. . .
. Von den lebensphilosophischen Ansätzen der
Romantik über Kierkegaard bis zur »negativen
Dialektik«, von Nietzsche über Spengler und Ernst
Jünger bis zu Heidegger und Foucault bildet das
»negative Denken« einen historischen Zusammenhang,
eine geistige Tradition; die Philosophie der
Postmoderne steht in einem Kontext, der teils Marx
vorausging, teils mit Marx gleichzeitig war, teils
sich parallel zum Marxismus entwickelte. Marx'
Denken entfaltete sich in Auseinandersetzung mit
frühen lebens-philosophischen Bestrebungen (etwa
mit Max Stirners Philosophie des Einzigen oder mit
Bakunins Beschwörung des irrationalen Lebens gegen
wissenschaftliche Erkenntnis und objektiv
begründete Politik).
Blieb der Konflikt
zwischen Marx und Nietzsche in ihren Ideengefügen
implizit, aber auch impliziert, so hatten und haben
Marxismus und Nietzscheanismus
diesen Kampf auszutragen. Es gehört zu den
Paradoxien der Philosophie der Postmoderne, daß sie
sich jenseits von Marx verortet,(54)
ihre Zeitdiagnosen aber Konstellationen zu
beschreiben vermeinen, die diesseits von Marx
plaziert sind, wobei diese angeblichen Rückfälle
ersehnt und zugleich betrauert werden, die
antiromantische Geste der kühnen Fortschrittskritik
eine neuromantische Nostalgie verhüllt. Adornos
»negative Dialektik«, obwohl zunächst von Nietzsche
geprägt, hielt eine Rückkehr
zur Attitüde der Junghegelianer für möglich und
erstrebenswert. Foucault konstatierte einen
Rückfall der historischen Situation auf das Jahr
1830, wobei dieses Urteil auf Denkinhalten
Nietzsches und des' Nietzscheanismus beruhte, das
heißt auf dem lebensphilosophisch-krisen-mythischen
Bewußtsein der Zeit nach 1871 und 1917. Gegner und
Kritiker hegen gegen die
Philosophie der Postmoderne den Argwohn, daß sie
zur Prämoderne zurückkehre(55),
und diese Vermutung scheint nicht unbegründet,
insofern die Posthistoire in der Prehistoire eine
Stütze finden will, die Postrationalität an die
Prärationalität appelliert, die Postphilosophie im
präphilosophischen Mythos(56)
nach einem Halt sucht.
Die Postmoderne
ist dennoch ein »modernes« Phänomen: Sie ist an die
Verfalls-Phase und -Perspektive der bürgerlichen
Gesellschaft gebunden, sie ist deren falsches
Bewußtsein, zum »Zeitgeist« des Krisenmythos
hypostasiert(57);
die Neigung zur Prämoderne, zur Prehistoire, zur
Prärationalität erwacht
immer wieder in diesem Bewußtsein. Nicht der
fundamentale Bestand der Philosophie der
Postmoderne ist das Novum - Nietzsche und
Heidegger gelten als die Philosophen der
Postmoderne(58),
sondern die Konstellation, in der
diese andauernde Tendenz der spätbürgerlichen
Geistigkeit neue Kraft gewinnt und mit dem Reiz der
Neuigkeit zutage tritt. Dieses Novum - der heutige
Krisenzustand der bürgerlichen Gesellschaft, samt
den sozialen Entwicklungen infolge der Umwälzung
der Technik, der ökologischen Spannungen, der
Bedrohung durch einen thermonuklearen Krieg, des
ungleichmäßigen und widersprüchlichen,
nichtlinearen Ganges der Klassenkämpfe usw. -
befindet sich in der Geschichte einer
Gesellschaftstotalität, deren Hauptkoordinaten und
fundamentale Bewegungsgesetze Marx erschloß bzw.
deren Werdegang auf Grund der Marxschen Theorie zu
eruieren ist.
