Vorbemerkung:
Der 1974 erschienene Aufsatz hat nichts an seiner Aktualität
eingebüßt, mögen sich auch die konkreten Klassen- und
Kapitalverwertungstrukturen in ihren Erscheinungen immens
verändert habe. Allein die Tatsache, dass heute für linke
Realpolitik - wie der aktuelle Stand des Mientenvolksentscheids in
Berlin anzeigt - die Bodenfrage und damit die Bodenrente keiner
Erörterung - geschweige denn staatlicher Regulierung - mehr wert sind, zeigt
an, wie eminent wichtig es ist, die Bodenfrage aus marxistischer
Sicht wieder auf die (linke) Agenda zu setzen. /red. trend
++++++++++++
In den Ländern des Gemeinsamen Marktes
ist ein ungewöhnliches Anwachsen der Bodenrente, besonders der
städtischen, zu beobachten. Das zieht unweigerlich solche Folgen
nach sich, wie jähes Ansteigen der Grundstückspreise, Wohnungskrise
und Krise des Städtebaus, und gleichzeitig eine Vergrößerung der
ohnehin riesigen Investitionen der größten Gruppierungen des
Finanzkapitals in die Bauwirtschaft.
Wir reden ohne Zweifel von keiner neuen
Erscheinung: Sie ist natürlich für den Prozeß der kapitalistischen
Produktion selbst, für ein System, in dem das Privateigentum an
Grund und Boden herrscht. Um sich davon zu überzeugen, braucht man
nur an die Welle von Spekulationen zu erinnern, die um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts in Paris während der gewaltigen Arbeiten des
Präfekten Haussmann zur „Umgestaltung" der französischen Hauptstadt
hochschlug, oder von neuem im „Kapital" nachzublättern, was auf dem
Baumarkt Londons in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts geschah.
Liest man noch einmal diese Seiten, so glaubt man es mit Ereignissen
zu tun zu haben, die sich heute vor unseren Augen abspielen.
Von der außerordentlichen Bedeutung der
Frage der städtischen Rente zeugt allein schon die Tatsache, daß
verschiedene politische Kräfte Europas (kommunistische Parteien und
marxistische Forschungsgruppen, die Labour Party Großbritanniens
und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands) ihr in der jüngsten
Zeit besondere Aufmerksamkeit widmen.
Auf den Konferenzen der Labouristen
steht dieses Problem schon seit zwei Jahren im Vordergrund. Im Jahre
1972 machte es Parteiführer H.Wilson zum zentralen Thema seines
Referats. Unter Hinweis darauf, daß die Immobilien zu den
Hauptobjekten der Verstaatlichung gehören, schlug er die Schaffung
eines staatlichen Organs vor, das die Baugrundstücke in den Städten
sowie die großen Immobilien- und Baukreditgesellschaften unter die
Kontrolle nehmen würde. Die schwierige Lage im Bauwesen stand im
Mittelpunkt der jüngsten Kampagne zu den Wahlen in den Rat von
Groß-London, als deren Ergebnis die städtischen Machtorgane nach
einer fünfjährigen Übermacht der Konservativen in die Hände der
Labouristen und der Linkskräfte übergingen. Auf dem letzten Parteitag
der SPD im Jahre 1973 wurde eigens die Frage der Ausarbeitung einer
„neuen Baulandordnung" erörtert.
Das Marxistische Forschungszentrum in
Paris veranstaltete im Mai 1973 ein diesen Problemen gewidmetes
Symposium „Die monopolistische und die demokratische Urbanistik";
die besondere Aufmerksamkeit galt der französischen Hauptstadt. In
Italien erörtern die demokratischen Kräfte praktisch schon seit 20
Jahren die für die Einschränkung der Rente erforderlichen Maßnahmen
und die zweckmäßigsten rechtlichen Normen für die Nutzung städtischer
Grundstücke. Nach dem Sturz der rechtszentri-stischen Regierung ist
diese Diskussion mit neuer Kraft aufgeflammt.
