Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
An den Quellen der Wohnungskrise
Das Anwachsen der städtischen Bodenrente in den Ländern des Gemeinsamen Marktes

von
Piero Della Seta

09/2015

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: Der 1974 erschienene Aufsatz hat nichts an seiner Aktualität eingebüßt, mögen sich auch die konkreten Klassen- und  Kapitalverwertungstrukturen in ihren Erscheinungen  immens verändert habe. Allein die Tatsache, dass heute für linke Realpolitik - wie der aktuelle Stand des Mientenvolksentscheids in Berlin anzeigt - die Bodenfrage und damit die Bodenrente keiner Erörterung - geschweige denn staatlicher Regulierung - mehr wert sind, zeigt an, wie eminent wichtig es ist, die Bodenfrage aus marxistischer Sicht wieder auf die (linke) Agenda zu setzen. /red. trend

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In den Ländern des Gemeinsamen Mark­tes ist ein ungewöhnliches Anwachsen der Bodenrente, besonders der städti­schen, zu beobachten. Das zieht unwei­gerlich solche Folgen nach sich, wie jähes Ansteigen der Grundstückspreise, Woh­nungskrise und Krise des Städtebaus, und gleichzeitig eine Vergrößerung der ohnehin riesigen Investitionen der größ­ten Gruppierungen des Finanzkapitals in die Bauwirtschaft.

Wir reden ohne Zweifel von keiner neuen Erscheinung: Sie ist natürlich für den Prozeß der kapitalistischen Produk­tion selbst, für ein System, in dem das Privateigentum an Grund und Boden herrscht. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur an die Welle von Spekulationen zu erinnern, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Paris während der gewaltigen Arbeiten des Präfekten Haussmann zur „Umgestal­tung" der französischen Hauptstadt hochschlug, oder von neuem im „Kapi­tal" nachzublättern, was auf dem Baumarkt Londons in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts geschah. Liest man noch einmal diese Seiten, so glaubt man es mit Ereignissen zu tun zu haben, die sich heute vor unseren Augen abspielen.

Von der außerordentlichen Bedeutung der Frage der städtischen Rente zeugt allein schon die Tatsache, daß verschie­dene politische Kräfte Europas (kommu­nistische Parteien und marxistische For­schungsgruppen, die Labour Party Groß­britanniens und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands) ihr in der jüngsten Zeit besondere Aufmerksamkeit wid­men.

Auf den Konferenzen der Labouristen steht dieses Problem schon seit zwei Jahren im Vordergrund. Im Jahre 1972 machte es Parteiführer H.Wilson zum zentralen Thema seines Referats. Unter Hinweis darauf, daß die Immobilien zu den Hauptobjekten der Verstaatlichung gehören, schlug er die Schaffung eines staatlichen Organs vor, das die Bau­grundstücke in den Städten sowie die großen Immobilien- und Baukredit­gesellschaften unter die Kontrolle neh­men würde. Die schwierige Lage im Bauwesen stand im Mittelpunkt der jüngsten Kampagne zu den Wahlen in den Rat von Groß-London, als deren Ergebnis die städtischen Machtorgane nach einer fünfjährigen Übermacht der Konservati­ven in die Hände der Labouristen und der Linkskräfte übergingen. Auf dem letzten Parteitag der SPD im Jahre 1973 wurde eigens die Frage der Ausarbeitung einer „neuen Baulandordnung" erörtert.

Das Marxistische Forschungszentrum in Paris veranstaltete im Mai 1973 ein diesen Problemen gewidmetes Sympo­sium „Die monopolistische und die demo­kratische Urbanistik"; die besondere Aufmerksamkeit galt der französischen Hauptstadt. In Italien erörtern die demo­kratischen Kräfte praktisch schon seit 20 Jahren die für die Einschränkung der Rente erforderlichen Maßnahmen und die zweckmäßigsten rechtlichen Normen für die Nutzung städtischer Grund­stücke. Nach dem Sturz der rechtszentri-stischen Regierung ist diese Diskussion mit neuer Kraft aufgeflammt.

