"Wer schon hat dem wird gegeben"
Der Mattäus-Effekt im Lied,beim Evangelisten und in der Soziologie

von Richard Albrecht

09/2019

trend
onlinezeitung

Britta - Wer wird Millionär

Wer geht putzen und wer wird Millionär?
40-Euro-Frage, denn die Antwort fällt nicht schwer
Wer lebt prima und wer eher prekär?
Wer geht putzen und wer wird
Millionär?

Wer schon hat, dem wird gegeben
Und für uns bleibt nur das schöne Leben
Ja so läuft's, und so wird's weiter laufen
Denn der Teufel scheißt auf den größten Haufen

Besser wohnen, auch mal reisen, Champagner, Tanz und Kokain
Das wär' ein schönes Leben, das kriegen nur die anderen hin
Für uns heißt es weiter rechnen, krebsen, wursteln, durchschlagen
Nur ganz selten kommt' s da mal zu Champagner, Kokain

Ich zähle täglich meine Sorgen
Und dabei denk ich noch nicht einmal an morgen
Ich hab ja keine Angst, nur manchmal frag' ich mich:
Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?

Und all´ unsere Geistesgaben kommen gar nicht mehr zum Tragen
Weil wir schon seit jungen Tagen so gar keinen Ehrgeiz haben
Unsere Haut zu Markt zu tragen, da kommen die Geistesgaben
Leider gar nicht mehr zum Tragen

Die reichen Leute, die gewinnt
Man nur durch platte Schmeichelei
Das Geld ist platt, mein liebes Kind
Das Geld ist platt und will auch platt geschmeichelt sein

Und wer schon hat, dem wird gegeben
Und für uns bleibt nur das schöne Leben
Ja so läuft's und so wird's weiter laufen
Denn der Teufel scheißt auf den größten Haufen

Das Geld ist platt und will auch platt geschmeichelt sein“[1]

Diesen Text von Christiane Rösinger (*1961) spielt die 1997 aus der Berlin/Hamburger Frauenszenegruppe Lassie Singers (1988-1998) hervorgegangene Berliner Rockband Britta seit 2006[1]: Das Lied kommt im herkömmlichen Hardrock daher und wird akkordisch-einfach und drönig-monoton gespielt. Der Schlichtbeatrhythmus erlaubt (und erfordert) die Konzentration auf den Text, der formal eine selbstvergewissernd-fragende Autothematisierung darstellt: In der Tradition des poeta doctus Harry Heine[2] fragte der Jazzer und Liedermacher Knut Kiesewetter, einer der frühen


Christiane Rösinger / Wikipedia

Hamburger Szenesänger der 1960er und 1970er Jahre, als aus damaliger sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Sicht verfrühter Atomkraftgegner und Naturschützer Ende 1978 autoreflexiv auf einer öffentlichen Veranstaltung der SPD Schleswig-Holsteins Bin ich denn schon konservativ?[3]

Der Britta-Liedtext spielt erkennbar an auf die Anfang des vergangenen Jahrzehnts auch in Deutschland diskutierte weitere Auflösung des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses als sozialdominantem Erwerbs- und Lebenszusammenhang und die sich daraus ergebende Debatte um und gegen gesellschaftliche Präkarisierung („contre la précarité“ im Sinne Pierre Bourdieus) von abhängiger Erwerbsarbeit. Übers abstrakt-allgemeine hinaus wird hier in doppelter Weise versucht, eine öffentliche Debatte produktiv aufzunehmen und weiterzuführen: Zum einen geht es um die soziale Verortung empirisch realexistierender vor allem metropolisch-randständig-unsteter (Unter-) Schichten[4], die es – so übereinstimmend eine britische Regierungschefin und ein CSU-bayrischer Bundesminister – als „Erfindung von Soziologen“ weder als solche noch in ihrer besonderen Ausprägung zwischen diesen und als „Uschis“ geben soll.