»In der Lawine gibt es entweder nur oder keine
Decadence«(59), so Ernst Jüngers Maxime. An anderer
Stelle schreibt er: »Der Untergangsstimmung, wie
sie sich in unseren Tagen entwickelt, fehlt jedes
Gegengewicht.«(60) Diese postmodernen Maximen
scheinen dem Diktum Paul Valerys verwandt, der als
Repräsentant der Moderne gilt: »Und wir sehen
jetzt, der Abgrund der Geschichte sei groß genug
für die ganze Welt.«(61) Die gegenwärtige
historische Situation ist aber nicht bloß eine
Lawine, ob-schon in ihr die Möglichkeit von Lawinen
liegt; sie ist nicht bloß ein Abgrund, obschon es
in ihr die Lockung und die Realität geschichtlicher
Abgründe gibt; denn über den Abgründen drohen
Stürme, treffen gegensätzliche Sturmböen
aufeinander, und unter den Abgründen vollziehen
sich tektonische Verschiebungen in der Tiefe der
sozialen Wirklichkeit. Dieselbe Krise, die in der
Philosophie der Postmoderne mystifiziert und in
dieser mystifizierten Gestalt als Beweis gegen
Marx und den Marxismus vorgeführt wird, erweckt
aufs neue das Interesse für Marx und den
Marxismus.(62)
Auch in bezug auf
die Philosophie gilt kaum Ernst Jüngers Metapher
der einzigen, alles mitreißenden Lawine, wo
entweder alles Dekadenz seil
oder es keine Dekadenz gebe. Unter anderem
kontrastieren zwei neuere
Entwicklungen des philosophischen Denkens mit der
Postmoderne: zum einen die
philosophisch bewußt werdenden dialektischen Ansätze
und Fragestellungen, die dem Gange der
naturwissenschaftlichen Erkenntnis
entwachsen, zum anderen das Wiedererscheinen des
Materialismus im nicht-marxistischen Denken, aber
außerhalb der grundlegenden Struktur
der spätbürgerlichen Philosophie.
Verklärt die
Philosophie der Postmoderne den Abgrund der
Posthistoire, des Postrationalen.
Postphilosophischen zur Zeitsignatur und zum
Urgebilde von Geschichte, Erkenntnis und
Philosophie schlechthin,« so vertritt Marx' Denken
das rationale Begreifen der Geschichte, die
historische Betrachtung der Vernunft, die
Daseinsberechtigung und Existenz
der wissenschaftlich-theoretischen Philosophie: Es
ist der Antipode zum neuen Aufzug des Nihilismus.
Den Leitgedanken dieses Nihilismus Nietzschescher
Provenienz und Prägung formulierte Gottfried Benn
Anfang der vierziger Jahre: »Es wurde gebüßt durch
die Trennung von! Ich und Welt, die schizoide
Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose:
Wirklichkeit. Ein quälender Begriff, und er quälte
alle, die Intelligenz unzähliger Geschlechter
spaltete sich an ihm. Ein Begriff, der als
Verhängnis über dem Abendland lastete, mit dem es
rang, ohne ihn zu fassen, dem es Opfer brachte in
Hekatomben von Blut und Glück, und
dessen Spannungen und Brechungen kein
natürlicher Blick und keine methodische
Erkenntnis mehr in die wesenhafte Einheitsruhe
prälogischer Seinsformen abzuklären
vermochte.«(63)
Dieser
philosophische Wirklichkeitsverlust und
WirklichkeitsverdachtI sind das gemeinsame Ergebnis
von Lebensphilosophie und Positivismus,
das durch Heideggers
Seinsphilosophie nur dem Anschein nach überwunden,
dem Wesen nach jedoch radikalisiert
wird. Scheint die »Seins-Vergessenheit« den
Wirklichkeitsverlust zu beklagen, so verabsolutiert
sie ihn in Wirklichkeit, erklärt ihn für
unwiderruflich und endgültig. Das letzte
Ergebnis der Philosophie der Postmoderne (das
etliche Befürworter derselben nicht anstreben,
sondern vermeiden wollen) ist die abstrakt-pure
Negativität, die unwiderstehliche Macht des
Prinzips des Bösen. Es scheint ein Chaos zu walten,
aus dem keine Welt mehr entstehen kann(64),
das Nichts, dieser schon veraltete Weltgott,
scheint als trunkener Tyrann zu herrschen. Das
Ergebnis ist endgültiger Verlust ohne jede
Entschädigung - der Verlust von Erkenntnis und
Wahrheit, von Wandel und Ausweg. Wird etwas
behauptet, so statt der zurückgenommenen Dialektik
die Dekonstruktion und die Ekstase,
statt der zurückgenommenen Vernunft die
Unvernunft, statt der zurückgenommenen
Objektivität das Fatum, statt des
zurückgenommenen rationellen philosophischen
Wissens das Schweigen, in dem nur die ferne
Stimme der heiligen Botschaft zu hören, das Wort
des Mythos, des Glaubens zu vernehmen sei(67).