Hier einige Fakten, die eine Vorstellung von den Maßstäben dieses Problems in den Ländern des Gemeinsamen Marktes vermitteln. In den letzten zwei Jahren, so heißt es in dem von den Labouristen im Jahre 1973 angenommenen „Programm für Großbritannien", hat die Preissteige­rung bei Grundstücken astronomische Höhen erreicht. Nach offiziellen Anga­ben sind diese Preise allein im Jahre 1972 im Landesdurchschnitt um 60 Prozent angestiegen. In London hat sich der durchschnittliche Preis für Grundstücke im 20-Meilen-Umkreis vom Zentrum, der in den Jahren 1969—1970 etwa 40 000 Pfund Sterling je Acre betrug, im Jahre 1971 bis auf 69 540 Pfund Sterling erhöht und sich im Jahre 1972 mit 121000 Pfund Sterling je Acre verdrei­facht. Demnach ist der Preis für einen Acre Boden im Durchschnitt um 250 Pfund Sterling wöchentlich gestie­gen. Im Jahre 1971 machte der Wert eines Grundstücks etwa ein Drittel des Preises eines neuen Hauses aus, und in den zentralen Bezirken der Hauptstadt wurde unlängst ein Grundstück von drei Viertel Acre für 1 Mill. Pfund Sterling verkauft.

In Frankreich, so wird in einem Artikel der marxistischen Zeitschrift „Economie Politik et Politique" vom Januar 1972 unterstri­chen, sind die Bodenpreise auf dem Lande innerhalb von 19 Jahren — von 1950 bis 1969 — im Durchschnitt auf das 6,5fache angestiegen: von 1100 auf 7500 Franc je Hektar. In Anbetracht der Entwertung des Geldes in dieser Periode haben sich diese Preise faktisch auf das 2,6fache erhöht. Aber in der gleichen Periode sind die Grundstückspreise in den Städten und vor allem in der Hauptstadt wesentlich stärker ange­wachsen.(1) Will man die Vorgänge richtig einschätzen, muß man berücksichtigen, daß in Frankreich in den letzten Jahr­zehnten im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten außerordentlich niedrige Grundstückspreise erhalten blieben. Die Zeitung „Le Monde" vom 11. September 1973 führt folgende Zahlen an: Im Jahre 1970 kostete ein Hektar Boden in ländlichen Gegenden in Frankreich 8000 Franc gegenüber 13 200 Franc in den Niederlanden, 19 800 in Belgien und 39 000 in Westdeutschland.

In Italien gehen nach den jüngsten Berechnungen etwa 1000 Md. Lire, d. h. ein Viertel der gesamten Investitionen, in die Bauwirtschaft, einschließlich des Preises für Grundstücke, alljährlich in die Rente über, während der Wert des für die Bebauung tauglichen Bodens eine Summe ausmacht, die dem halben Bruttonationaleinkommen des Landes entspricht.(2) Aber die Besonderheit Ita­liens besteht darin, daß hier die Rente stets die exklusive Rolle als eine ökono­mische Kategorie beibehielt, die noch in beträchtlichem Maße mit der Gestalt des abwesenden Bodenbesitzers verbunden ist. Das war bedingt durch die Spezifik des Übergangs zur Industrierevolution in Italien, dadurch, daß dieser Prozeß hier später als in den anderen Ländern des kapitalistischen Europas einsetzte und infolge des Bündnisses der mächtigsten Gruppierungen des Industriekapitals mit den Latifundienbesitzern im Süden Ita­liens durch Kompromissf. gekennzeich­net war. In den anderen kapitalistischen Ländern Europas hingegen wird die starke Erhöhung der Rente erst jetzt und vor allem infolge einer direkten Einmi­schung des Finanzkapitals beobachtet. (Übrigens spielen die Finanzgruppierun­gen im heutigen Italien ebenfalls eine dominierende Rolle in dem untersuchten Prozeß.)