Gegen diese Palmström-Logik und ihre Morgenstern-Empirie agitiert Britta-Sängerin Rösinger. Sie weiß (wie der Sozialforscher G. Günther Voß) im Gegensatz zum mainstream mit dem „creative class“-Modesoziologen Richard L. Florida[5] an der Spitze wovon sie singt wie diese (in der Berliner Tageszeitung 2003 erschiene) längere Zitatpassage veranschaulicht:
 

„Der Bohemist von heute hält sich mit einem komplexen Jobcocktail über Wasser. Manchmal aber wünscht er sich etwas Erholung von der ständigen Zwangskreativität […] Es gibt immer mehr Unbeschäftigte, Unterbeschäftige, Nicht-Arbeitsuchende, nicht arbeitende Zeithaber. Das sind wir. Wir gehören nicht zu den glücklichen Arbeitslosen, denn wir sind ja nicht arbeitslos im eigentlichen Sinne. Wir haben keine Erwerbsbiografie, waren fast nie irgendwo angemeldet, haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Umschulungen, Weiterbildungsmaßnahmen, ABM, kommen in keiner Statistik vor. Auf wundersame Weise schlagen wir uns seit vielen Jahren als Freelance-Proletarier irgendwie durchs Leben und gehören nun einer Art niedrigschwelliger, leicht verarmter Großstadtboheme an. Die Old und New Economy, die Erlebnis-und Dienstleistungsgesellschaft ging irgendwie an uns vorüber, die Ich-AG ist für uns ein alter Hut [...] Unsere Devise heißt prima leben und sparen, sich durchschlagen ohne sich allzu sehr anzustrengen und verstellen zu müssen [...] Alles, was wir tun, ist


Christiane Rösinger,
Das schöne Leben. [Roman] Frankfurt/Main 2008

gleichzeitig hoch spezialisierte Arbeit, aber fast nichts wird bezahlt: sich informieren, schreiben, Projekte machen, vernetzen, Band haben, Kinder großziehen, ausgehen. Wir müssen Erlebnisse haben, um sie verwerten zu können, Demütigungen erleben, um daran zu wachsen, zwischenmenschliche Schwierigkeiten überwinden, um soziale Kompetenz anzuhäufen. Diese Anstrengungen werden von unserer leistungsorientierten Gesellschaft natürlich null honoriert [...] Ist aber eine temporäre Phase der äußeren und inneren Unterbeschäftigung zu lange und wird sie nicht durch innere oder äußere Aktivitätsschübe unterbrochen, kann es auch in der Boheme leicht zum gefürchteten Unterforderungs-Burnout kommen. Das Unterforderungs-Burnout zeigt die gleichen schrecklichen Symptome wie das bekanntere Überforderungs-Burnout, nur umgekehrt. Deshalb ist es für jeden freiberuflichen Bohemisten unabdinglich, sich einen ausgewogenen Jobcocktail zu mixen. Dieser Jobcocktail sollte sich zusammensetzen aus 50 Prozent ehrenamtlicher, künstlerischer, also unbezahlter Projektarbeit, etwa die eigene Band, Trilogie, Ahnenforschung, Lesegruppe, Agentur oder sonst wie unrentable Firma, 35 Prozent freiberuflicher, kaum vergüteter Tätigkeit bei einer kulturell halbwegs anerkannten Institution, um den Anschluss ans wahre Leben nicht zu verlieren, 25 Prozent tatsächlich bezahlter, so genannter Brotjobs, bevorzugt im bohemistisch-alternativen, popkulturellen Umfeld: Tippen, Kinokarten verkaufen, Gästelisten überwachen, Türstehen, Getränke verkaufen. Während vor zwei Jahrzehnten noch das Gespenst der entfremdeten Arbeit herumgeisterte [...] träumt der freiberufliche Bohemist heute hin und wieder von einer relativ stumpfen, vielleicht leicht ordnenden oder überwachenden Tätigkeit, als Erholung von der ständigen Zwangskreativität [...] Die Boheme ist kein klassenfreier Raum, auch in unseren müßiggängerischen Zirkeln gibt es feine Unterschiede, wundert man sich, wie manche so prächtig von ihren sparsamen Aktivitäten leben können. Aber auch die Business-Class-Bohemisten können nicht hexen, hinter der Sorglosigkeit stecken dann doch oft die Immobilie, der Börsengewinn, das Erbe, die Eltern [...]."[6]

Damit hat die Autorin an einen heute vernachlässigten Gesichtspunkt der sozialen Verortung bestimmter Schichtsplitter und Sozialfragmente, die Robert(o) Michels bereits Anfang der 1930er Jahre als (politische) Soziologie von Bohème, „geistigem Proletariat“ und Intellektuellen diskutierte[7], beredt angeschlossen.

