Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Der Front National profitiert von der hysterisch geführten Migrationsdebatte

09/2015

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Obwohl Chaos – oder viel eher der Anschein von Chaos – in der Partei herrscht: In einem Punkt sind alle Strömungen, Clans und Cliquen sich einig. Darüber nämlich, dass der Front National (FN) sich nach Kräften in die derzeit auf allen Kanälen laufende Debatte um Migrationspolitik und die EU-weit ausgerufene „Flüchtlingskrise“ einmischen müsse. Und dass er sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften gegen den „Tsunami“ (Marine Le Pen), gegen den Ansturm der „Barbaren“ (so wiederum Parteichefin Marine Le Pen am Abend des 14. und erneut am frühen Vormittag des 15. September 15(1) zu stellen und jeglicher Neuzuwanderung von Migranten zu widersetzen habe.

Allem Anschein nach, und das ist das Schlimmste daran, werden seine Positionen auch durch einen relevanten Teil der öffentlichen Meinung honoriert. Zwar haben Umfragen stets nur einen relativen Aussagewert, denn es kommt bekanntlich immer stark darauf, wie die Frage genau gestellt worden ist. Dennoch drücken Umfrageergebnisse eine Tendenz, eine existierende Strömung innerhalb von Gesellschaften aus.

Sofern das Resultat einer Umfrage, das das Institut OpinionWays (im Auftrag der Gratistageszeitung ,Metro News’ und des TV-Senders LCI) am Abend des Montag, 14.09.2015 vorstellte (2), auch nur näherungsweise zutrifft, muss es als höchst bedenklich gelten. Demnach erklären sich 51 % der Befragten „einverstanden“ mit dem Front National, weil dieser damit Recht habe, „eine unnachgiebige Position“ im Umgang mit den Neuzuwanderern „zu verteidigen“. Hingegen würfen ihm 48 % der Befragten einen „Mangel an Humanität/Menschlichkeit“ vor.

Derselben Umfrage zufolge unterstützen weniger als ein Drittel der Befragten – 32 Prozent – die aktuelle Regierungsposition, die darauf hinausläuft, eine Verteilung von Migranten im Zusammenhang mit der aktuellen „Flüchtlingskrise“ nach Quoten über die EU-Länder zu akzeptieren. Umgekehrt erklären sich demnach 66 % mit der Regierungsposition zum Thema „unzufrieden“, ohne dass die Gründe für diese Unzufriedenheit in der Umfrage näher benannt oder spezifiziert würden – so dass es gut sein kann, dass aller möglicher, aus anderen Ursachen resultierender Unmut gegenüber der Regierung, etwa auch ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik, sich genau an der Stelle „entlädt“. - Angela Merkel und François Hollande schlugen eine solche Quotenregelung zur Flüchtlingsverteilung anlässlich des EU-Sondergipfels vom Montag, den 14. September 15 vor, konnten sich jedoch mit einer solchen Position nicht durchsetzen. (Insbesondere mehrer ost- oder mittelosteuropäische Mitgliedsstaaten widersetzten sich diesem Vorschlag teilweise heftig. Aus ihrer – regierungsoffiziellen - Sicht kommt es vor allem darauf an, die „christlichen Wurzeln Europas“ zu wahren und zu verteidigen, nachdem diese nach den Jahrzehnten sowjetischer Präsenz endlich wieder ausgegraben worden seien.) Die französische Regierungsposition ihrerseits lief darauf hinaus, im Zeitraum von zwei Jahren insgesamt 200.000 Geflüchtete, die in den EU-Mittelmeerländern anstrandeten, auf die ganze EU zu verteilen, wobei Frankreich ,großzügigerweise’ 30.750 Asylsuchende übernehmen würde. Bislang sind die Flüchtlingszahlen in Frankreich, etwa im Vergleich zur BRD, lächerlich gering. Im laufenden Jahr, das bereits als Rekordjahr gilt, wird mit 65.000 Asylanträgen in ganz Frankreich gerechnet – während die deutsche Bundesregierung die Zahl von 800.000 in ihrem Land aufgebracht hat.