Angesichts des
postmodernen Nihilismus tritt Marx'
materialistische Dialektik als die
philosophische Wiedergewinnung der Realität
zutage. Ihrem Selbstverständnis nach geht die
Philosophie der Postmoderne -
infolge der Verwindung von Geschichte,
Rationalität und wissenschaftlicher Philosophie -
über Marx hinaus: Die Postmoderne versteht sich als
co ipso postmarxistisch. Als latenter oder
genannter Gegenstand der postmodernen Kritik an
der »klassischen Rationalität« gelten Marx und der
Marxismus. Es gibt zwar Bestrebungen, Marx der
Postmoderne einzuverleiben, ihn zum Denker der
»Dekonstruktion« umzudeuten68,
in der Philosophie der Postmoderne überwiegt aber
die Tendenz. Marx und den Marxismus der
»klassischen Rationalität« unterzuordnen und samt
dieser für veraltet zu erklären: Was der
Philosophie der Postmoderne abhanden
gekommen scheint, ist »die Möglichkeit, die
Zukunft zu antizipieren und zu gestalten«(69)
- also die Daseinsberechtigung marxistischer
Erkenntnis und Handlung. Die Negativität
der Philosophie der Postmoderne verneint das Denken
von Marx, vor allem die materialistische Dialektik
und die Idee der revolutionären Umwälzung der
Gesellschaft; diese negative Beziehung zu Marx
gehört zu ihrer Wesensbestimmung. Die Philosophie
der Postmoderne ist im Schatten von Marx
angesiedelt; sie vermag diesen Schatten weder
abzuwenden noch aus ihm herauszutreten. Die
Tatsache, daß die Philosophie der Postmoderne in
ihrer Auseinandersetzung mit der materialistischen
Dialektik die Geschichte und die Rationalität
schlechthin »dekonstruiert«, die Moderne ablehnt,
insofern der erste historische Typus des Begriffs
der Moderne die Idee der rationellen Aneignung der
Natur und der Wandlung der Gesellschaft war,
bestätigt ex negativo, daß die philosophische
Theorie der materialistischen Dialektik im Gang der
menschlichen Erkenntnis und Emanzipation tief
verwurzelt ist.
Anmerkungen
54)
»Wir sind jenseits von Marx (und dem Marxismus).
Aber auch ohne Marx (und den Marxismus). Ich habe
nie richtig verstanden, was glückliche Ausdrücke,
wie etwa mit Marx jenseits von Marx, bedeuten
könnten. Wenn man mit Marx ist, wie macht man es,
jenseits von ihm zu sein? Wenn man jenseits von ihm
ist, wie ist man dann in seiner Gesellschaft?« (S.
Veca. Le mosse della ragione. Scritti di filosofia
e politica, Milano 1980, p. IX.)
55)
»Foucaults - skeptische und kühne - Botschaft
lautet: Die Postmoderne muß
eine Prämoderne werden, oder sie wird gar nicht
sein.« (R. Schlesier, Humaniora.
Eine Kolumne, in: Merkur, 1987, S. 822)
56)
»Die Vernunft, so scheint es, verliert an Ansehen.
Das Erbe der Aufklärung,
schwindet, Heilslehren, die aus dem Ungesonderten
schöpfen, aus dem Vorbewußten und aus einer
ungebändigten Natur, wo Seele und Geist, Gefühl und
Verstand noch nicht geschieden sind,
gewinnen an Autorität, an »alternativer«
Verbindlichkeit.« (Mythen der Moderne, in:
Neue Zürcher Zeitung, 16. 9. I983.)
57
Vgl. aus unterschiedlichen Gesichtspunkten: G.
Hofmann, Was die Spatzen
nicht von den Dächern pfeifen, in: Die Zeit, 21.
11. 1986; O. Marquard, Die
arbeitslose Angst, in: Die Zeit, 12. 12. 1986;
H.-E. Richter, Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder, in: Die Zeit, 16. 1. 1987; U. Greiner,
Wahrheiten mit Verfallsdatum,
in: Die Zeit, 20. 2. 1987; W. Schäfer, Die
Krankheit der Vernunft, in:
Die Zeit, 3. 4. 1987.
