Betrieb & Gewerkschaft
„Ach, Multilind?
Ein Arbeitstag aus dem Leben einer Leasing-Kraft

von "Frau Sofas Gedanken"

9/2017

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Heute war ich in einem ganz anderen Wohnbereich eingesetzt. Als ich mich bei der Schichtleitung meldete, meinte sie lapidar: „Ach, Zeitarbeit…“ und zog dabei ein Gesicht, das mich sauer werden ließ. Was sie gegen Leasingkräfte hätte, fragte ich zurück. „Ach,“ antwortete sie. „Ihr seid richtig faul. Wollt nicht arbeiten. Deshalb seid Ihr auch in der Zeitarbeit, weil Ihr so arbeitet, wie Ihr wollt.“

Mir stockte der Atem, und ich musste zynisch auflachen. „Wir werden dann eingesetzt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist oder kurz dabei ist, zu ertrinken.“ Und dann korrigierte ich sie, in dem ich sie darauf hinwies, dass ich eher den Begriff „Leasing“ bevorzuge und nicht „Leiharbeit“, „Egal!“ bluffte sie zurück. „Dann machst du bitte Frau A, Frau Z. und Herrn K.“ Nach einer kurzen „Einweisung“ entließ sie mich mit einem recht unhöflichen Blick.

Alle drei haben den Pflegegrad 5, sind mehrfach erkrankt und in ihren Bewegungen wie auch Verhaltensweisen massiv eingeschränkt, um es mal höflich zu formulieren. Die beiden Damen mussten wollten mobilisiert werden, der Herr blieb im Bett.

Als Leasingkraft in verschiedenen Häusern eingesetzt, muss man flexibel und in der Lage sein, gefährliche Situationen für den Bewohner zu erkennen und in einem beratenden Gespräch die verantwortliche Fachkraft des Hauses auf Dinge aufmerksam zu machen. Wir müssen von jetzt auf gleich umschalten, uns sofort auf Bewohner einstellen, die wir nicht kennen und uns in Systemen bewegen, die irgendwie gleich, aber dennoch sehr unterschiedlich sind.

Die beiden Frauen zu versorgen, stellte für mich kein Problem dar. Auch deren Mobilisierung nicht. In Abständen schaute die Kollegin bei mir vorbei, um sich zu erkundigen, ob ich auch klar komme oder Hilfe bräuchte.

Und dann kam ich bei dem Herren an. Und was ich da sah, machte mich wütend. Er lag da, mit offenem Mund. Zuerst reichte ich ihm sein Frühstück an und bemerkte sehr schnell, dass er unter einer Dysphagie leidet, ich ihm aber Brot mit Schmierwurst (Leberwurst) anreichen sollte. Zudem war der Kaffee, den er trinken sollte, nicht angedickt. Also ging ich zurück in die Küche und bat um einen Joghurt oder irgendwas, was breiig ist. Mit einer Griessuppe („Die mag er nicht! Das sagen die Kollegen. Aber du kannst es ja versuchen, wenn du meinst, es besser zu können!?!„) ging ich zu ihm zurück. Binnen kürzester Zeit hatte er die Suppe gegessen, so ausgehungert schien er. Den Kaffee gab ich ihm tröpfchenweise, da kein Andickungsmittel zur Verfügung stand. Wenn er sich mal verschluckte, dann hörte ich ein Brodeln aus seinen Lungen – ein Zeichen für mich, dass er schon oft aspiriert hatte. Und ich sah seine Zunge… und erschrak. (Kennt Ihr diese diese dicke braune Schicht mit fetten Borken auf dem Zungenrücken? Ja, das, aber noch schlimmer, erblickte ich.)

Nachdem er gegessen hatte, ließ ich ihn eine halbe Stunde in Ruhe. Diese Zeit brauchte ich, um auch nur irgendwas wie Waschlappen und Handtücher zu finden. Es war nichts da! Alle Schränke waren leer. In einer Ecke fand ich dann vier (!!!!) kleine Handtücher, die ich mir griff, um sie im Zimmer des Herren in Sicherheit zu bringen.

Und dann begann ich, ihn zu pflegen. Gesicht, Oberkörper, Arme, Hände, Fingernägel (Oh mein Gott, was für ein Schmodder!), Intimbereich. Und da wurde mir richtig schlecht.