Mattäus

Im Liedtext der she-lead der Gruppe Britta wird zum anderen jeweils zwei Mal refrainhaft mit Wer schon hat dem wird gegeben und Denn der Teufel scheißt auf den größten Haufen eine sprichwörtlich gewordene soziale Alltagserfahrung erinnert. Insofern aufscheint im Liedtext sowohl die Kernausssage als auch die umgangssprachliche Umschreibung des fachsoziologisch zentralen und später als gesonderter Handlungseffekt umschriebenen Sachverhalts von wenig und viel, arm und reich, unten und oben als gesellschaftlicher Grundzusammenhang und soziales Verhältnis: Wer schon hat dem wird gegeben. Und der Teufelsschiß kommt immer auf den größten Haufen: oben, reich, viel[8].

Der im Britta-Lied ausgedrückte soziale Sachverhalt geht auf zwei neutestamentarische Gleichnisse des Evangelisten Matthäus zurück. Erstens findet sich der zentrale Satz im Matthäus-Evangelium im speziellen Gleichnis von den Jungfrauen und den anvertrauten Zentnern. Dort heißt es: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“[9]  Zweitens findet sich vorher schon eine sprachlich ähnliche - und doch verschiedene - Variante der Grundaussage des Evangelisten im allgemeinen Gleichnis vom Gottesreich und seinem Geheimnis. Dort heißt es luthersprachlich konzise und verallgemeinerbar als Matthäus-Effekt:

„Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“[10]

Merton
 

Wenn ich mich nicht arg täusche(n ließ), dann ist der Matthäus-Effekt mit seinem Bezug auf verschiedene Wirksamkeitsformen von Handlungen seit Jahrzehnten in der gegenwärtigen akademischen und Fachsoziologie ein handlungsbezogenes „Grundgesetz“ – ganz im Gegensatz zum nicht weniger wichtigen, aber bis heute weder fachlich noch akademisch bekannten und schon gar nicht anerkannten goethefaust´schen Mephisto-Effekt[11] mit seiner gereimten positiv-paradoxer Handlungswirksamkeit. Da kommt in der ersten Studierzimmerszene hinterm Ofen ein „wie ein fahrender Scholastikus“ verkleideter Mephistopheles hervor, beantwortet Fausts Frage „wer bist du denn?“ mit dem „Rätselwort“ „Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ und führt dann aus:


Robert King Merton 1965
Wikipedia

"Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär's, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz, das Böse nennt, / Mein eigentliches Element."[12]

Gegenüber dem Mephisto-Effekt mit seiner Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ist auch in der später erweiterten Form der von Robert King Merton (1910-2003) publizierte Matthäus-Effekt[13] faßlicher, eingängiger und in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Feldern aufgenommen und weitergeführt worden: Etwa der früher starkdeutsch als „politischer Herdentrieb“[14] beschriebene und in der US-amerikanischen empirischen Sozialforschung als band-waggon-impuls untersuchte Mitläufereffekt oder die two-step-flow-of-communication-These mit ihrer Betonung zweistufiger Kommunikationsprozesse und ihrem Interesse an opinion-leadership und opinion-leader oder Meinungsführer im Zusammenhang mit politischen Meinungen, Vorstellungen und Optionen und Planung, Organisation und Durchführung elektoraler Ereignisse oder auch die mediennutzungsbezogene und nicht nur auf televisionäre „Vielseher“ zielende increasing-knowledge-gap-These von der wachsenden Wissenskluft sozial differenzierter medialer Publica.

Mertons bis heute zahlreich nachgedruckter, übersetzter, breitestens rezipierter und höchst folgenreicher Leitaufsatz erschien 1936 in einer damals neugegründeten US-akademisch-soziologischen Fachzeitschrift[15]. Der Autor sprach ein Kernproblem aller handlungsbezogenen Soziologie als „unanticipated consequences of puposive social action“ – unvorhergesehene Handlungsfolgen – an, präzisierte verschiedene empirisch beobachtbare Handlungsfolgen, vor allem als Nutzen für ein bestehendes soziales System – als Dysfunktion Konterfunktionales und als Nichtfunktion Nonfunktionales eingeschlossen – und dimensionierte über die Bereiche indendiert (beabsichtigt) und percipiert (wahrgenommen) zwei Hauptformen von Handlungsfolgen: manifeste Funktionen als Handlungsfolgen, die zur Anpassung eines sozialen Systems beitragen und von Beteiligten/Akteuren sowohl beabsichtigt als auch wahrgenommen werden; und latente Funktionen als Handlungsfolgen, die von Akteuren/Beteiligten weder beabsichtigt noch wahrgenommen werden.

