Editorial
Im Dämmerlicht

von Karl Mueller

09/2016

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"Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann." (MEW 8 / 141)

Mit diesen Worten charakterisierte Karl Marx in seiner berühmten klassenpolitischen Untersuchung des Staatsstreichs von Louis Bonaparte (Napoleon III.) 1851 das Kleinbürgertum, das Phrasen und Illusionen produziert, um letztlich die ökonomischen und politischen Verhältnisse so zu belassen, wie sie sind. 

Das Kleinbürgertum des 19.Jahrhunderts ist heute in den spätkapitalistischen Metropolen der Gegenwart eine Randerscheinung. An seine Stelle traten die Mittelschichten, die bedingt durch die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsmittel vertikal und horizontal gegliedert in eine Vielzahl sozialer Milieus lebensweltlich eingebunden sind. Erwerbsarbeit bedeutet hier wie bei der Masse der Proletarier*innen in aller Regel Arbeitskraft gegen Lohn zu tauschen. Die Spannbreite ihrer Lohnarbeitstätigkeit ist weit. Sie reicht über Aufsicht und Instruktion zur Erhaltung des kapitalistischen Kommandos über die Arbeit bis zur Mehrwerterzeugung durch eine spezische Symbiose von Hand- und Kopfarbeit. (siehe dazu auch: Wo ist das Proletariat bloß abgeblieben!)


Sreenshot: Milieustudien in der kirchlichen Zukunftsdebatte

Von daher musste sich die bürgerliche Soziologie  in den letzten Jahrzehnten passende Forschungsinstrumente schaffen, um mit entsprechenden empirischen Untersuchungen ihrem politischen, wirtschaftlichen  und ideologischen Klientel weiterhin behilflich sein zu können. Und so wurden  auch Wahlen zu einem relevanten  Forschungsfeld der bürgerlichen Soziologie. Eine Bertelmann-"Wahlanalyse" aus dem Jahre 2015, die sich der Sinus-Milieus bediente, ergab, dass "Liberal-Intellektuelle" am häufigsten zur Wahl gehen und dass Hedonisten" und "Prekäre" typische Nichtwähler sind.


Screenshot: https://www.bertelsmann-stiftung.de

Wer sich die Liste der 32 zur Wahl in Berlin am 18.9.2016 zugelassenen Parteien ansieht, wird bemerken, dass für die Wahlaktiven des Bürgertums und der Mittelchichten ein wahrer Bauchladen an Angeboten bereitsteht, der sich ganz im Sinne von Karl Marx - trotz seiner Heterogenität - dadurch auszeichnet, dass "die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden" vermieden werden sollen.

Karl-Heinz Schubert ist daher in dieser Ausgabe der Frage nachgegangen, ob es zu Wahlen in Berlin im September überhaupt  Wahlangebote gibt, die bei ihren Bemühungen für einen Einzug in die Parlamente die Interessen der Arbeiter*innenklasse ins Zentrum ihrer Programmatik stellen. Drei Alternativen mit linken Anspruch und einen Boykottaufruf hat er gefunden. Obgleich er sich aus einer expliziten Beurteilung heraushält und diese den Leser*innen überlässt, ist das, was er aus dem Wahlmaterial zusammengestellt hat, einfach niederschmetternd.

Im Dämmerlicht der erlöschenden Flamme der ML-Theorie der 1970er Jahre lassen sich nur noch Umrisse der politischen und Klassenstrukturen erkennen. Folglich entdeckt die DKP-Berlin in ihrer gesellschaftspolitischen Zustandsbeschreibung lediglich das Monopolkapital als bestimmenden Grund der sozialen Verwerfungen:

"Aber wir sind der Auffassung, dass jede Stimme für die DKP dem Protest gegen die herrschende Politik Ausdruck geben kann und den Widerstand gegen den Frontalangriff des Monopolkapitals auf unser Leben ermutigt."

Zur Ermutigung gibt es  - wenn auch völlig unsubstantiiert - eine Reihe gutgemeinter Einzelforderungen, die sich so oder ein wenig anders auch in der sozialdemokratischen Partei DIE LINKE wiederfinden lassen. Die zentralen Begriffe kommunistischer Politik gegen das Lohnsystem - nämlich: Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Abschaffung der Lohnarbeit - suchen Leser*innen dagegen vergeblich. Mit diesem Programm wird es für die DKP Berlin künftig weder ein "Mitspielen" in den Parlamenten noch ein "Aufmischen" geben.

