Die Lehren der Bodenreform November 1945
Ein Zeitschriftenartikel /
Deutsche Volkszeitung (Berlin), 30. November 1945

von
Edwin Hoernle

09/2015

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Die erste Etappe der demokratischen Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ist in großen Zügen ab­geschlossen. Sie hat keine zehn Wochen gedauert. Nach den vorliegenden Berichtsziffern wurden bis Ende Oktober 2,8 Mil­lionen Hektar Betriebsfläche, darunter 940 000 Hektar Wald, aus privatem und Staatsbesitz in den Bodenfonds für die Durch­führung der Reform überführt.
Aus diesem Bodenfonds waren bis 10. November 2,1 Millionen Hektar zur sofortigen Auftei­lung an landarme und landlose Bauern, Landarbeiter und Um­siedler freigegeben worden. Am 10. November hatten 269698 Bodenanwärter rund 1338 000 Hektar Boden erhalten, und 7735, Großgrundbesitzungen haben damit aufgehört zu existie­ren.

Hiermit ist zweifellos eines der Hauptziele der demokratischen Bodenreform erreicht: die Vernichtung des feudaljunkerlichen Großgrundbesitzes, dieser „Bastion der Reaktion und des Faschismus in unserem Lande", wie es im Artikel I des Gesetzes über die Bodenreform mit Recht heißt. Auch der jahrhundertealte Traum der landlosen und landarmen Bauern und Landarbeiter von der Übergabe des Großgrundbesitzes in ihre Hand ist damit zu einem bedeutenden Teil in Erfüllung gegangen.

Dies ist ein großer historischer Erfolg, den niemand bestreiten kann.

Es wäre jedoch völlig verkehrt, die Bodenreform damit als 'beendet und unsere Aufgaben für die Bodenreform als erledigt zu betrachten. Im Gegenteil! Die demokratische Bodenreform besteht nicht nur in der Konfiskation und Übergabe des Bodens an die Bauern, Landarbeiter und Umsiedler. Mit dem Abschluß der Bodenverteilung tritt sie vielmehr in ihr zweites, entscheidendes Stadium ein: in das Stadium der Sicherstellung des Aufbaues der neuen Bauernwirtschaften.


Quelle: http://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/

Beim Übergang von der einen zur anderen Etappe ist es jetzt notwendig, aus dem zurückgelegten Abschnitt die Lehren zu ziehen. Welchen Kräften haben wir die Erfolge zu verdanken?

Die erste und die Hauptlehre, die wir ziehen, ist folgende: Die demokratische Bodenreform in ihrer bisherigen Etappe konnte nur deshalb zum vollen Erfolg führen, weil sie getragen war von der Einheit aller wirklich antifaschistisch­demokratischen Kräfte. Sie wurde eingeleitet von dem Aufruf der vier antifaschistisch-demokratischen Parteien, sie wurde gesetzlich fundiert durch die einhelligen Beschlüsse der aus diesen Parteien zusammengesetzten Provinzial- und Landesver­waltungen, sie wurde gestützt durch die freien Gewerkschaften, durch die Mitarbeit von Tausenden antifaschistischen Arbeitern, Angestellten und Intellektuellen verschiedener politischer Rich­tung, sie wurde pflichttreu und gewissenhaft geleitet durch die demokratischen Landräte und Bürgermeister, die trotz des ge­waltigen Andranges der laufenden Amtsgeschäfte sich nur mit ganz wenigen Ausnahmen willig dieser zusätzlichen Aufgabe unterzogen.

In einem Wort: Die Bodenreform stützte sich auf bisher beispielloses Zusammenarbeiten der antifaschistischen Kräfte. Sie war nicht Parteiensache, sie war nicht bloß Bauernsache, sie war Sache aller demokratischen Kräfte im deutschen Volke, und diese Einheit war am stärksten nicht an der Spitze, sondern an der Basis.

Die zweite Lehre: Die Bodenreform konnte nur des­halb sich so rasch und gründlich entwickeln, weil sie in ihrer Durchführung das Werk der beteiligten Bauern- und Landarbei­termassen selbst war. Sie war echt demokratisch, auch in ihrer Durchführung. Wir brauchen ja nur den Vergleich zu ziehen mit jener kümmerlichen, in ihren Anfängen erbärmlich steckengeblie­benen Scheinbodenreform vom Jahre 1919. Damals sollten ge­mäß Paragraph 13 des Reichssiedlungsgesetzes rund 1,4 Millio­nen Hektar Latifundienbesitz an landlose und landarme Bauern aufgeteilt werden. Wahrlich eine bescheidene Ziffer bei einem privaten und staatlichen Großgrundbesitz von 17,7 Millionen Hektar oder 40 Prozent der gesamten land- und forstwirtschaft­lich genutzten Fläche im damaligen Deutschland.

Was wurde erreicht? Nach den ersten zehn Jahren dieser „Bodenreform" waren faktisch 357 805 Hektar aufgeteilt. In den Jahren der Hitlerherrschaft nach 1933 wurde diese „Ostsied­lung" zur reinen Parteisache der Nazis und ihrer angegliederten Terrorverbände. Die eigentliche Bauernsiedlung in Deutschland hatte aufgehört. Ostdeutschland blieb, wie einst im Kaiserreich, Domäne der reaktionären, militaristischen Feudalherren und Großagrarier, ein Herd des deutschen Imperialismus.