Welches sind die Ursachen für die Erhöhung der Rente? Gewisse Bedeutung haben natürlich politische Gründe. In fast allen Ländern, von denen die Rede ist, waren die letzten Jahre eine Periode innerpolitischen Rückschritts, der un­weigerlich von einer „Liberalisierung" des Wohnungsbaus sowie der Gesetzge­bung über die Bodennutzung begleitet war: In Frankreich ergriff das gaullisti­sche Regime sofort besondere Maßnah­men, die eine Massenbeteiligung des Bankkapitals an der Bauindustrie för­derten; die britischen Konservativen hoben, kaum daß sie an die Macht zurückgekehrt waren, vor allem die durch die Labourregierung angenom­mene Gesetzgebung über den Städtebau auf; in Italien war der Machtantritt der Regierung Andreotti durch eine Offen­sive gegen das Wohnungsreformgesetz gekennzeichnet; die Regierung West­deutschlands war, obwohl sie von So­zialdemokraten geleitet wird, auf ökono­mischem Gebiet stets der Praxis und der Ideologie der „liberalen" Doktrin treu.

Aber jetzt möchten wir auf die struktu­rellen Ursachen eingehen. Eine der wich­tigsten davon ist zweifellos die Inflation, die sich in den Staaten des Gemeinsamen Marktes wie übrigens auch in den USA und in Japan schon seit Jahren in immer schnellerem Tempo entwickelt und die viele Wissenschaftler für natürlich, für eine Folgeerscheinung der eigentlichen Natur des kapitalistischen Systems der Produktion halten. Daraus folgt, daß das schnelle Ansteigen der Bodenpreise keine zeitweilige Erscheinung ist, die früher oder später verschwinden wird. (Verschwinden kann sie erst mit der Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden.) Der Boden stellte seit Beginn der Epoche des Kapitalismus gleichsam eine klassische „Sparbüchse" dar, das Objekt eher spekulativer Inve­stitionen als realer Kapitalinvestitionen, die Einnahmen bringen, „...in rasch fortschreitenden Städten... (bildet) die Bodenrente, nicht das Haus den eigentli­chen Grundgegenstand der Bauspe­kulation .. ."(3) Und heute sind die Unter­nehmer in den meisten Fällen nicht allzu besorgt, wenn die ihnen gehörenden Gebäude jahrelang leer stehen und keine Einnahmen bringen. Sie sind überzeugt, daß sie in letzter Instanz — in Kapital­form — eine Summe erhalten werden, welche die Kapitalinvestitionen, und zwar in realem Ausdruck, um ein vielfa­ches übersteigen wird.

Wenn diese Behauptung stets richtig war, ist sie es um so mehr in den Perioden einer raschen und stetigen Entwertung des Geldes, wie z. B. jetzt, da das Tempo dieser Entwertung — nach Angaben für die ersten zehn Monate 1973, d.h. noch vor Ausbruch der Energiekrise — zwi­schen 6 Prozent (Luxemburg) und 11—12 Prozent (Italien) schwankt. Diese Situation fördert — sofern, ich wieder­hole, wirksame regulierende Maßnah­men fehlen — objektiv die spekulativen Investitionen in die Immobilien. Und letzten Endes verschärfen sich unweiger­lich solche ihrer direkten Folgen wie ununterbrochene Mieterhöhungen, Aus­brüche des Bau„booms" in Abwechslung mit überraschenden Rückgängen, akute Wohnungskrise bei gleichzeitigem Über­fluß an gebauten Häusern.

Die westdeutsche Wochenzeitschrift „Der Spiegel" vom 16. Juli 1973 brachte einen großen Artikel zu der überraschen­den Krise der größten Bauunternehmen der BRD. Allein in München blieben von etwa 15000 durch Privatfirmen unlängst gebauten Wohnungen 8300 unverkauft, während auf dem gesamten Territorium der Republik Tausende von Werktätigen mit festem Einkommen als Wohnung­suchende registriert sind. In Frankfurt zählte man 4000 bis 6000, in Düsseldorf 1200 und in Hamburg etwa 2000 leerste­hende Wohnungen.(4) Neben dem Mangel an billigen Wohnungen, der chronisch geworden ist und dramatische Ausmaße angenommen hat, gibt es in Italien eine riesige Anzahl leerstehender Wohn­räume, die sich innerhalb von 20 Jahren verdreifacht hat: von 2,3 Mill. im Jahre 1951 auf 7,4 Mill. Ende 1971.