Während in diesem Spätsommer 2015 die deutsche öffentliche Meinung in Sachen Umgang mit den Migranten und Flüchtlingen zeitweilig sehr gespalten schien, reagierte die französische Öffentlichkeit (sofern sie in den Medien Ausdruck findet) eher mit deutlichen Abschottungswünschen. Am Ausgang des Monats August und zu Anfang September, als die „Flüchtlingskrise“ auf ihre ersten Höhepunkte zusteuerte, erklärten sich – je nach Umfrage – 55, 56 oder 57 % gegen die Aufnahme zusätzlicher Geflüchteter(3). Erst die eher emotional motivierten Reaktionen relativ breiter Kreise auf die Fotos des toten Dreijährigen Aylan Kurdi (oder, wie man inzwischen weiß, mit „richtigem“ Namen Aylan Shenu) ließen einen Teil der Öffentlichkeit umschwenken. Nunmehr sprach sich eine knappe Mehrheit von 53 % in Umfragen zeitweilig für die Aufnahme von weiteren Geflüchteten auf.

Wer war Aylan Kurdi? Die Leiche des dreijährigen Kindes war von türkischen Sicherheitskräften bzw. Helfern am Strand von Bodrum gefunden worden, nachdem ein Boot mit syrischen Flüchtlingen an Bord bei der Überfahrt auf die kaum zehn Kilometer entfernte griechische Insel Kos gekentert war. In ganz Europa rief die Veröffentlichung des Bildes am 03. September 15 in breiten Kreisen Gefühlsäußerungen und Debatten hervor. Das rechtsextreme Presseimperium in französischer Sprache im Internet (mit seinen zahlreichen Onlinemedien: ,François de souche’, ,Riposte Laïque’, NDF.fr, ,Médias presse info’, NOVOPRESS...) wird seitdem nicht müde, sich an dem Foto und seiner Wirkung abzuarbeiten. Alle möglichen und unmöglichen Details an dem Bild wurden herausgearbeitet, angeblich unterdrückte Informationen hervorgeholt: Der Vater des Kindes sei ein „Schlepper“ gewesen, statt Flucht aus dem Bürgerkrieg in Syrien/Kurdistan habe ihn lediglich der Wunsch nach einer kostenlosen Zahnbehandlung in Westeuropa motiviert. Und auf dem Originalfoto im Hintergrund sehe man – neben dem im Vordergrund stehenden Rettungskräften und dem toten Kind – teilnahmslos wirkende türkische Angler, eine angeblich wichtige Information, die durch die bösen Medien unterdrückt worden sei. Nicht zu vergessen: Das Foto sei manipuliert, denn ein mal sehe man Sand-, ein anderes Mal hingegen Felsstrand auf den veröffentlichten Bildern; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Aufnahmen von verschiedenen Stellen, nämlich den Fundorten zweier toter Geschwister im Alter von drei und fünf Jahren.