Hier einige Fakten, die eine
Vorstellung von den Maßstäben dieses Problems in den Ländern des
Gemeinsamen Marktes vermitteln. In den letzten zwei Jahren, so heißt
es in dem von den Labouristen im Jahre 1973 angenommenen „Programm
für Großbritannien", hat die Preissteigerung bei Grundstücken
astronomische Höhen erreicht. Nach offiziellen Angaben sind diese
Preise allein im Jahre 1972 im Landesdurchschnitt um 60 Prozent
angestiegen. In London hat sich der durchschnittliche Preis für
Grundstücke im 20-Meilen-Umkreis vom Zentrum, der in den Jahren
1969—1970 etwa 40 000 Pfund Sterling je Acre betrug, im Jahre 1971
bis auf 69 540 Pfund Sterling erhöht und sich im Jahre 1972 mit
121000 Pfund Sterling je Acre verdreifacht. Demnach ist der Preis
für einen Acre Boden im Durchschnitt um 250 Pfund Sterling
wöchentlich gestiegen. Im Jahre 1971 machte der Wert eines
Grundstücks etwa ein Drittel des Preises eines neuen Hauses aus, und
in den zentralen Bezirken der Hauptstadt wurde unlängst ein
Grundstück von drei Viertel Acre für 1 Mill. Pfund Sterling verkauft.
In Frankreich, so wird in einem Artikel
der marxistischen Zeitschrift „Economie Politik et
Politique" vom Januar 1972 unterstrichen, sind die Bodenpreise auf
dem Lande innerhalb von 19 Jahren — von 1950 bis 1969 — im
Durchschnitt auf das 6,5fache angestiegen: von 1100 auf 7500 Franc je
Hektar. In Anbetracht der Entwertung des Geldes in dieser Periode
haben sich diese Preise faktisch auf das 2,6fache erhöht. Aber in der
gleichen Periode sind die Grundstückspreise in den Städten und vor
allem in der Hauptstadt wesentlich stärker angewachsen.(1) Will man
die Vorgänge richtig einschätzen, muß man berücksichtigen, daß in
Frankreich in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu den anderen
europäischen Staaten außerordentlich niedrige Grundstückspreise
erhalten blieben. Die Zeitung „Le Monde" vom 11. September 1973 führt
folgende Zahlen an: Im Jahre 1970 kostete ein Hektar Boden in
ländlichen Gegenden in Frankreich 8000 Franc gegenüber 13 200 Franc
in den Niederlanden, 19 800 in Belgien und 39 000 in Westdeutschland.
In Italien gehen nach
den jüngsten Berechnungen etwa 1000 Md. Lire, d. h. ein Viertel der
gesamten Investitionen, in die Bauwirtschaft, einschließlich des
Preises für Grundstücke, alljährlich in die Rente über, während der
Wert des für die Bebauung tauglichen Bodens eine Summe ausmacht, die
dem halben Bruttonationaleinkommen des Landes entspricht.(2) Aber die
Besonderheit Italiens besteht darin, daß hier die Rente stets die
exklusive Rolle als eine ökonomische Kategorie beibehielt, die noch
in beträchtlichem Maße mit der Gestalt des abwesenden Bodenbesitzers
verbunden ist. Das war bedingt durch die Spezifik des Übergangs zur
Industrierevolution in Italien, dadurch, daß dieser Prozeß hier
später als in den anderen Ländern des kapitalistischen Europas
einsetzte und infolge des Bündnisses der mächtigsten Gruppierungen
des Industriekapitals mit den Latifundienbesitzern im Süden Italiens
durch Kompromissf. gekennzeichnet war. In den anderen
kapitalistischen Ländern Europas hingegen wird die starke Erhöhung
der Rente erst jetzt und vor allem infolge einer direkten
Einmischung des Finanzkapitals beobachtet. (Übrigens spielen die
Finanzgruppierungen im heutigen Italien ebenfalls eine dominierende
Rolle in dem untersuchten Prozeß.)