Als „Fundament der Inflation" bezeich­nete die französische Zeitung „Le Monde" in ihrem Artikel vom 18. Januar 1973 die großen, ständig wachsenden Investitionen in die Immobilien. Hinter diesen Investitionen stehen heute in ständig zunehmendem Maße die Haupt­gruppierungen des Finanzkapitals, die begonnen haben, die Immobilienmanipu­lationen als einen bevorzugten Tätig­keitsbereich anzusehen.

Die aktivsten auf dem Kontinent sind wohl die britischen Gruppierungen, die besonders nach dem Beitritt Großbritan­niens zum Gemeinsamen Markt lebhaft wurden. In den Vordergrund rückten die großen angelsächsischen Versicherungs­gesellschaften, die bis April 1973 mehr als 2 Md. Pfund Sterling in Immobilien investiert haben. Allein die Abbey Life Assurance Company besitzt Immobilien, die im Mai 1972 auf 180 Mill. Pfund Sterling geschätzt worden sind, was etwa der Hälfte ihrer gesamten Kapitalin­vestitionen entspricht. Sie kündigte ihre Absicht an, mindestens ein Fünftel ihres Kapitals in Belgien, den Niederlanden, der BRD und Frankreich unterzubrin­gen, um den Unterschied in den Wäh­rungskursen maximal auszunutzen. Die Ragian Property Ltd. wurde unlängst zu Politik einem großen Kompagnon der französi­schen Gesellschaft Garantie Fonciere, die im Jahre 1971 im Mittelpunkt der im Schatten des gaullistischen Regimes auf­flammenden Finanzskandale stand.

Die britischen Kapitalinvestitionen in Immobilien in Europa werden heute auf 500 Mill. Pfund Sterling geschätzt, davon 300 Mill. in Frankreich und 150 Mill. Pfund Sterling in Belgien. Allein in Paris belaufen sich diese Investitionen auf etwa 25 Mill. Pfund Sterling.

Neben den britischen operieren auf dem Kontinent auch andere kapitalisti­sche Gruppierungen, die auf der Jagd nach der Rente häufig die Tätigkeitsbe­reiche wechseln. So wurde bekannt, daß die Hollywooder Firma Metro Goldwin Mayer beschlossen hat, die jahrzehnte­lange Tätigkeit im Filmwesen einzustel­len und sich mit Immobilien zu befassen, insbesondere mit dem Bau und dem Unterhalt vornehmer Villen und Lu­xushotels. Sie verkauft ihre 44 Verleih­filialen in den USA und im Ausland so­wie 33 Filmstudios. Einer der Giganten der italienischen Baumwollindustrie, die Gesellschaft Rossari e Varzo, hat eben­falls beschlossen, sich mit Immobilien zu befassen. Man braucht nicht ausführlich auf die wohlbekannte Tätigkeit des Veteranen auf diesem Gebiet einzugehen, der italienisch-amerikanisch-vatikani­schen Gesellschaft Generale Immobilia-re, die unlängst ihr Kapital zu verdoppeln vermochte.

Der Inflationsprozeß dient zwar als Katalysator der von uns untersuchten Erscheinung, kann aber nicht als ihre einzige Ursache angesehen werden. Die andere ist in der fortschreitenden Verrin­gerung der Anzahl freier Bodenstücke für städtische Bebauung wie auch darin zu suchen, daß sich das Eigentum an diesen Grundstücken rasch in den Hän­den weniger Besitzer konzentriert.
Das mit der Epoche der Industriere­volution verbundene Wachstum der städ­tischen Bevölkerung begann im vergan­genen Jahrhundert und setzt sich in immer schnellerem Tempo fort, wobei es beispiellose Ausmaße erreicht. Nimmt man die Zahl von 20 000 Einwohnern als Minimum für eine moderne Stadt an, so kann man ausrechnen, daß über die Hälfte der Bevölkerung wirtschaftlich entwickelter Länder gegenwärtig in Städten lebt und mehr als die Hälfte dieser Anzahl in Großstädten mit mehr als einer Million Einwohnern. Aber noch kennzeichnender ist die Tatsache, daß sich die Riesenstädte mit 7 und mehr Politik Millionen Einwohnern — New York, Tokio, Paris, Moskau, Kalkutta und Buenos Aires — gegenwärtig doppelt so schnell entwickeln wie die kleineren Städte. Man kann nach den vorliegenden Angaben zu dem Schluß gelangen, daß im Jahre 2000 über 80 Prozent der Bevölke­rung wirtschaftlich entwickelter Länder in Städten leben werden.