Ein weiteres Argument brachte die brachial-rassistische Webseite ,Riposte Laïque’ (ungefähr: Gegenwehr der Anhänger des Laizismus) auf: Im Islam praktiziere man „die Versklavung von Frauen und Kindern“; deswegen dürfe man sich manipulieren lassen, wenn ebendiese bösen Muslime nun das Bild eines (toten) Kindes für ihre Zwecke instrumentalisierten, da sie ohnehin keinen Wert auf ein solches Leben legten. Und Marine Le Pen, aber auch ihr innerparteilicher Widersacher Bruno Gollnisch – beide sitzen im Europaparlament , wobei Gollnisch nicht länger der gemeinsamen Fraktion angehört, weil er zum Altchef Jean-Marie Le Pen hält – kamen ihrerseits auf ein weiteres stechendes „Argument“: Alle (jedenfalls männlichen) syrischen Migranten und Geflüchteten seien doch in Wirklichkeit „Deserteure“, und Feiglinge, die sich nur der Verteidigung ihres Landes gegen die es bedrohenden Barbaren entzögen. Denn sie lehnten es ja ab, gegen den Überfall des so genannten „Islamischen Staates“ (IS) auf ihr Land zu kämpfen. Was natürlich unterschlägt, dass die Masse der syrischen Bevölkerung eingekeilt ist zwischen einem üblen Folterregime einerseits, und den von ihm 2011/12 als Wunschgegner erst richtig aufgebauten Jihadisten andererseits – das Argumentationsmuster der beiden FN-Politiker(/in) funktioniert nur dann, wenn man annimmt, man könnte im Dienst des Folterregimes von Al-Assad Dienst tun, um den IS zu bekämpfen. Was aus sehr guten Gründen für das Gros der syrischen Bevölkerung keine vernünftige Option bildet. Doch der Front National unterstützt auch anderweitig das amtierende Folterregime als „legitime syrische Regierung“, und begrüßt dessen aktive Unterstützung durch das Russland unter Machthaber Wladimir Putin, einen anderen politischen Freund der FN-Führung.

FN-Chefin Marine Le Pen rief in ihrer Rede zum Abschluss der FN-Sommeruniversität in Marseille am Sonntag, den 06. September 15 bezüglich des Fotos vom toten Aylan Kurdi aus: „Ich habe nicht geweint (deswegen).“ Denn man dürfe sich durch die angeblich geschürte emotionale Kampagne nicht „das Denken verbieten lassen“, und keiner Erpressung mit Gefühlen nachgeben. Bei demselben Anlass rief sie, in pathetischer Pose auftretend, aus: „In einigen Bereichen ist man besser dran, wenn man illegaler Immigrant ist, denn als Franzose in Frankreich!“ Sogar der konservativ-wirtschatsliberale Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy (Chef der Partei Les Républicains/LR, ehemals UMP) kritisierte daraufhin in einer öffentlichen Stellungnahme die „Brutalität“ von Marine Le Pen in ihren Auslassungen. Zwar ist auch Sarkozy nicht gerade als edles Gemüt im Umgang mit Migranten, jedenfalls im politischen Diskurs, bekannt – im Juni 2015 verglich in einer berüchtigten Metapher den Zustrom von Migrant/inn/en mit dem „Bruch einer Abwasserleitung“, den man dringlich stopfen müsse -, doch dies ist ein Indiz dafür, mit welcher brachialen Wortgewalt Marine Le Pen derzeit dem Publikum ihre Botschaften einhämmert.

Würger-, ähm: Bürgermeister in der ersten Reihe

In diesen Chor reihte sich auch der formal parteilose, jedoch mit FN-Unterstützung ins Amt gewählte rechtsextreme Bürgermeister von Béziers, Robert Ménard. Der frühere Linke und langjährige Vorsitzende von ,Reporters sans frontières’ (RSF, „Reporter ohne Grenzen“) warf der Nachrichtenagentur AFP, die das Foto an französische Medien übermittelt hatte, aus den genannten Gründen „Bildmanipulation“ und „Propaganda“ vor. Am Montag, den 14. September wurde bekannt, die Agentur erwäge daraufhin nun eine Strafanzeige gegen das rechtsextreme Stadtoberhaupt.