Welches sind die
Ursachen für die Erhöhung der Rente? Gewisse Bedeutung haben
natürlich politische Gründe. In fast allen Ländern, von denen die
Rede ist, waren die letzten Jahre eine Periode
innerpolitischen
Rückschritts, der unweigerlich von einer „Liberalisierung" des
Wohnungsbaus sowie der Gesetzgebung über die Bodennutzung begleitet
war: In Frankreich ergriff das gaullistische Regime sofort besondere
Maßnahmen, die eine Massenbeteiligung des Bankkapitals an der
Bauindustrie förderten; die britischen Konservativen hoben, kaum daß
sie an die Macht zurückgekehrt waren, vor allem die durch die
Labourregierung angenommene Gesetzgebung über den Städtebau auf; in
Italien war der Machtantritt der Regierung Andreotti durch eine
Offensive gegen das Wohnungsreformgesetz gekennzeichnet; die
Regierung Westdeutschlands war, obwohl sie von Sozialdemokraten
geleitet wird, auf ökonomischem Gebiet stets der Praxis und der
Ideologie der „liberalen" Doktrin treu.
Aber jetzt möchten
wir auf die strukturellen Ursachen eingehen. Eine der wichtigsten
davon ist zweifellos die Inflation, die sich in den Staaten des
Gemeinsamen Marktes wie übrigens auch in den USA und in Japan schon
seit Jahren in immer schnellerem Tempo entwickelt und die viele
Wissenschaftler für natürlich, für eine Folgeerscheinung der
eigentlichen Natur des kapitalistischen Systems der Produktion
halten. Daraus folgt, daß das schnelle Ansteigen der Bodenpreise
keine zeitweilige Erscheinung ist, die früher oder später
verschwinden wird. (Verschwinden kann sie erst mit der Abschaffung
des Privateigentums an Grund und Boden.) Der Boden stellte seit
Beginn der Epoche des Kapitalismus gleichsam eine klassische
„Sparbüchse" dar, das Objekt eher spekulativer Investitionen als
realer Kapitalinvestitionen, die Einnahmen bringen, „...in rasch
fortschreitenden Städten... (bildet) die Bodenrente, nicht das Haus
den eigentlichen Grundgegenstand der Bauspekulation .. ."(3) Und
heute sind die Unternehmer in den meisten Fällen nicht allzu
besorgt, wenn die ihnen gehörenden Gebäude jahrelang leer stehen und
keine Einnahmen bringen. Sie sind überzeugt, daß sie in letzter
Instanz — in Kapitalform — eine Summe erhalten werden, welche die
Kapitalinvestitionen, und zwar in realem Ausdruck, um ein vielfaches
übersteigen wird.
Wenn diese
Behauptung stets richtig war, ist sie es um so mehr in den Perioden
einer raschen und stetigen Entwertung des Geldes, wie z. B. jetzt, da
das Tempo dieser Entwertung — nach Angaben für die ersten zehn Monate
1973, d.h. noch vor Ausbruch der Energiekrise — zwischen 6 Prozent
(Luxemburg) und 11—12
Prozent (Italien) schwankt. Diese Situation fördert — sofern, ich
wiederhole, wirksame regulierende Maßnahmen fehlen — objektiv die
spekulativen Investitionen in die Immobilien. Und letzten Endes
verschärfen sich unweigerlich solche ihrer direkten Folgen wie
ununterbrochene Mieterhöhungen, Ausbrüche des Bau„booms" in
Abwechslung mit überraschenden Rückgängen, akute Wohnungskrise bei
gleichzeitigem Überfluß an gebauten Häusern.
Die westdeutsche Wochenzeitschrift
„Der Spiegel" vom 16. Juli 1973 brachte einen großen Artikel zu der
überraschenden Krise der größten Bauunternehmen der BRD. Allein in
München blieben von etwa 15000 durch Privatfirmen unlängst gebauten
Wohnungen 8300 unverkauft, während auf dem gesamten Territorium der
Republik Tausende von Werktätigen mit festem Einkommen als
Wohnungsuchende registriert sind. In Frankfurt zählte man 4000 bis
6000, in Düsseldorf 1200 und in Hamburg etwa 2000 leerstehende
Wohnungen.(4) Neben dem
Mangel an billigen Wohnungen, der chronisch geworden ist und
dramatische Ausmaße angenommen hat, gibt es in Italien eine riesige
Anzahl leerstehender Wohnräume, die sich innerhalb von 20 Jahren
verdreifacht hat: von 2,3 Mill. im Jahre 1951 auf 7,4 Mill. Ende
1971.