Dieser Prozeß, der im Grunde sowohl der kapitalistischen als auch der soziali­stischen Gesellschaft eigen ist, verur­sacht objektiv den Mangel an freien Grundstücken in den Städten. Aber während in der sozialistischen Ordnung, die das Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft hat, die volle Möglich­keit einer langfristigen Planung zur Nutzung des Territoriums entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen besteht, kann man leicht begreifen, welche Schwierigkeiten sich in den Län­dern ergeben, in denen das Eigentum an Grund und Boden in den Händen von Privatpersonen verbleibt.

Obwohl ein Anwachsen der Rente in allen Städten zu verzeichnen ist, wächst sie besonders drastisch in den größten Städ­ten und vor allem in den Hauptstädten, was mit dem Prozeß der stärker werden­den finanziellen Konzentration in der kapitalistischen Welt verbunden ist. Die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen gigantischer Gesellschaf­ten und Gruppierungen, das Aufkommen großer multinationaler Gesellschaften nach dem zweiten Weltkrieg, die Aufblä­hung des technischen, bürokratischen und Bankapparats, der zur Betreuung dieser Komplexe erforderlich ist, verur­sachen die Ballung neuer Verwaltungs­zentren auf einer immer stärker begrenz­ten Fläche. Im Kapitalismus führt das fast alle Hauptstädte in die Krise. Beson­ders akut wird die Wohnungskrise. Die Preise für Grundstücke und Häuser steigen außerordentlich an, gleichzeitig vollzieht sich ein beschleunigter Prozeß der Vertreibung der „alten" Bevölkerung aus den zentralen Bezirken, in denen neue Tätigkeitsarten entstehen und im Zusammenhang damit neue Gebäude errichtet werden. Gerade hier entfalten sich vor allem die spekulativen Operatio­nen des Finanzkapitals und der Manipu­latoren mit Immobilien.

Die Probleme von Paris, so wurde auf der von uns bereits erwähnten Konferenz des Marxistischen Forschungszentrums betont, sind nicht als eine Folge der Entwicklung irgendeiner „postindu-
striellen Gesellschaft" zu betrachten, sondern als ein spezifisches Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, die in ihr wirkenden Produktivkräfte zu kontrollieren. Bei Fortbestehen der gegenwärtigen Ten­denzen, so klagen die französischen Zeitungen, wird der Grundstückspreis in 50 Jahren 80 Prozent des Preises der reinen Bautätigkeit ausmachen statt der bisherigen 25 Prozent. Die Möglichkeit einer solchen Bereicherung der Grund­stücksbesitzer, vor allem durch die von der Gesellschaft bezahlte Urbanisierung bedingt, würde in letzter Instanz zur Entstehung solcher Städte führen, in denen das Zentrum nur aus administrati­ven Hochhäusern und luxuriösen Wohn­häusern (solche allein lohnt es sich bei" den hohen Grundstückspreisen zu bauen) bestehen wird, während die Randgebiete mit Elendshütten für die besitzlosen Bürger bebaut werden. Selbst die bürger­liche Presse muß zugeben, daß eine Einschränkung des Privateigentums die erste Voraussetzung für eine gesunde Politik des planmäßigen Städtebaus ist.