(Im Weiteren werde ich bewusst aus Respekt nur die anatomischen Begriffe verwenden.)

Zwischen Glans und Präputium fand ich KÄSE, SCHMODDER, GEKRUSCH…. Aber sowas von… mir wurde übel. Mir wurde klar, dass ich gerade dabei war, einen massiven Pflegefehler zu beseitigen. Aber was blieb mir übrig? Hätte ich den MDK rufen sollen? Oder die Heimaufsicht? Zum Leidwesen des Betroffenen wischte ich und wischte und wischte, um die Glans zu reinigen. Und irgendwann sah ich da irgendwas Weißes, was sich nicht abwischen ließ. In dem Augenblick kam die Kollegin ins Zimmer und fragte mich, ob ich „Hilfe“ bräuchte. Ich verneinte, bat sie aber ans Bett. Und ich zeigte ihr das Drama, nicht ohne vorher über die „Unsauberkeit“ des Bewohners ein Wort zu verlieren. Ich bekäme das da nicht weg, ob sie eine Ahnung habe, um was es sich da handele, fragte ich sie. „Ach,“ antwortete sie. „Das muss das Multilind sein. Die Glans war gerötet und da habe ich die Salbe drauf getan. Das war am Freitag.“

Moment, heute hatten wir Montag – also drei Tage lang war der Mann nicht richtig gepflegt worden? Ob das auf ärztliche Anordnung gemacht worden wäre, fragte ich zurück. (Eine im übrigen gaaaaaaaaanz böse Frage!) Sie verneinte.

Da sie gerade da war, bat ich sie, mir dabei zu helfen, nach einem Wasserwechsel, ihm den Rücken und das Gesäß zu waschen. Wir legten ihn auf die Seite und ich sah ein wundervoll zyanotisches Hinterteil, auf dem zwei wundervolle Wunden sprießten.

Sie möge sich das bitte mal ansehen, bat ich die Kollegin. Ach das, das hätte er sich selbst durch Kratzen zugefügt. Denn er würde sich so oft kratzen. Ich schaute auf den Mann, der zu Eigenbewegungen überhaupt nicht mehr in der Lage war. Selbstverletzung durch Kratzen? fragte ich wütend zurück. Ja ja, er würde sich andauernd kratzen und besonders am Gesäß. Das wisse man. Nur, das waren keine Kratzwunden! Überhaupt nicht. Die nicht wegdrückbare Zyanose zeigte es mir. Beide Wunden waren von falsch angelegten Vorlagen verursacht. Es waren richtige Hautablederungen und der kleine Schorfpunkt weiter oben, den ich dann erkannte, sah auch nicht gut aus.

Ob eine Wunddokumentation angelegt sei, die dieses „Geschehen“ beschreibt, fragte ich. Die Antwort war ein irritierter Blick, der Bände sprach. Morgen kommt doch der Arzt zur Visite? Fragte ich, die Antwort als bekannt zu signalisieren. Ihr werdet das ihm zeigen und nach einer ÄO fragen? Fragte ich, sie zu einer Antwort zu zwingen.

Ich desinfizierte die Stellen und versorgte sie, soweit ich dazu berechtigt war. Und ich dokumentierte! Das war meine Rache. Und ich informierte die zuständigen Stellen im Haus. Denn ihre Aussage, dass wir Leasingkräfte nur faul seien, hingen mir immer noch im Ohr.

Die Kurven hatten keine Reiter, um den nächsten Schichten Informationen weitergeben zu können. Denn zur Übergabe war ich schon längst aus dem Dienst entlassen. Aber es wird sich bestimmt wieder eine Gelegenheit ergeben, zum Wohl der Bewohner

Dass ich zum Schluss einen Anschiss bekam, weil ich einer anderen Bewohnerin eine zu teure Vorlage verpasst hatte, die nur in der Nacht angelegt wird, setzte dem Ganzen für mich die Krone auf.

Egal!
In diesem Sinne
Eure
Frau Sofa

Quelle: https://frausofa.wordpress.com/2017/08/21/ein-arbeitstag-aus-dem-leben-einer-leasing-kraft-ach-multilind/