Als „Fundament der Inflation"
bezeichnete die französische Zeitung „Le Monde" in ihrem Artikel vom
18. Januar 1973 die großen, ständig wachsenden Investitionen in die
Immobilien. Hinter diesen Investitionen stehen heute in ständig
zunehmendem Maße die Hauptgruppierungen des Finanzkapitals, die
begonnen haben, die Immobilienmanipulationen als einen bevorzugten
Tätigkeitsbereich anzusehen.
Die aktivsten auf dem Kontinent sind
wohl die britischen Gruppierungen, die besonders nach dem Beitritt
Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt lebhaft wurden. In den
Vordergrund rückten die großen angelsächsischen
Versicherungsgesellschaften, die bis April 1973 mehr als 2 Md. Pfund
Sterling in Immobilien investiert haben. Allein die Abbey Life
Assurance Company besitzt Immobilien, die im Mai 1972 auf 180 Mill.
Pfund Sterling geschätzt worden sind, was etwa der Hälfte ihrer
gesamten Kapitalinvestitionen entspricht. Sie kündigte ihre Absicht
an, mindestens ein Fünftel ihres Kapitals in Belgien, den
Niederlanden, der BRD und Frankreich unterzubringen, um den
Unterschied in den Währungskursen maximal auszunutzen. Die
Ragian Property Ltd. wurde unlängst zu Politik einem großen
Kompagnon der französischen Gesellschaft Garantie Fonciere, die im
Jahre 1971 im Mittelpunkt der im Schatten des gaullistischen Regimes
aufflammenden Finanzskandale stand.
Die britischen Kapitalinvestitionen
in Immobilien in Europa werden heute auf 500 Mill. Pfund Sterling
geschätzt, davon 300 Mill. in Frankreich und 150 Mill. Pfund Sterling
in Belgien. Allein in Paris belaufen sich diese Investitionen auf
etwa 25 Mill. Pfund Sterling.
Neben den britischen operieren auf
dem Kontinent auch andere kapitalistische Gruppierungen, die auf der
Jagd nach der Rente häufig die Tätigkeitsbereiche wechseln. So wurde
bekannt, daß die Hollywooder Firma Metro Goldwin Mayer beschlossen
hat, die jahrzehntelange Tätigkeit im Filmwesen einzustellen und
sich mit Immobilien zu befassen, insbesondere mit dem Bau und dem
Unterhalt vornehmer Villen und Luxushotels. Sie verkauft ihre 44
Verleihfilialen in den USA und im Ausland sowie 33 Filmstudios.
Einer der Giganten der italienischen Baumwollindustrie, die
Gesellschaft Rossari e Varzo, hat ebenfalls beschlossen, sich mit
Immobilien zu befassen. Man braucht nicht ausführlich auf die
wohlbekannte Tätigkeit des Veteranen auf diesem Gebiet einzugehen,
der italienisch-amerikanisch-vatikanischen Gesellschaft Generale
Immobilia-re, die unlängst ihr Kapital zu verdoppeln vermochte.
Der Inflationsprozeß dient zwar als
Katalysator der von uns untersuchten Erscheinung, kann aber nicht als
ihre einzige Ursache angesehen werden. Die andere ist in der
fortschreitenden Verringerung der Anzahl freier Bodenstücke für
städtische Bebauung wie auch darin zu suchen, daß sich das Eigentum
an diesen Grundstücken rasch in den Händen weniger Besitzer
konzentriert.
Das mit der Epoche der Industrierevolution verbundene Wachstum der
städtischen Bevölkerung begann im vergangenen Jahrhundert und setzt
sich in immer schnellerem Tempo fort, wobei es beispiellose Ausmaße
erreicht. Nimmt man die Zahl von 20 000 Einwohnern als Minimum für
eine moderne Stadt an, so kann man ausrechnen, daß über die Hälfte
der Bevölkerung wirtschaftlich entwickelter Länder gegenwärtig in
Städten lebt und mehr als die Hälfte dieser Anzahl in Großstädten mit
mehr als einer Million Einwohnern. Aber noch kennzeichnender ist die
Tatsache, daß sich die Riesenstädte mit 7 und mehr
Politik Millionen Einwohnern — New York, Tokio, Paris, Moskau,
Kalkutta und Buenos Aires — gegenwärtig doppelt so schnell entwickeln
wie die kleineren Städte. Man kann nach den vorliegenden Angaben zu
dem Schluß gelangen, daß im Jahre 2000 über 80 Prozent der
Bevölkerung wirtschaftlich entwickelter Länder in Städten leben
werden.