Mehrere der rechtsextremen Bürgermeister – insgesamt fünfzehn Rathäuser werden seit März 2014 von Neofaschisten (vom FN sowie der Regionalpartei ,Ligue du Sud’ regiert) stehen unterdessen auch in vorderster Front, um gegen den „Flüchtlingszustrom“ und Aufnahmewünsche zu agieren und agitieren. In „seiner“ Stadt, im südfranzösischen Béziers, begab Robert Ménard sich höchstpersönlich – umgeben von Kameras und Mikrophonen – zu einer syrischen Geflüchtetenfamilie und erklärte ihr wörtlich ins Gesicht: „Sie sind nicht willkommen!“(4) Und er kündigte öffentlich seinen Vorsatz an, syrische Flüchtlingskinder nicht in öffentliche Schulen seiner Stadt aufzunehmen, was natürlich einen glatten und absoluten Gesetzesbruch darstellen würde. Ménard antwortete daraufhin wiederum, es sei besser und ehrbarer, wegen gesetzeswidriger Diskriminierung (in seinem Munde ‚Bevorzugung und Schutz der eigenen Landsleute’) verurteilt zu werden, „als wegen Korruption“ wie viele etablierte Politiker. Der Bürgermeister von Beaucaire mit FN-Parteibuch, Julien Sanchez, seinerseits begab sich auf eine Zusammenkunft von Bürgermeistern, bei welcher diese, auf freiwilliger Basis, über die Aufnahme von Geflüchteten diskutierten. 500 bis 600 Kommunen in Frankreich erklärten sich bislang aus freien Stücken zur Aufnahme von neuankommenden Flüchtlingen bereit. Sanchez war jedoch gekommen, um zu agitieren und die, wie er es erwartungsgemäß darstellte, Komplizen der Invasion“ anzuprangern. Der Regionalpräfekt – also der juristische Vertreter des französischen Zentralstaats in der Region – versuchte daraufhin, ihm sein Redemanuskript aus der Hand zu entwinden. Die Nachricht von der verbalen Konfrontation und der kleinen Rangelei wurde in triumphalem Tonfall durch alle möglichen rechtsextremen Medien durchgereicht, Störenfried Sanchez wurde als Widerständler gegen die Invasoren und ihre politischen Freunde gefeiert.

Aber nicht nur rechtsextreme, auch andere Bürgermeister ergriffen beschämende Positionen im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten. Mehrere konservative Stadtoberhäupter aus den Reihen der Partei Les Républicains – der früheren UMP -, wie im bretonischen Roanne erklärten etwa, aus Syrien und dem ’Iraq (eingedeutscht Irak) nähmen sie „ausschließlich geflohene Christen“ aufzunehmen. Denn diese schnitten, wie der Bürgermeister von Charvieu-Chavagneux (Raum Grenoble) am 08. September 15 unter Verweis auf Gräueltaten des so genannten „Islamischen Staates“ sekundierte, immerhin „keine Hälse (/ Kehlen) durch“. Nach Religionszugehörigkeit von Individuen zu diskriminieren, ist zwar schlicht illegal, doch die aufgezählten Beispiele machten in der Folge unter einigen Bürgermeistern Schule, die ähnlich gelautete Erklärungen abgaben.

Zum innerparteilichen Salat beim FN

Der große Clash blieb schlussendlich aus. Noch kurz vor Mittag am zweiten Tag der „Sommeruniversität“ des französischen Front National (FN), die am 05. und 06. September 15 in Marseille stattfand, sah es aus, als könne es alsbald „scheppern“. Einige dem früheren Parteivorsitzenden Jean-Marie Le Pen („JMLP“), den der FN am 20. August des Jahres ausschloss, treu gebliebene Anhänger kündigten gegenüber der Medienöffentlichkeit an, sie würden den gewaltsamen Durchbruch auf das Gelände starten, falls der Alte nur dazu aufrufe. Beinahe wäre es am Sonntag, den 06. September dazu auch gekommen.

Unter die neofaschistischen Aktivisten hatten sich dabei, neben solchen des FN, aber auch Anhänger des PdF (,Parti de la France’, also „Partei Frankreichs“) von Carl Lang gemischt. Bei ihm handelt sich um eine Splitterpartei, die im Februar 2009 vom vormaligen FN-Parteifunktionär Carl Lang – welcher im Herbst 2005 aus dem Amt als Generalsekretär des FN gedrängt worden war, u.a. weil er sich innerparteilich dem damaligen Aufstieg von „Cheftochter“ Marine Le Pen widersetzte – gegründet wurde. Der PdF enthält auch offen antisemitische und quasi neonazistische Kräfte wie Thomas Joly, einen knapp Vierzigjährigen, der als Generalsekretär amtiert.