Der matte Glanz der Erkenntnisse, der von den theoretischen Bemühungen Trotzkis der 1920er und 1930er Jahre heute abstrahlt, taugt nur zu gegenseitigen Abgrenzungen im unüberschaubaren Lager trotzkistischer Minigruppen, aber leider nicht zu handlungsträchtigen Realanalysen.

Für die entristischen Variante des Trotzkismus, also für die Sozialistische Alternative voran (SAV), ist dies auch gar nicht nötig. Sie ist als oppositionelle Parteiströmung in der sozialdemokratischen Partei DIE LINKE - so wie vormals in der SPD - gut untergebracht. Denn gerade zu Wahlzeiten kann die SAV prima die rechte Parteimehrheit von links überholen. Dafür legt sie exklusiv in diesem Jahr "ein Programm für sozialistische Politik für Berlin vor". Mit dem will sie

"im Wahlkampf mithelfen, den Forderungen der Beschäftigten an der Charité, bei Vivantes und den jeweiligen Tochtergesellschaften Gehör zu verschaffen, Mietsteigerungen zu bekämpfen und Widerstand gegen Verdrängung und anderem bekannt zu machen."

Im politischen Verständnis der Arbeiter*innen, das in den Analysen und Theorien von Marx und Engels gründet, galt bisher ein sozialistische Programm als eines, das aus der Analyse des Kapitalismus abgeleitet und durch die verallgemeinerten Klassenkampferfahrungen konkretisiert, die Aufhebung des Kapitalismus zum Ziel hat - kurzum: Es war ein Programm des wissenschaftlichen Sozialismus.

"Diese weltbefreiende Tat (gemeint ist die "Proletarische Revolution" - kamue) durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus."(MEW 19/228)

Was die SAV dagegen unter sozialistischer Politik versteht, ist nichts weiter als eine an aktuellen Meinungen und Interessenlagen ausgerichtete Klientelpolitik, die die Geschäftbedingungen und Grundlagen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft  sowie die sozialdemokratischen Leitplanken der Linkspartei als Handlungsrahmen anerkennt. Eventuelle Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen einzelner Betroffenengruppen werden schlankweg als allgemeine Verbesserungen angepriesen.

Als organisatorisch selbständig agierende trotzkistische Partei ist die Partei der sozialen Gleichheit (PSG) allerdings nicht an sozialdemokratische Leitplanken  gebunden. Das zeigt sich z.B. deutlich, wenn sie die politische Praxis der DGB-Gewerkschaften zutreffend kritisiert. Siehe dazu in dieser Ausgabe: Streikbewegung in deutschen Kliniken.

Das zentrale Manko der PSG ist mit den Theoriedefiziten der DKP vergleichbar. Auch sie kann sich die weltweiten Widersprüche nur mit den Imperialismustheorien der II. und III. Internationale erklären. Und wo dies nicht greift bzw. greifen kann, da tritt an die Stelle der Realanalyse die Behauptung. Nämlich, dass es sich bei den jetzigen und zukünftigen Kriegen um Verschwörungen handeln würde.  Angesichts dieser desaströsen Lage, wo alle bürgerlichen und Mittelschichtparteien an den "Kriegsverschwörungen" mitarbeiten, "brauchen Arbeiter ihre eigene Partei". Und die gibt es bereits. So dient der Wahlkampf dem Parteiaufbau der PSG und der letzte Satz im PSG-Wahlaufruf lautet folgerichtig - an die Adresse von Arbeiter*innen gerichtet: "Das ist eure Kampagne! Steigt heute noch ein!"

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Fortwährend im Dämmerlicht der selbstverschuldeten Theoriedefizite "auf der Höhe der Zeit" agieren zu wollen, gleicht einem Sisyphos -Projekt. Wäre es da nicht angebrachter jene Dämmerung zum Programm zu erheben? Die Gruppe "Assoziation Dämmerung" war so mutig.

Ursprünglich als Tierrechtsexpert*innen gestartet, entdeckten sie die "Herrschafts des Kapitals" als Ursache des weltweiten flegelhaften Umgangs mit der belebten Natur. Die Kritische Theorie und zuvorderst ihr Chefideologe Horkheimer erwiesen sich mit ihrem "Marxismus ohne Klassen" als anschlussfähig für eine lebensweltliche antikapitalistische Praxis in Stadt, Feld und Flur.