Dieser Prozeß, der im Grunde sowohl
der kapitalistischen als auch der sozialistischen Gesellschaft eigen
ist, verursacht objektiv den Mangel an freien Grundstücken in den
Städten. Aber während in der sozialistischen Ordnung, die das
Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft hat, die volle
Möglichkeit einer langfristigen Planung zur Nutzung des Territoriums
entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen besteht, kann man
leicht begreifen, welche Schwierigkeiten sich in den Ländern
ergeben, in denen das Eigentum an Grund und Boden in den Händen von
Privatpersonen verbleibt.
Obwohl ein Anwachsen der Rente in
allen Städten zu verzeichnen ist, wächst sie besonders drastisch in
den größten Städten und vor allem in den Hauptstädten, was mit dem
Prozeß der stärker werdenden finanziellen Konzentration in der
kapitalistischen Welt verbunden ist. Die Konzentration der
ökonomischen Macht in den Händen gigantischer Gesellschaften und
Gruppierungen, das Aufkommen großer multinationaler Gesellschaften
nach dem zweiten Weltkrieg, die Aufblähung des technischen,
bürokratischen und Bankapparats, der zur Betreuung dieser Komplexe
erforderlich ist, verursachen die Ballung neuer Verwaltungszentren
auf einer immer stärker begrenzten Fläche. Im Kapitalismus führt das
fast alle Hauptstädte in die Krise. Besonders akut wird die
Wohnungskrise. Die Preise für Grundstücke und Häuser steigen
außerordentlich an, gleichzeitig vollzieht sich ein beschleunigter
Prozeß der Vertreibung der „alten" Bevölkerung aus den zentralen
Bezirken, in denen neue Tätigkeitsarten entstehen und im Zusammenhang
damit neue Gebäude errichtet werden. Gerade hier entfalten sich vor
allem die spekulativen Operationen des Finanzkapitals und der
Manipulatoren mit Immobilien.
Die Probleme von Paris, so wurde auf
der von uns bereits erwähnten Konferenz
des Marxistischen Forschungszentrums betont,
sind nicht als eine Folge der Entwicklung
irgendeiner „postindu-
striellen Gesellschaft" zu betrachten, sondern als ein spezifisches
Produkt der kapitalistischen
Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, die in ihr
wirkenden Produktivkräfte zu kontrollieren. Bei Fortbestehen der
gegenwärtigen Tendenzen, so klagen die französischen Zeitungen, wird
der Grundstückspreis in 50 Jahren 80 Prozent des Preises der reinen
Bautätigkeit ausmachen statt der bisherigen 25 Prozent. Die
Möglichkeit einer solchen Bereicherung der Grundstücksbesitzer, vor
allem durch die von der Gesellschaft bezahlte Urbanisierung bedingt,
würde in letzter Instanz zur Entstehung solcher Städte führen, in
denen das Zentrum nur aus administrativen Hochhäusern und luxuriösen
Wohnhäusern (solche allein lohnt es sich bei" den hohen
Grundstückspreisen zu bauen) bestehen wird, während die Randgebiete
mit Elendshütten für die besitzlosen Bürger bebaut werden. Selbst die
bürgerliche Presse muß zugeben, daß eine Einschränkung des
Privateigentums die erste Voraussetzung für eine gesunde Politik des
planmäßigen Städtebaus ist.
Was Großbritannien betrifft, so
wollen wir uns erneut auf das Programm der Labouristen von 1973
berufen. In den meisten Städten verstärkt sich der Prozeß der
selektiven Vertreibung der Einwohner, heißt es in diesem Dokument.