Derzeit nutzt der PdF die Gunst der Stunde, um den ideologischen „Verrat“ und die „programmatische Aufweichung“ der amtierenden Parteiführung des FN anzuprangern und den Wiederaufbau der „nationalen Rechten“ ohne und jenseits von Marine Le Pen zu propagieren, um dabei auch bisherige Parteigänger des FN zu sich herüberzuziehen. Es zeichnet sich ab, dass enttäuschte FN-Anhänger vom JMLP-treuen Flügel in manchen französischen Regionen zusammen mit solchen des PdF auf einer „Dissidenten“-Liste zu den Regionalparlamentswahlen kandidieren könnten, die am 06. und 13. Dezember 15 in ganz Frankreich stattfinden werden. Zwar dürfte es in manchen Regionen eher bei der reinen Ankündigung bleiben; es wird jedoch damit gerechnet, dass besonders in Ostfrankreich (in der künftigen Großregion, welche soeben aus den bisherigen Regionen Elsass, Lothringen sowie Champagne-Ardenne gebastelt worden ist) eine solche Liste tatsächlich antritt, um den dort als Spitzenkandidat firmierenden FN-Vizepräsidenten Florian Philippot zu piesacken. Und um ihm Stimmen abzunehmen, natürlich. Auch in Nordostfrankreich, wo Marine Le Pen als Spitzenkandidatin in der künftigen Superregion Nord-Pas de Calais plus Picardie auftritt, könnte es dazu kommen. Unwahrscheinlich ist hingegen das Antreten einer konkurrierenden rechtsextremen Liste gegen den FN in Südostfrankreich, obwohl dort „JMLP“ als verhinderter Spitzenkandidat für die Region PACA (Provence, Alpen, Côte d’Azur) am Antreten für den FN gehindert wurde – Jean-Marie Le Pen dürfte jedoch auf seine Enkelin Marion-Maréchal Le Pen Rücksicht nehmen, die nunmehr die Liste anführt.

Im Vorfeld der diesjährigen „Sommeruniversität“ seiner früheren Partei war Jean-Marie Le Pen, weil formal nicht mehr FN-Mitglied, bei der Veranstaltung in der Mittelmeerstadt zur unerwünschten Person erklärt worden. Doch am Samstag, den 05. September, parallel zur Eröffnung der Zusammenkunft seiner Ex-Parteifreunde, trommelte Jean-Marie Le Pen unweit vom Tagungsort seine eigenen Getreuen um die Mittagszeit in einem Restaurant zusammen.

Deswegen war sogar der paramilitärische, offizielle Ordnerdienst der Partei – das DPS (Département Protection – Sécurité, also „Abteilung Schutz und Sicherheit“) seiner Aufgaben entbunden worden, zugunsten einer privaten Securityfirma, die freilich durch den seit seinen Studententagen bekannten Rechtsextremen Frédéric Chatillon geleitet wird. War doch der parteieigene Ordnerdienst jahrelang auf den alten Boss der französischen extremen Rechten eingeschworen worden, also Jean-Marie Le Pen, der den FN von seiner Gründung im Oktober 1972 bis im Januar 2011 geleitet hatte. Danach hatte er den Parteivorsitz an seine heute 47jährige Tochter Marine Le Pen abgegeben, glaubte jedoch, aus den Kulissen heraus nach wie vor die politische Kontrolle behalten zu können. Worin er sich, auf Dauer jedenfalls, getäuscht hatte.

