Wenn in diesen
tristen politischen Zeiten die Frage die Runde
macht, wo denn die Situation ein wenig weniger
trist sein könnte, fällt der Blick unwillkürlich
über den Rhein. Das die Situation für eine radikale
Linke dort nicht ganz so desperat erscheinen mag,
ist u.a. auch dem Umstand geschuldet, dass dort im
Gegensatz zu hier die Figur des Intellektuellen,
der dem antagonistischen Spektrum zuzurechnen ist,
noch nicht gänzlich ausgestorben erscheint.
Zu ihnen gehört ohne
Zweifel auch Aléssi Dell'Umbria, dessen Texte und
Bücher bisher praktisch nicht auf deutsch
erschienen sind. Dem kleinen Verlag Edition
Contra-Bass gebührt die Ehre, hier endlich Abhilfe
geschaffen zu haben. Er veröffentlichte jüngst „Wut
und Revolte“, eine überarbeitete Fassung eines
Essay, das Aléssi Dell'Umbria unmittelbar nach den
landesweiten Unruhen in den französischen
Vorstädten im Herbst 2005 verfasste.
Gleich zu Anfang
seines Ausführungen stellt Dell'Umbria
sympathischerweise sowohl seinen Sprechort („Zu
behaupten, die Intensität der erlebten Situation
wiederzugeben, ohne sie direkt empfunden zu haben,
wäre ein Betrug gewesen, wie ihn die 'radikale'
Literatur gewohnt ist“) als auch seine
grundsätzliche Komplizenschaft („Doch der
Schreibende weiß auch, das er sie in anderen Zeiten
und an anderen Orten empfand“) mit den rebellischen
Jugendlichen klar.
Im Weiteren spannt
Dell'Umbria den historischen Bogen von den Rockern,
die sich im Mai 1968 aus den Vorstädten zu den
revoltierenden Student*innen gesellten, zu den
extralegalen Hinrichtungen durch den
Repressionsapparat, die in 80igern begannen und
deren Opfer ausnahmslos Bewohner*innen der
Banlieues waren. Und die nur in einigen wenigen
Fällen zu späteren Verurteilungen der beteiligten
Polizisten, meist zu lächerlichen
Bewährungsstrafen, führten. Vor allem aber zeigt er
gegen alle gängigen Klischees den sozialen Gehalt
der Revolte im Herbst 2005 auf, die sich nicht
notwendigerweise emanzipatorisch gebärdete, sondern
auch in allen Schattenseiten die Brutalität der
Verhältnisse widerspiegelte.
Schon in der
Bezeichnung des Ortes, den diese Revoltierenden
bewohnen, der Banlieue, ist der Bann, die
Verbannung aus den Innenstädten sprachlich
eingeschrieben. Folglich blieb und bleibt den
Jugendlichen gar kein anderer Ort der Revolte, der
demonstrativen Aktion, da ihnen der Zugang in die
Innenstädte weitgehend versperrt bleibt. (Nicht
umsonst wurde in Paris während des Finales der
Fußball WM 2018 der gesamten ÖPNV von den
Vorstädten in die Innenstadt eingestellt. Trotzdem
fanden sich noch genügend Jugendliche ein, die
mitten auf den
Champs-Élysées
einen veritablen Riot veranstalteten.)
Da die Stärke der
Revoltierenden im Allgemeinen nicht ausreichend war
und ist, um sich in eine direkte Konfrontation mit
dem hochgerüsteten Repressionsapparat zu begeben,
beschränken sich ihre Aktionen meistens auf
Hinterhalte, Zerstörungen von öffentlichen
Institutionen (einschließlich von Schulen und
Kindergärten), sowie der Inbrandsetzung der Autos
ihrer Nachbarn. Aber auch dieser Seite der Agonie
dieser Revolte wohnt eine Entwicklung inne, die
Dell'Umbria dankenswerterweise nachzeichnet. Noch
während der ersten Welle der Revolten der Vorstädte
1981, war es z.B. in Lyon Usus, sich in die
Innenstädte zu begeben, um dort Luxusschlitten zu
„erbeuten“, die dann feierlich auf „eigenem“
Terrain in Brand gesetzt wurden. Im eigenen Viertel
wurden nur die Fahrzeuge Jener abgefackelt, die als
Rassisten oder Denunzianten bekannt waren. Doch
jene erste Generation, die vielleicht über „mehr“
(oder ein anderes) politisches Bewusstsein
verfügte, wurde in den Folgejahren zwischen in die
Viertel gepumpten Drogen und paternalistischen
Übernahmeaktionen durch etablierte linke und
humanistische Organisationen aufgerieben.
Vielleicht war auch
jene Revolte von 2005 der Ausgangspunkt für eine
Tendenz zum nihilistischen Aufstand der Prekären,
die im Wissen um ihre eigentliche Situation keine
Forderungen mehr stellen, über keine Visionen mehr
verfügen jenseits der Leidenschaft sich als
Subjekte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung
wieder sichtbar zu machen. Nicht umsonst bezogen
sich z.B. Teile der jungen albanischen Community,
die sich an den wochenlangen Unruhen 2008 in
Griechenland nach dem Tod von Alexis Grigoropoulos
beteiligten, positiv auf die Unruhen von 2005 in
Frankreich.
Die Aktualität
Dell'Umbrias „Wut und Revolte“ schien nicht zuletzt
erst vor wenigen Tagen auf, als in Schweden in
einer konzertierten Aktion öffentlichkeitswirksam
zeitgleich in mehreren Großstädten aberdutzende von
Autos in Brand gesetzt wurden. Eine
antagonistischen Linke, der Marxsches „alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes,
ein verächtliches Wesen ist“ ein ernstzunehmendes
Anliegen bleiben soll, wird nicht umhin kommen,
sich mit dem Wesensgehalt jener „Revolten der
Vorstädte“ auseinanderzusetzen. Das Studium der
empathischen Ausführungen von
Alèssi
Dell'Umbria wäre dabei hilfreich, den
Protagonist*innen dieser Aktionen auf Augenhöhe zu
begegnen.
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Alèssi
Dell‘Umbria
Wut und Revolte
Essay
ISBN 978-3-943446-29-6
144 Seiten
12 Euro
Edition Contra-Bass |
Editorischer Hinweis
Wir erhielten die Rezension vom Autor für
diese Ausgabe.
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