Was Großbritannien betrifft, so wollen wir uns erneut auf das Programm der Labouristen von 1973 berufen. In den meisten Städten verstärkt sich der Pro­zeß der selektiven Vertreibung der Ein­wohner, heißt es in diesem Dokument. Die Preise für Immobilien sind so inten­siv und rasch gewachsen, daß relativ junge Menschen, Vertreter arbeitender Mittelschichten, qualifizierte Arbeiter es immer häufiger vorziehen, auf der Suche nach preiswerten Wohnungen in die Vorstädte oder in weiter entlegene Be­zirke zu gehen. Auf ihren alten Plätzen verbleiben entweder diejenigen, die reich genug sind, um die hohen Mieten zu bezahlen, oder diejenigen, die zu arm sind, um ihren Wohnort zu wechseln. Seit der Veröffentlichung des labouristischen Programms von 1972 hat sich das Pro­blem des Wohnraumes und des Woh­nungsbaus im Lande noch mehr zugespitzt. Im Jahre 1972 wurde in Großbritannien die geringste Anzahl Häuser während der gesamten Regie­rungszeit der Torys erbaut, wobei der Wohnungsbau dort am stärksten einge­schränkt wurde, wo er besonders drin­gend erforderlich ist. Gleichzeitig er­reichten die Preise für Häuser astronomi­sche Höhen. Betrug im Jahre 1970 der Hypothekenbeitrag für eine durch­schnittliche Wohnung 36,65 Pfund Ster­ling monatlich, so wurden Ende 1972 für die gleiche Wohnung 65 Pfund und 87 Pence je Monat gefordert... Zweifel­los ist hier etwas nicht in Ordnung und muß korrigiert werden, heißt es im Programm, wenn es in einer solchen Stadt wie London Bezirke gibt, bebaut mit Verwaltungsgebäuden, in denen mehr als 1 Million Quadratmeter leer stehen, während gleichzeitig 100000 Familien in den Munizipalitäten als Wohnungsuchende registriert sind. Das gleiche kann man auch von Rom, Mailand, Bonn und anderen Hauptstäd­ten westeuropäischer Länder sagen.

All das ist aber nicht ausschließlich ein Ergebnis des „freien und spontanen Spiels" ökonomischer Interessen. Nein, diese Situation wird durch entspre­chende Regierungen gefördert, man kann sagen, programmiert. Diese sind bestrebt, die Organe der staatlichen Leitung maximal zu konzentrieren und die Mechanismen der Akkumulation, die ihrem Charakter nach supranational geworden sind, unter Beobachtung und Kontrolle zu nehmen. Kennzeichnend ist in dieser Hinsicht das Beispiel von Paris, wo man ein neues „Finanzzentrum" zu schaffen beabsichtigt. Um diesen Plan sind in den politischen Kreisen und in der breiten Öffentlichkeit hitzige Diskussio­nen im Gange. Die Finanzoligarchie Frankreichs strebt schon seit langem danach, sich der zentralen Bezirke der Hauptstadt zu bemächtigen. Es wurde errechnet, daß sich gegenwärtig im Umkreis von 1 Kilometer um den Platz Adrien-Houdin (an der Ecke des Bou­levard Haussmann und der Rue Taitbout) 67 Prozent der Pariser Versicherungsge­sellschaften befinden. Die Banken haben es vorgezogen, ihren Sitz im Opernviertel zu nehmen, wo sich im Umkreis von 500 Metern 30 Prozent ihrer zentralen Büros und 50 Prozent der Mitarbeiter befinden. Aber damit wollen sie sich offenbar nicht zufriedengeben. Im Ja­nuar 1971 bildeten 36 Banken und Versi­cherungsgesellschaften (darunter auch eine Reihe verstaatlichter) eine Initiativ­gruppe unter der Bezeichnung „Finanz­zentrum von Paris". Diese erklärte, daß der hauptstädtische Finanzmarkt ange­sichts der starken Konkurrenz anderer naher Märkte (London, Frankfurt/Main, Zürich und sogar Brüssel) bedroht sei und daß man folglich eilig an dessen Rekonstruktion gehen müsse. Daher for­dert die Gruppe von den Behörden eine Lockerung der Kontrolle auf dem Gebiet des Städtebaus, mit anderen Worten, eine Abweichung von den Regeln sowohl hinsichtlich der Dichte der Bebauung und der Maximalhöhe der Gebäude als auch hinsichtlich der Unterbringung neuer Büros im Stadtzentrum.(5)