Die Preise für Immobilien sind so intensiv und rasch gewachsen, daß
relativ junge Menschen, Vertreter arbeitender Mittelschichten,
qualifizierte Arbeiter es immer häufiger vorziehen, auf der Suche
nach preiswerten Wohnungen in die Vorstädte oder in weiter entlegene
Bezirke zu gehen. Auf ihren alten Plätzen verbleiben entweder
diejenigen, die reich genug sind, um die hohen Mieten zu bezahlen,
oder diejenigen, die zu arm sind, um ihren Wohnort zu wechseln. Seit
der Veröffentlichung des labouristischen Programms von 1972 hat sich
das Problem des Wohnraumes und des Wohnungsbaus im Lande noch mehr
zugespitzt. Im Jahre 1972 wurde in Großbritannien die geringste
Anzahl Häuser während der gesamten Regierungszeit der Torys erbaut,
wobei der Wohnungsbau dort am stärksten eingeschränkt wurde, wo er
besonders dringend erforderlich ist. Gleichzeitig erreichten die
Preise für Häuser astronomische Höhen. Betrug im Jahre 1970 der
Hypothekenbeitrag für eine durchschnittliche Wohnung 36,65 Pfund
Sterling monatlich, so wurden Ende 1972 für die gleiche Wohnung 65
Pfund und 87 Pence je Monat gefordert... Zweifellos ist hier etwas
nicht in Ordnung und muß korrigiert werden, heißt es im Programm,
wenn es in einer solchen Stadt wie London
Bezirke gibt, bebaut mit Verwaltungsgebäuden, in denen mehr als 1
Million Quadratmeter leer stehen, während gleichzeitig 100000
Familien in den Munizipalitäten als Wohnungsuchende registriert sind.
Das gleiche kann man auch von Rom, Mailand, Bonn und anderen
Hauptstädten westeuropäischer Länder sagen.
All das ist aber nicht
ausschließlich ein Ergebnis des „freien und spontanen Spiels"
ökonomischer Interessen. Nein, diese Situation wird durch
entsprechende Regierungen gefördert, man kann sagen, programmiert.
Diese sind bestrebt, die Organe der staatlichen Leitung maximal zu
konzentrieren und die Mechanismen der Akkumulation, die ihrem
Charakter nach supranational geworden sind, unter Beobachtung und
Kontrolle zu nehmen. Kennzeichnend ist in dieser Hinsicht das
Beispiel von Paris, wo man ein neues „Finanzzentrum" zu schaffen
beabsichtigt. Um diesen Plan sind in den politischen Kreisen und in
der breiten Öffentlichkeit hitzige Diskussionen im Gange. Die
Finanzoligarchie Frankreichs strebt schon seit langem danach, sich
der zentralen Bezirke der Hauptstadt zu bemächtigen. Es wurde
errechnet, daß sich gegenwärtig im Umkreis von 1 Kilometer um den
Platz Adrien-Houdin (an der Ecke des Boulevard Haussmann und der Rue
Taitbout) 67 Prozent der Pariser Versicherungsgesellschaften
befinden. Die Banken haben es vorgezogen, ihren Sitz im Opernviertel
zu nehmen, wo sich im Umkreis von 500 Metern 30 Prozent ihrer
zentralen Büros und 50 Prozent der Mitarbeiter befinden. Aber damit
wollen sie sich offenbar nicht zufriedengeben. Im Januar 1971
bildeten 36 Banken und Versicherungsgesellschaften (darunter auch
eine Reihe verstaatlichter) eine Initiativgruppe unter der
Bezeichnung „Finanzzentrum von Paris". Diese erklärte, daß der
hauptstädtische Finanzmarkt angesichts der starken Konkurrenz
anderer naher Märkte (London, Frankfurt/Main, Zürich und sogar
Brüssel) bedroht sei und daß man folglich eilig an dessen
Rekonstruktion gehen müsse. Daher fordert die Gruppe von den
Behörden eine Lockerung der Kontrolle auf dem Gebiet des Städtebaus,
mit anderen Worten, eine Abweichung von den Regeln sowohl
hinsichtlich der Dichte der Bebauung und der Maximalhöhe der Gebäude
als auch hinsichtlich der Unterbringung neuer Büros im Stadtzentrum.(5)
Im Juli 1972 informierte Giscard
d'Estaing, der französische Wirtschaftsund Finanzminister, die
Regierung über das Projekt eines neuen Geschäftszentrums. Es ist
vorgesehen, den Finanzstäben weitere 420000—620000 Quadratmeter
Fläche unmittelbar im Zentrum der Stadt zur Verfügung zu stellen und
die französische Hauptstadt zum ersten Finanzmarkt Europas zu machen,
der gleichberechtigt neben London steht und es mit Mailand, Zürich
und Frankfurt/ Main aufzunehmen vermag. Die finanzielle Macht, so
erklärte der Minister, ist undenkbar ohne eine deutlich ausgeprägte
geographische Konzentration innerhalb der Hauptstadt.(6)
Nicht viel anders ist die Lage in
Rom. In dem 1965 angenommenen Generalplan für die Entwicklung der
Stadt wurde ein Punkt aufgenommen, wonach auf stadteigenem
Territorium eine neue Verwaltungszone mit einer Fläche von 1100
Hektar geschaffen wird, bebaut mit Gebäuden mit insgesamt 29,5 Mill.