Von Erkenntnisinteresse sind entsprechend des allgemeinen Aufklärungsanspruchs von Wissenschaft und speziell sozialwissenschaftlicher Aufklärung, etwa aufgespeichert als humanwissenschaftliche Forderung, immer mehr „Unsichtbares sichtbar [zu] machen“[16], vor allem latente Funktionen: wie etwa die noch zu DDR-Zeiten vertretene These, daß das dort mit Ausnahme einer sächsischen Region überall (wenngleich in technisch schlechter Qualität) empfangbare „Westfernsehen“ bei einer bestimmten Nutzungsweise verdeckt-funktional für „die innere Stabilisierung der DDR“ wirke und „auch die Quote der Ausreisewilligen und Antragstellenden“ senke.[17]

Was latente Funktionen in ihrer verdeckten Funktionalität mit so unbeabsichtigten wie unerkannten - und zugleich auch paradoxen - Handlungsfolgen unter vorgegebenen institutionellen Bedingungen und ohne grundlegende Veränderungen gegebener Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse bewirken können und empirisch seit den 1980er Jahren zunächst in der alten Bundesrepublik Deutschland auch bewirkt haben, hat Ulrich Beck 1986 in seinem soziologischen Bestseller Risikogesellschaft am Beispiel der Frauen(gleichstellungs)bewegung und ihrer „Forderung nach Gleichstellung der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ so zutreffend wie dicht beschrieben:

"Die Existenzform des Alleinstehenden ist kein abweichender Fall auf dem Weg in die Moderne. Sie ist das Urbild der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft. Die Negation sozialer Bindungen, die in der Marktlogik zur Geltung kommt, beginnt in ihrem fortgeschrittensten Stadium auch die Voraussetzungen dauerhafter Zweisamkeit aufzulösen. Damit ist dies ein Fall paradoxer Vergesellschaftung [...] Wer - wie Teile der Frauenbewegung - mit dem besten Recht Traditionen, unter denen die Moderne angetreten ist, weiterverlängert und die marktkonforme Gleichstellung von Mann und Frau einklagt und betreibt, muss auch sehen, dass am Ende dieses Weges aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die gleichberechtigte Eintracht steht, sondern die Vereinzelung in gegen- und auseinanderlaufenden Wegen und Lagen, für die es heute unter der Oberfläche des Zusammenlebens bereits viele Anzeichen gibt."[18]

Ausblick

Seitdem ist nicht nur viel Wasser in Elbe, Neckar, Donau, Rhein, Nebenflüsse und anderwärts geflossen, die „nationale Frage“ scheinbar ganzdeutsch gelöst und die deutsch-akademische Soziologie präsidial aufgerufen, sich als „Korrekturwissenschaft“ (Hans-Georg Soeffner) zu profilieren – auch ihre Merton-Rezeption wurde (wenn nicht kritischer so doch) differenzierter: heute interessiert fachsoziologisch vor allem in Zuspitzung auf die Komponente des wissenschaftlichen Nichtwissens Mertons wissenschaftssoziologische „specified ignorance“.[19] Damit bleibt der Doppelcharakter von Wissenschaft: "Science is both disinterested pursuit of truth and a community, with its own customs, its own social contract"[20] weitgehend draußen vor wie die Merton selbst erst später bewußt gewordene Unterscheidung von Handlungsfolgen in unanticipated (unvorhergesehen), unintended (unbeabsichtigt) und unrecognized (unerkannt) weiterhin un(auf)geklärt.

Jeder empirische Sozialforscher, der nicht bloß rapportativ cheap ´n dirty liefert, sondern (sich) diesen Namen verdient[21], weiß seit der 1932 publicablen und richtungsweisenden Marienthal-Studie[22] von Marie Jahoda (1907-2001): Sozialwissenschaftliche Forschung kann nichts taugen ohne die Dimension dessen, was Robert Musil zutreffend Möglichkeitssinn[23] nannte, eingeschlossen auch die besondere Fähigkeit, dem mit jeder déformation professionelle immer schon einhergehenden „partiellen Denkverlust“ (Hans Kilian) bewußt entgegenzuwirken, genauer: reflexiv-subjektorientierte Sozialforschung muß, auch als sujektzentierte grounded theory, immer schon zukunftsbezogen-projektiv arbeiten.[24]