Im Juli 1972 informierte Giscard d'Estaing, der französische Wirtschafts­und Finanzminister, die Regierung über das Projekt eines neuen Geschäftszen­trums. Es ist vorgesehen, den Finanzstä­ben weitere 420000—620000 Quadratme­ter Fläche unmittelbar im Zentrum der Stadt zur Verfügung zu stellen und die französische Hauptstadt zum ersten Finanzmarkt Europas zu machen, der gleichberechtigt neben London steht und es mit Mailand, Zürich und Frankfurt/ Main aufzunehmen vermag. Die fi­nanzielle Macht, so erklärte der Minister, ist undenkbar ohne eine deutlich ausge­prägte geographische Konzentration in­nerhalb der Hauptstadt.(6)

Nicht viel anders ist die Lage in Rom. In dem 1965 angenommenen Generalplan für die Entwicklung der Stadt wurde ein Punkt aufgenommen, wonach auf stadteigenem Territorium eine neue Ver­waltungszone mit einer Fläche von 1100 Hektar geschaffen wird, bebaut mit Gebäuden mit insgesamt 29,5 Mill. Ku­bikmetern umbauter Fläche, was etwa 330000 Diensträumen entspricht. Oder nehmen wir den Raum von Mailand, wo im Jahre 1967 geplant wurde, in der sich an Mailand anschließenden Gemeinde San Donä (20 000 Einwohner) ein Verwal­tungszentrum mit 30000 Räumen zu schaffen. Der Wert allein dieser Bauten beträgt 150—200 Md. Lire. Die Londoner Effektenbörse zog unlängst in einen großen Wolkenkratzer in der Nähe der Bank von England um, wodurch die im Vereinigten Königreich operierenden Leitungen der Effektenbörsen an acht Stellen konzentriert wurden statt der bisherigen 21. Man kann sich leicht vorstellen, welcher Welle von Spekulatio­nen diese Standortveränderungen den Weg gebahnt haben.

Wir haben bereits einige Vorschläge zur Lösung des Problems der städtischen Rente erwähnt, die von politischen Kräf­ten und Presseorganen der Länder des Gemeinsamen Marktes unterbreitet wor­den sind. In Italien ist dieses Problem theoretisch und politisch schon recht gut ausgearbeitet, und der Kampf darum hat den Charakter einer Massenbewegung angenommen. Seit Anfang der 50er Jahre kämpft die IKP entschlossen gegen die spekulative Rente und tritt dabei in einer Einheitsfront mit den anderen linken und radikalen Kräften auf. Gegenwärtig be­trachtet die Kommunistische Partei die­sen Kampf als eine der Hauptaufgaben^ deren Lösung es gestatten würde, die Richtung der nationalen Wirtschaft so zu verändern, daß das gesellschaftliche Bedürfnis statt der übermäßigen indi­viduellen Konsumtion gefördert wird. Gleichzeitig würde der Produktionsapparat des Landes von einer erstickenden Bürde befreit werden, die ihn deswegen belastet, weil ein großer Teil des Na­tionaleinkommens durch die parasitäre Rente verschlungen wird.

Besonders aktiv ist die Tätigkeit in den Organen der Selbstverwaltung, die für die Planung des örtlichen Städtebaus verantwortlich sind, sowie in den neuen, vor zwei Jahren geschaffenen Organen der Regionalverwaltung, denen die zuvor in den Kompetenzbereich staatlicher Organe fallenden Befugnisse auf dem Gebiete des Bauwesens und der territo­rialen Planung übergeben worden sind. An dieser Tätigkeit beteiligen sich außer­dem weitgehend die Gewerkschaftsbe­wegung und die verschiedenen Mas­senorganisationen, die geschaffen wur­den, um die Interessen der Mieter und der preiswerte Wohnungen suchenden Werk­tätigen zu schützen.