Kubikmetern umbauter Fläche, was etwa 330000 Diensträumen
entspricht. Oder nehmen wir den Raum von Mailand, wo im Jahre 1967
geplant wurde, in der sich an Mailand anschließenden Gemeinde San
Donä (20 000 Einwohner) ein Verwaltungszentrum mit 30000 Räumen zu
schaffen. Der Wert allein dieser Bauten beträgt 150—200 Md. Lire. Die
Londoner Effektenbörse zog unlängst in einen großen Wolkenkratzer in
der Nähe der Bank von England um, wodurch die im Vereinigten
Königreich operierenden Leitungen der Effektenbörsen an acht Stellen
konzentriert wurden statt der bisherigen 21. Man kann sich leicht
vorstellen, welcher Welle von Spekulationen diese
Standortveränderungen den Weg gebahnt haben.
Wir haben bereits einige Vorschläge
zur Lösung des Problems der städtischen Rente erwähnt, die von
politischen Kräften und Presseorganen der Länder des Gemeinsamen
Marktes unterbreitet worden sind. In Italien ist dieses Problem
theoretisch und politisch schon recht gut ausgearbeitet, und der
Kampf darum hat den Charakter einer Massenbewegung angenommen. Seit
Anfang der 50er Jahre kämpft die IKP entschlossen gegen die
spekulative Rente und tritt dabei in einer Einheitsfront mit den
anderen linken und radikalen Kräften auf. Gegenwärtig betrachtet die
Kommunistische Partei diesen Kampf als eine der Hauptaufgaben^ deren
Lösung es gestatten würde, die Richtung der nationalen Wirtschaft so
zu verändern, daß das gesellschaftliche Bedürfnis statt der
übermäßigen individuellen Konsumtion gefördert wird. Gleichzeitig
würde der Produktionsapparat des Landes von einer erstickenden Bürde
befreit werden, die ihn deswegen belastet, weil ein großer Teil des
Nationaleinkommens durch die parasitäre Rente verschlungen wird.
Besonders aktiv ist die Tätigkeit in
den Organen der Selbstverwaltung, die für die Planung des örtlichen
Städtebaus verantwortlich sind, sowie in den neuen, vor zwei Jahren
geschaffenen Organen der Regionalverwaltung, denen die zuvor in den
Kompetenzbereich staatlicher Organe fallenden Befugnisse auf dem
Gebiete des Bauwesens und der territorialen Planung übergeben worden
sind. An dieser Tätigkeit beteiligen sich außerdem weitgehend die
Gewerkschaftsbewegung und die verschiedenen Massenorganisationen,
die geschaffen wurden, um die Interessen der Mieter und der
preiswerte Wohnungen suchenden Werktätigen zu schützen.