Würde ich im Sinne fachwissenschaftlicher Wissensarchäologie weitergehen wollen, ginge es nicht nur um Merton als „soziologischen Klassiker“ in Deutschland[25] und „Klassiker der Soziologie“ in Österreich[26]. Sondern um Merton als einen intellektuell Hauptverantwortlichen scheinbarer Verwissenschaftlichung oder Pseudoscienfizierung eines Soziologie genannten Kernbereichs von Sozialwissenschaft entsprechend seines fiktiven Modells einer Wissenschaft von der Natur. In diesem erscheint menschliches Leben erstens zum Zwecke seiner Berechenbarkeit auf „Kern und Schale“ (Johann Wolfgang Goethe) ebenso geschrumpft[27] wie zweitens die nötige Vermittlung von Subjekt und Objekt[28] tabuiert. Drittens wird eine soziale Welt als System propagiert, in der und in dem alle Sensualität ausgeklammert ist zugunsten solcher Systemerfordernisse, die „lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität“ (Paul Feyerabend) in „tote Registraturnummern“ (Franz Kafka) verwandeln.

Entsprechend meines sowohl am soziologischen Ideologiekritiker Theodor Geiger (1891-1952) als auch am Nationalökonomen, Soziologen und Kunstfreund Werner Hofmann (1922-1969) geschulten Verständnisses von (Sozial-) Wissenschaft[29] vermute ich, daß Robert King Mertons Schlüsselwort „unanticipated“ (also nicht unanticipatable, unforeseeable oder unpredictable) auch unter Einvernahme des Strukturzusammenhangs von Sprache und Denken und im Sinne des auch hier gegebenen „doppelten Doppelcharakters“[30] nicht nur fachsprachlich-sozialphilosophisch, sondern auch gedanklich-konzeptionell die Verkürzung von Soziologie sowohl auf eine antihistorische als auch auf eine antihermeneutische Beliebigkeitsveranstaltung angemessen ausdrückt.

Anmerkungen

[1] Flittchen Records, Berlin 2006 „Das schöne Leben“
[2] Wilma Ruth Albrecht, Harry Heine. Aachen 2007
[3] Notizen aus der Republik. Live-Ausschnitte zum 60. Jahrestag des Matrosenaufstands am 17. November in Kiel [1978]
[4] Richard Albrecht,
Alte Armut - Neue Armut […]; in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 42 (2006) 2/3: 145-161; die dt.spr. gratise online Text-Version [= goTV] von Pierres Rede contre la précarité (1997) steht hier im Netz: http://www.labournet.de/
[5] G. Günter Voß; Hans J. Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1998) 1: 131-158 ; dies. (Hg.), Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin 2003. - Richard L. Florida,
The Rise of the Creative Class: And How It's Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life. New York 2002
[6] http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2003/06/20/a0124 [die zweite Prozentzahl vermutlich wie die dritte: 25 %]
[7] Robert Michels, Zur Soziologie der Bohème und ihrer Zusammenhänge mit dem geistigen Proletariat; in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 136 (1932) I: 801–816; ders., Historisch-Kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen; in: Schmollers Jahrbuch 57 (1933) I: 807-836
[8] Es gab vor Jahrzehnten auch diese bundesdeutsch-linksintellektuelle Variante: Der Teufel scheißt immer auf den dümmsten Haufen
[9] Matthäus-Evangelium: 25/29
[10] Ebenda: 13/12
[11] Jochen Hörisch, Der mephistophelische Kapitalismus - Wenn die Knappheit knapp wird; in: Merkur, 57 (2003) 9/10: 889-896
[12] Johann Wolfgang Goethe, Faust. DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL [1787]: 1334-1344
[13] Robert K. Merton, The Matthew Effect in Science; in: Science, 159 (1968) 3810: 56-63; gratise online Text-Version [= goTV]:
http://www.garfield.library; ders., The Matthew Effect in Science, II; in: ISIS, 79 (1988) 606-623; goTV: http://www.garfield.library.upenn.edu
[14] Carlo Mierendorff, Die volle Wahrheit; in: Sozialistische Monatshefte, 38 (1932) 5: 396-404
[15] Robert K. Merton, The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action; in: American Sociological Review, 1 (1936): 894–904
[16] “The problem in the human and social sciences is to make invisible things visible.” (Marie Jahoda, The Psychology of the Invisible: An Interview; New Ideas in Psychology, 4 [1986] l: 107-118)
[17] Richard Albrecht, Westmedien in der DDR (WDR 3, Hörfunk: 10. Mai 1989); ders., Fünf Fernsehprogramme aus zwei (Medien-) Welten […]; in: deutsche studien, 28 (1989) 105: 105-108
[18] Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main 1986: 198-200
[19] Peter Wehling, Jenseits des Wissens? Wissenschaftliches Nichtwissen aus soziologischer Perspektive; in: Zeitschrift für Soziologie, 30 (2001) 6: 465–484; goTV: http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1091/628
[20] Carl Djerassi, Cantors Dilemma. A Novel [1989].
Harmondsworth ²1991: 229; deutsch etwa: „Wissenschaft bedeutet sowohl selbstloses Streben nach Wahrheit als auch eine Gemeinschaft mit ihren eigenen Sitten und Gebräuchen, Vorstellungen und Gesetzen.“
[21] Zur Begründung: Richard Albrecht, The Utopian Paradigm; in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318; goTV der theoretischen Einleitung unterm Titel TERTIUM […]: http://www.grin.com