Im Jahre 1971 nahm das Parlament das „Gesetz über die Wohnungsreform" an, nach dem die örtlichen Selbstverwal­tungsorgane bis zu 60 Prozent des für die städtische Entwicklung vorgesehenen Territoriums expropriieren und Or­ganisationen oder Privatpersonen auf Grund einer bestimmten Vereinbarung zur Nutzung überlassen können, welche die Bedingungen der Nutzung und die Höhe der Entschädigung für die erbauten Immobilien regelt. Dieses Gesetz war ein wichtiger Schritt vorwärts im Vergleich zu der vorangegangenen Gesetzgebung, vor allem gegründet auf die Formen und Mechanismen der Besteuerung, mit de­ren Hilfe der Staat wenigstens einen Teil der schnell wachsenden Renten zurück­zubekommen versucht. Und dennoch ist das alles eine Teilmaßnahme, weil sich das Gesetz nicht auf das gesamte Territo­rium des Städtebaus erstreckte. Außer­dem machte es der in Italien nach 1971 einsetzende politische Rückschritt, des­sen Höhepunkt die Bildung einer rechtszentristischen Regierung war, bis­lang nicht möglich, das Wohnungsgesetz voll zu verwirklichen.

Heute, bei der veränderten politischen Situation im Lande, geht der Kampf mit neuer Kraft weiter.

Wir wollen uns allein auf das Jahr 1973 beschränken und einige der Hauptepisoden nennen: Die gesamtnationale Kundgebung von 200000 Bauschaffenden „für Wohnungen, für gesellschaftliche Kon-
trolle über den Wohnungsbau", die am 14. April in Rom von den drei Gewerkschaftsorganisationen (Allgemeiner Italienischer Gewerkschaftsbund [Confederazione Generale Italiana del Lavoro —
CGIL], Italienische Konföderation der Gewerkschaften der Werktätigen [Confe-derazione Italiana Sindicati Lavoratori— CISL], Italienische Union der Arbeit [Unione Italiana del Lavoro — UIL]) organisiert wurde; eine Manifestation in Rom, eine zentrale Kampfkundgebung der Werktätigen in Süditalien, die eine Politik des Schutzes und der Wiederher­stellung in den Gebieten forderten, die im Januar 1973 schwer durch Überschwem­mungen betroffen worden waren; zahl­reiche regionale und gesamtnationale Manifestationen, die durch die Vereinigte Nationale Mietergewerkschaft organi­siert wurden; der „Streit um die Woh­nung", begonnen im November vorigen Jahres durch die Föderation der drei Baugewerkschaften, die von der Regie­rung die Realisierung des Gesetzes von 1971 und staatliche Kapitalinvestitionen in die Bau Wirtschaft, besonders in Süd­italien, fordert.

Im Ergebnis der Diskussion, die sich Ende November 1973 entfaltete, ver­pflichtete das Parlament die Regierung, beiden Kammern den Entwurf eines Gesetzes über die Reform des Städtebaus vorzulegen, das in den kommenden zwei Jahren verabschiedet werden soll. Die Vorschläge, die die Kommunisten mit den anderen linken und demokratischen Kräften erörtern, sind auf die Errichtung eines einheitlichen Regimes für die Nut­zung des städtischen Territoriums ge­richtet, das auf der Trennung des Bau­rechts (Jus aedificandi) vom Eigentum an Grund und Boden gegründet wäre und die Bildung der Rente selbst wesentlich einschränken würde. Das Baurecht würde den örtlichen Machtorganen (den Gemeinden und den Regionen) zufallen, die es denjenigen, die davon Gebrauch machen wollen, gewähren und dabei die Bedingungen und die Dauer der Nutzung sowie die Preise für die erbauten Immo­bilien festsetzen würde. Alle Aspekte der Planung, der Baupolitik und der Regulie­rung des Baurechts müssen dabei in der vollen Kompetenz der demokratischen Versammlungen der Gemeinden und Regionen liegen.

Endnoten

1 „Economie et Politique", Januar 1972, S.35.
2 „Appunti di inquadramento per una analisi della rendita urbana e delle politiche di intervento in materia", Roma, 26—27 gennaio 1973.
3 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S.782.
4 „Der Spiegel", 16. Juli 1973, S.26.
5 „Le Monde", 11. April 1973.
6 „Le Monde", 29—30.Oktober 1972.

Quelle: Piero Della Seta, An den Quellen der Wohnungskrise, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Zeitschrift der kommunistischen und Arbeiterparteien, Nr. 4/1974, Berlin, S.533-538