Wie Prekäre und untere Schichten der proletarischen Klasse, die sich durch preiswertes Essen, d.h. fleischhaltig, fettig, und ungesund, ernähren müssen, für dieses Programm gewonnen werden können, dies sollten die Gruppe ruhig mal zur Diskussion stellen. Stattdessen erhielten wir  den Text Hoch die »antinationale« Solidarität? mit der Bitte um eine Zweitveröffentlichung. Wir kommen diesem Anliegen schon deshalb nach, weil es sich bei ihrem Text anschaulich um ein nicht nachahmenswertes Beispiel handelt.

Denn auch hier befindet sich Theorie - d.h. die Kritische Theorie - im Dämmerzustand; die Autor*innen nennen es "Erosion", wofür sie die Antideutschen verantwortlich machen. Am schlimmsten seien jedoch die "Postantideutschen" - heißt es bei ihnen. Sie schmeißen nicht nur eine Torte auf Sahra Wagenknecht, sondern haben auch etwas gegen die neoimperialistische Politik des Putin-Regimes. Im Spektrum des Umsganze-Bündnisses wird deren ideologisches Hauptquartier verortet. Dies zu entlarven, beanspruchen die Autor*innen. Als Methode dient ihnen - ganz im Geiste einer genuin Kritischen Theorie - die Ideologiekritik. Und die ist nicht etwa dialektisch-materalistisch (wie sollte sie auch?), sondern "kommunistisch". Dafür denken sie sich einen passenden Begriff: den "plebejischen Volksbegriff". Doch wodurch wird ihre Ideologiekritik "kommunistisch" - ganz einfach: Der "plebejischen Volksbegriff" wurde angeblich immer "in der kommunistischen Bewegung" verwendet. Weder wird der Begriffsinhalt erläutert, noch erfahren die geneigten Leser*innen, welche kommunistischen Bewegung gemeint ist.

Abgeleitet vom Substantiv "Plebs = lat. Volk" bedeutet das Adjektiv schlicht "völkisch". Mit diesem tautologischen Ergebnis brechen wir ab und überlassen es unserer Leser*innenschaft, ob sie diesen Text diskutieren wollen - wie die Autor*innen es in ihrer Email an uns wünschten.

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Im Frühjahr 2016 - nach knapp fünf Jahren - entschwand die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) aus dem linken Spektrum, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Ihre Protagonist*innen zogen sich in ihre trotzkistischen Organisation und Projekte zurück, die schon zuvor bestanden hatten und nicht zu gunsten der NaO aufgelöst worden waren. Erstaunlicherweise zeigte sich jedoch mit Beginn des 2. Halbjahres 2016 ein zögerlich zunehmendes Interesse an einer Aufarbeitung des Scheiterns der NaO (siehe dazu TREND 5/2016. TREND 7/2016, TREND 8/2016 und in dieser Ausgabe: Aus der NaO-/NAO-Wirklichkeit lernen!).

Karl-Heinz Schubert traf sich daraufhin im letzten Monat mit Michael Prütz und Detlef Georgia Schulze, um mit ihnen einen öffentlichen Disput über die Gründe des Scheiterns der NaO in einer Veranstaltung zu vereinbaren. Eine Bedingung für die inhaltliche Gestaltung dieser Veranstaltung gab er vor: Erst Selbstkritik, dann Kritik. Beide stimmten zu. Zusammen bosseln sie nun am "Roten Faden" der Veranstaltung, die Ende Oktober / Anfang November 2016 stattfinden soll.

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Wegen der regen Nachfrage wird die Veranstaltung
Wie der Maoismus nach Westberlin kam

am 17. Oktober 2016 um 19.30 Uhr
im
Stadtteil- & Infoladen LUNTE
Weisestr. 53, 12049 Berlin
wiederholt

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Nach der Umstellung der statistischen Auswertungen unserer Domain zum Beginn des Jahres haben wir noch keine Alternative dazu für eine differenzierte Auswertung gefunden, die nichts kostet. Um unsere Leser*innen hier auf dem Laufenden zu halten, geben wir die Daten vom 30.8.2016 von http://www.alexa.com/  als Screenshots wieder.

ACHTUNG
Im September 2016 wird es aus Urlaubsgründen keine Aktualisierungen in der TREND Onlinezeitung geben.