[22] Marie Jahoda et.al.
, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Leipzig 1933; Allensbach ²1960; Frankfurt/Main ³1975; dazu Richard Albrecht, Zukunftsperspektiven: Arbeitslosigkeit – Subjekt- und Realanalyse; in: FORUM WISSENSCHAFT, 24 (2007) 1: 61-63; goTV https://www.bdwi.de/

[23] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman [1930-1943]. Neuausgabe Reinbek 1978, hier erster Band: 16-18
[24] Als Anschauungsbeispiel: Uta Gerhard, Patientenkarrieren. Eine medizinsoziologische Studie. Frankfurt/Main 1986
[25] http://de.wikibooks.org/wiki/Soziologische_Klassiker/_Merton,_Robert_K.
[26] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/merton/33bio.htm
[27] Richard Albrecht, Ein Korn ist ein Korn ist ein Korn […]; in: Aufklärung und Kritik, 14 (2007) II: 295-296; goTV: http://ricalb.files.wordpress.com/2009/07/korntext.pdf
[28] Johann Wolfgang Goethe, Der Versuch als Mittler von Objekt und Subjekt [1792; ²1823]; goTV: http://de.wikisource.org/wiki/Der_Versuch_als_Vermittler_von_Objekt_und_Subjekt
[29] "Die Soziologie kann sich nicht mit dem bloßen Registrieren menschlicher Handlungsweisen begnügen, sondern muß auch versuchen, die ihnen zugrundeliegenden subjektiven Prozesse aufzudecken und zu beschreiben." (Theodor Geiger, Über Soziometrik und ihre Grenzen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1 [1948/49]: 292-302). Wissenschaft ist zunächst formal "methodische (d.h. systematische und kritische) Weise der Erkenntnissuche" und inhaltlich "ihrem allgemeinen Inhalt nach gerichtet: 1. auf das Erscheinungsbild der Wirklichkeit (als sammelnde, beschreibende, klassifizierende Tätigkeit, als Morphologie, Typologe usw.); 2. als theoretische Arbeit auf Zusammenhang, Bedeutung, Sinngehalt der Erscheinungen, auf wesentliche Grundsachverhalte, auf Gesetze der Wirklichkeit. Die Erschließung des Erfahrungsbildes der Welt arbeitet der theoretischen Deutung vor; sie begründet deren empirische Natur und die Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse. Die Theorie aber stiftet erst die Ordnung des Erfahrungsbildes; sie erst gibt der empirischen Analyse ihren Sinn und nimmt die Erscheinungssicht vor der bloßen Form der Dinge in Hut. In diesem dialektischen Widerspiel von Erfassung und Deutung der Wirklichkeit ist konstitutiv für Wissenschaft die Theorie. Nicht immer verlangt das Verständnis von Wirklichkeit nach Theorie; doch erst mit der Theorie hebt Wissenschaft an." (Werner Hofmann, Wissenschaft und Ideologie; in: ders., Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt/Main ²1968: 49-66)
[30] Richard Albrecht,
„Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur“: Ernst Blochs Exil-Vortrag vor siebzig Jahren: Geschichtliches und Aktuelles; in: Bloch-Jahrbuch 13 (2009): 223-240

Editorische Hinweise
Für diese Netzveröffentlichung vom Autor am 1. 8. 2019 um nicht mehr funktionierende Links gekürzt. Erstdruck in: soziologie heute, 4 (2011) 17: 28-31

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