Auch wenn „JMLP“, wie Freund & Feind ihn allgemein nennen, nun auf den Versuch eines mit körperlicher Gewalt durchgesetzten Eindringens verzichtet hat: Er wird nicht klein beigeben. In Marseille kündigte er die Gründung einer eigenen politischen Formation unter dem Titel Rassemblement Bleu-blanc-rouge („Blau-weiß-rote Sammlung“, benannt nach den Nationalfarben der Trikolore) an, die jedoch innerhalb des FN parteiintern agieren können soll – die amtierende Parteiführung reagierte eher ablehnend denn mit Begeisterung auf diese Vorstellung.

Darüber hinaus will der inzwischen 87jährige nicht nur politisch und kampagnenmäßig, sondern auch juristisch gegen seinen nunmehr Parteiausschluss vorgehen. Bereits einmal hat er sich erfolgreich wieder in die Reihen der von ihm mit gegründeten „Bewegung“ hineingeklagt. Am 04. Mai d.J. war er von seinen Mitgliedsrechten „suspendiert“, also mit einem vorübergehenden Ausschluss belegt worden. Voraus ging der Streit um zwei Interviews mit ihm, die in der ersten und zweiten Aprilwoche erschienen waren. Darin hatte er erneut, wie mehrfach seit 1987, den Holocaust relativiert und so offen wie noch nie den Marschall Pétain, den Chef des mit NS-Deutschland zusammenarbeitenden Kollaborateursregimes von 1940 bis 44, in Schutz genommen. Der jüngeren Führungsgeneration gilt dies alles als heutzutage kontraproduktiv, man möchte sich lieber auf „zeitgemäße“ Agitation gegen Einwanderer und insbesondere gegen eine „muslimische Bedrohung“ konzentrieren.

Zugleich plante die Parteiführung, mittels einer Urabstimmung der Parteimitglieder den Posten des „Ehrenvorsitzenden“, der eigens für Jean-Marie Le Pen geschaffen worden war, wieder abzuschaffen. Doch dann funkte die durch „JMLP“ eingeschaltete Justiz dazwischen. Am 02. und 08. Juli sprach sie mehrere erstinstanzliche Entscheidungen zu seinen Gunsten, am 28. Juli erfolgte ihre Bestätigung im Berufungsverfahren. Jean-Marie Le Pen konnte demnach nicht auf Zeit ausgeschlossen werden, da der Zeitraum nicht befristet worden war, und auch der Ehrenvorsitz konnte nicht – wie geplant – auf dem Wege einer Urabstimmung per Brief oder e-Mail abgeschafft werden; stattdessen müsse satzungsgemäß ein Parteitag dafür einberufen werden. Jean-Marie Le Pen triumphierte und fuhr munter mit offenen Attacken gegen die aktuelle Parteispitze fort. Letztere richteten sich in besonders aggressiver Weise gegen den 33jährigen Vizevorsitzenden Florian Philippot, den er unter anderem aufgrund seiner (inzwischen auch in der Öffentlichkeit bekannten) Homosexualität gezielt angriff. Aber auch Bemühungen seiner Nachfolgerin Marine Le Pen, das Abschwören ihrer Partei vom offenen Antisemitismus demonstrativ zur Schau zu stellen., griff Jean-Marie Le Pen in Presseaussendungen und Videobotschaften systematisch an und auf.

1 Bei einem Rundfunktinterview am frühen Morgen des 15. September 15 wurde Marine Le Pen durch den Jouralisten Patrick Cohen kritisch befragt und auf ihren Ausspruch vom Vortag angesprochen. Dabei präzisierte die Chefin des FN – die sich zugleich über einen „politisch voreingenommenen“ Fragesteller beschwerte -, sie habe „nicht von Barbaren“ gesprochen, sondern von „den Invasionen im fünften Jahrhundert“ (christlicher Zeitrechnung), also denen im Zusammenhang mit der so genannten Völkerwanderung. Aus Sicht des damals untergehenden (West)Römischen Imperiums handelte es sich dabei aber just um die so genannten Barbarenstürme...

4 Vgl., unter zahlreichen Quellen, bspw. http://www.lemonde.fr/p

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Bericht vom Autor für diese Ausgabe.