Im Jahre 1971 nahm das Parlament das
„Gesetz über die Wohnungsreform" an, nach dem die örtlichen
Selbstverwaltungsorgane bis zu 60 Prozent des für die städtische
Entwicklung vorgesehenen Territoriums expropriieren und
Organisationen oder Privatpersonen auf Grund einer bestimmten
Vereinbarung zur Nutzung überlassen können, welche die Bedingungen
der Nutzung und die Höhe der Entschädigung für die erbauten
Immobilien regelt. Dieses Gesetz war ein wichtiger Schritt vorwärts
im Vergleich zu der vorangegangenen Gesetzgebung, vor allem gegründet
auf die Formen und Mechanismen der Besteuerung, mit deren Hilfe der
Staat wenigstens einen Teil der schnell wachsenden Renten
zurückzubekommen versucht. Und dennoch ist das alles eine
Teilmaßnahme, weil sich das Gesetz nicht auf das gesamte Territorium
des Städtebaus erstreckte. Außerdem machte es der in Italien nach
1971 einsetzende politische Rückschritt, dessen Höhepunkt die
Bildung einer rechtszentristischen Regierung war, bislang nicht
möglich, das Wohnungsgesetz voll zu verwirklichen.
Heute, bei der veränderten
politischen Situation im Lande, geht der Kampf mit neuer Kraft
weiter.
Wir wollen uns allein auf das Jahr
1973 beschränken und einige der Hauptepisoden
nennen: Die gesamtnationale Kundgebung von 200000 Bauschaffenden „für
Wohnungen, für gesellschaftliche Kon-
trolle über den Wohnungsbau", die am 14. April
in Rom von den drei Gewerkschaftsorganisationen (Allgemeiner
Italienischer Gewerkschaftsbund [Confederazione Generale Italiana del
Lavoro —
CGIL], Italienische Konföderation der Gewerkschaften der Werktätigen
[Confe-derazione Italiana Sindicati Lavoratori— CISL], Italienische
Union der Arbeit [Unione Italiana del Lavoro — UIL]) organisiert
wurde; eine Manifestation in Rom, eine zentrale Kampfkundgebung der
Werktätigen in Süditalien, die eine Politik des Schutzes und der
Wiederherstellung in den Gebieten forderten, die im Januar 1973
schwer durch Überschwemmungen betroffen worden waren; zahlreiche
regionale und gesamtnationale Manifestationen, die durch die
Vereinigte Nationale Mietergewerkschaft organisiert wurden; der
„Streit um die Wohnung", begonnen im November vorigen Jahres durch
die Föderation der drei Baugewerkschaften, die von der Regierung die
Realisierung des Gesetzes von 1971 und staatliche
Kapitalinvestitionen in die Bau Wirtschaft, besonders in Süditalien,
fordert.
Im Ergebnis der Diskussion, die sich
Ende November 1973 entfaltete, verpflichtete das Parlament die
Regierung, beiden Kammern den Entwurf eines Gesetzes über die Reform
des Städtebaus vorzulegen, das in den kommenden zwei Jahren
verabschiedet werden soll. Die Vorschläge, die die Kommunisten mit
den anderen linken und demokratischen Kräften erörtern, sind auf die
Errichtung eines einheitlichen Regimes für die Nutzung des
städtischen Territoriums gerichtet, das auf der Trennung des
Baurechts (Jus aedificandi) vom Eigentum an Grund und Boden
gegründet wäre und die Bildung der Rente selbst wesentlich
einschränken würde. Das Baurecht würde den örtlichen Machtorganen
(den Gemeinden und den Regionen) zufallen, die es denjenigen, die
davon Gebrauch machen wollen, gewähren und dabei die Bedingungen und
die Dauer der Nutzung sowie die Preise für die erbauten Immobilien
festsetzen würde. Alle Aspekte der Planung, der Baupolitik und der
Regulierung des Baurechts müssen dabei in der vollen Kompetenz der
demokratischen Versammlungen der Gemeinden und Regionen liegen.
Endnoten
1 „Economie et Politique", Januar
1972, S.35.
2 „Appunti di inquadramento per una analisi della rendita urbana e
delle politiche di intervento in materia", Roma, 26—27 gennaio 1973.
3 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S.782.
4 „Der Spiegel", 16. Juli 1973, S.26.
5 „Le Monde", 11. April 1973.
6 „Le Monde", 29—30.Oktober 1972.
Quelle: Piero
Della Seta, An den Quellen der Wohnungskrise, in: Probleme des
Friedens und des Sozialismus, Zeitschrift der kommunistischen und
Arbeiterparteien, Nr. 4/1974, Berlin, S.533-538 |