens 32 Schiffe mit Gift- und Atommüll wurden von der italienischen Mafia seit den 1980er Jahren illegal im Mittelmeer entsorgt; in die Ostsee wurde aus sowjetischen Beständen ebenfalls illegal Atommüll gekippt (1991-94); bei der Katastrophe von Fukushima (2011) wurde radioaktiver Müll auf Kinderspielplätzen vergraben und in Wälder und Bäche geworfen.

Fragen der Entsorgung berühren auch die Katastrophengeschichte der im Spätstalinismus von 70.000 Gulag-Insassen gebauten und bis heute betriebenen Kerntechnischen Anlage Majak in Russland. Die Geschichte kann als ein Beispiel negativer Dialektik genommen werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Anlage in der Zeit ihres Bestehens fast so viel Radioaktivität freigesetzt hat wie der Atomunfall in Tschernobyl 1986. Neun schwerwiegende Unfälle wurden dokumentiert, dabei war insbesondere der letzte von 2017 von jeder Menge Vertuschungen begleitet. Die Havarien zogen fast ausnahmslos das für Atomunfälle typische menschliche Elend nach sich: Sofort gestorbene Beschäftigte und Anwohner, von ihren Händen und Füßen getrennt lebende Überlebende, großflächige kontaminierte Gewässer und Landflächen. Einmal wurden 270.000 Menschen einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, dabei kam es zu 1.000 zusätzlichen Krebsfällen… Nach neun Unglücken stellt sich die Frage: Gibt es noch ein zehntes? Zwar wird der riesige Anlagenkomplex seit Längerem abgerüstet (1987 wurde die Produktion von kernwaffenfähigen Material gestoppt und bis 1991 acht der 10 Reaktoren stillgelegt), aber die immer mal wieder defekte Wiederaufbereitungsanlage soll bis mindestens 2030 in Betrieb bleiben.

Unfälle stellen auch global eine große Kontinuität bei der Entsorgung des Atommülls dar. Wikipedia hebt aus einer Vielzahl von verantwortungslosem Verhalten einige Havarien hervor, die beim Leser bizarre Fantasien über Atommüll fressende Menschen erzeugen können, nur weil sie dafür ein paar Dollar bekommen. Beispiel gefällig? Radioaktiver Abfall lagerte billig auf einer ungenügenden Deponie des Entsorgungsunternehmen Republik Services in St. Louis anstatt zu einem höheren Preis ordentlich entsorgt zu werden. Die Fässer waren nicht dicht, so dass bei starken Regenfällen radioaktives Material in den benachbarten Bach gespült wurde. Schon bald stieg die Krebsrate in der Umgebung. Protest von Betroffenen gibt es bis heute.

Grotesk muten ernst gemeinte Vorschläge an, den Müll im Weltraum los zu werden. Hierbei gibt es Überlegungen, den Müll nicht nur auf Planeten und Asteroiden zu lagern, sondern auch direkt in die Sonne zu schießen. Das muss Spaß machen. Für die jährlich anfallende Menge müssten jedes Jahr 2.000 Raketen starten; wohl so 60.000 Starts würde die Altmüllentsorgung erfordern. Die dabei freigesetzte Menge an Treibhausgasen wäre eine Katastrophe für sich. Kaum zu glauben: Die Idee beschäftigt bis heute einige Wissenschaftler.

Was tun? Erst einmal den Nachschub stoppen, also die Atomkraftwerke abschalten, denn die produzieren schließlich den größten Teil des hochradioaktiven Mülls. Das geschieht, jedenfalls in Deutschland. 2022 ist Schluss. Zu spät, aber immerhin. Ohne die Anti-AKW-Bewegung wäre es nicht dazu gekommen. Danke an alle, die am Bauzaun gerüttelt haben.


Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor zur Vorveröffentlichung.

Der Text erscheint in der Philosophie-Vierteljahreszeitschrift „Lichtwolf“ im Herbst 2020, Nr. 71, Titelthema: Entsorgung.

Martin Gohlke gab Anfang der Nullerjahre in Oldenburg eine Lehrveranstaltung „Geschichte der Anti-AKW-Bewegung“.