58)
Vgl. G. Vattimo, La fine della modernità,
a. a. O., pp. 10f. - Vgl.
auch Il pensiero debole. A
cura di G. Vattimo e P. A. Rovatti, Milano 1985. -
»Für mich war immer
Heidegger der wesentliche Philosoph«, sagte Michel
Foucault in seinem letzten Interview. »Mein ganzer
philosophischer Werdegang war durch meine
Heidegger-Lektüre bestimmt. Ich gebe aber zu, daß
Nietzsche ihn überwogen hat. Ich kenne Heidegger
ungenügend, praktisch kenne ich weder Sein und
Zeit, noch seine neulich herausgegebenen Sachen.
Meine Nietzsche-Kenntnis ist viel
besser als die, die ich von Heidegger habe;
trotzdem ist es gewiß, daß ich diese beiden
grundlegenden Erfahrungen gemacht habe ... Ich habe
aber nie etwas über Heidegger geschrieben und über
Nietzsche lediglich einen ganz kleinen Artikel;
dennoch las ich diese beiden Autoren am meisten.«
Und Foucaults lapidar gezogenes Fazit: »Ich bin
einfach Nietzscheaner ...« (In: Les Nouvelles
litteraires des arts, des sciences et de la
societé, 28. 6. 1984, p. 40.) - Zum Thema Nietzsche
als Vorläufer der Philosophie der Postmoderne vgl.
auch I. Hassan, The Right Promethean Fire, a. a.
O., pp. 93ff., 144.
59) E.
Jünger, Werke, Bd. 6, Stuttgart o. J., S. 335.
60)
Ebenda, S. 536.
61) P.
Valery, (Euvres, vol. I, Paris 1957, p. 988.
62)
Vgl. u. a. die Überlegungen des (Marx-kritischen)
Buches von D. McLellan, Karl Marx: The Legacy,
London 1983, p. 179.
63) G.
Benn, Gesammelte Werke. Bd. 1: Essays, Reden,
Vortrage, Wiesbaden 1959 S. 337.
64)
Vgl. W. Wilde, Horizons of Assent. Modernism,
Postmodemism, and the Ironie Imagination, Baltimore
and London 1981, pp. 136ff.
65) »Es
ist nicht mehr die Dialektik am Werk, sondern die
Extase.« (J. Baudrillard, Les strategies fatales,
Paris 1983, p. 59)
64)
»Schweigen impliziert Entfremdung von Vernunft.
Gesellschaft und Geschichte, eine Reduktion aller
Verpflichtung in der geschaffenen Welt der
Menschen, vielleicht eine Aufhebung jeder
Gemeinschaftsexistenz. Sein radikaler Empirismus
widersetzt sich den menschlichen Systemen, er
sprengt sie sogar ... Schweigen entwirklicht die
Welt.« (I. Hassan, The Dismemberment of Orpheus, a.
a. 0.,p. 13.)
67)
Vgl. J. M. Perl, Giving the Word back to God, in:
The Times Literary Supplement, 25. 10. 1985, p.
1214.
68)
Vgl. R. Schürmann, Anti-Humanism. Retlections on
the Turn towards the Post-Modern Epoch, in: Man and
World, 2/1979; M. Ryan, Marxism and
Decon-struetion. A Critical Examination, Baltimore
and London 1982.
69) C.
Pasquinelli, Marxism in Crisis: The Decline of the
Marxist Myth, in: Rethinking Marx, ed. by S.
Hänninen and L. Paldán, Berlin (West) 1984, p. 24.
-In der geistigen Atmosphäre der Philosophie der
Postmoderne sei die »Krise der Vernunft« als »die
Liquidation des Marxismus und der zentralen
Stellung der Arbeiterschaft« auszulegen. (Vgl. M.
Vegetti, Potenza dall'strazione e sapere dei
soggetti, in: aut aut, 175-176/1980, p. 5) - Zur
marxistischen Antikritik an der Marx-Kritik dieser
Art vgl. u. a. Marx ei suoi critici. A cura di G.
M. Cazzaniga. D. Losurdo, L. Sichirollo, Urbino
1987.
Editorischer
Hinweis
András Gedő, Die Philosophie der Postmoderne im
Schatten von Marx, in: Moderne - Nietzsche -
Postmoderne, Studien zur spätbürgerlichen
Ideologie, Berlin 1990, Leseauszug: S. 83-88
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