Diesmal gab es in der Bodenreform kein Reichssiedlungsge­setz, sondern Verordnungen der demokratischen Landes- und Provinzialverwaltungen. Es gab keine besonderen Siedlungs­gesellschaften mit dem Auftrage, langatmige Kaufverträge mit einzelnen Großagrariern abzuschließen, die endlich erworbenen Güter „fachmännisch" aufzuteilen, fix und fertige „Siedlerstel­len" zu errichten, um sie schließlich zu doppelten und dreifachen Preisen an zahlungsfähige Bewerber oder betrogene Schulden­bauern abzugeben.

Dafür aber wählten unsere bodenarmen und landlosen Bauern, Landarbeiter und Umsiedler in freien Versammlungen ortsstän­dige Kommissionen zur Durchführung der Bodenreform. Die Behörden stellten nur eine Bedingung: Faschisten und Reaktio­näre dürfen nicht in die Bodenkommission. Durch ihre Boden­kommission haben die landbedürftigen Bauern, Landarbeiter und Umsiedler selber an Ort und Stelle den Umfang und die Art der zu enteignenden Güter festgestellt. Selber nahmen sie die Aufstellung der Bewerberliste und die Auswahl der Siedler vor. Selber, unter Leitung eines Vermessungstechnikers, schrit­ten die Neubauern ihre Grundstücke ab und schlugen die Grenz­pfähle ein. Die öffentliche Gewalt beschränkte sich auf Direk­tiven, Kontrollen und Bestätigungen der Urkunden. So wurde die Reform in ihrer Durchführung das Werk der Bauern selbst, und so nur erklärt sich der Schwung und die Kraft dieser Boden­reform.

Die dritte Lehre, die wir aus der bisherigen Etappe der Bodenreform ziehen, ist die Kühnheit, mit der sich die Massenaktion über die Bedenken der allzu Bedenklichen, über alle Widerstände geheimer und offener Gegner praktisch hin­wegsetzte. Es wurde alles an Argumenten gegen diese Boden­reform ins Feld geführt! „Sie gefährdet die Volksernährung." „Man hätte warten sollen, bis die Landwirtschaft sich von den Kriegswunden erholt hat." „Man hätte den Großagrariern, die nicht ausgesprochene Kriegsverbrecher und faschistische Aktivi­sten sind, ein Restgut von mindestens 100 Hektar belassen müs­sen." „Man hätte die Großagrarier entschädigen sollen."

Es lohnt sich heute nicht mehr, auf diese Argumente noch ein­zugehen. Sie sind von den Ereignissen überrannt worden. Die Mehrheit des Volkes in Stadt und Land ist über sie zur Tages­ordnung hinweggegangen. Nur ein Punkt soll kurz hier zurück­gewiesen werden. Es gibt Leute, die behaupten, die Boden­reform widerspreche den Prinzipien des bürgerlichen Privat­eigentums und damit sogar den Prinzipien der christlichen Religion. Wirkt diese Behauptung nicht mindestens sonderbar angesichts der offenen Tatsache, daß durch die Bodenreform schon heute 250 000 bisher Besitzlose und Umsiedlerfamilien ein bürgerliches Privateigentum erhalten haben? Mit Genugtuung können wir feststellen, daß eine zunehmende Zahl katholischer wie evangelischer Geistlicher aus der Tiefe ihrer ehrlichen Volks­verbundenheit heraus sich nicht bloß abstrakt, prinzipiell für eine Bodenreform aussprechen, sondern sich mutig zu ebendie-ser konkreten Bodenreform von heute bekennen und nicht nur bekennen, sondern daran mitarbeiten. Diese Geistlichen haben erkannt: Die Kirche wird nur leben, wenn sie mit dem Volke geht.

Noch eine vierte Lehre gilt es, aus der bisherigen Bo­denreform zu ziehen. Wie war es möglich, daß nur wenige Monate nach dem schmachvollen Ende des Hitlerregimes in einem Teil unserer von den Siegermächten militärisch besetzten Heimat eine Volksbewegung von dem Ausmaße der Boden­reformbewegung sich frei und ungehindert vollziehen konnte? Es war dies nur möglich dank der echt demokratischen, von jedem chauvinistischen Nationalhaß freien Stellungnahme der obersten sowjetischen Militärverwaltung. Sie hat ohne Vorbehalt die Verordnungen zur Bodenreform bestätigt. Sie hat die Ver­sammlungen der Bauern und die Tätigkeit der Bodenkommis­sionen bedingungslos zugelassen. Sie hat die Einheiten der Roten Armee angewiesen, einen bedeutenden Teil jener Großgüter freizugeben, die diese bisher aus ökonomischen und militärischen Gründen besetzt hielten. In einem Wort: Sie hat die Worte Stalins wahr gemacht, daß die Rote Armee zwar die Vernichtung des deutschen Faschismus und des Hitlerstaates auf ihre Fahnen geschrieben hat, aber niemals die Vernichtung des deutschen Volkes. Dank dieser Haltung der Roten Armee wurde es dem deutschen Volke möglich, einen ersten entscheidenden Schritt zu machen auf dem Wege zu einem neuen, friedlichen und demo­kratischen Deutschland.

Quelle: Edwin Hoernle, Zum Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern, Berlin 1972, S. 362-366

Edwin Hoernle (* 11. Dezember 1883 in Cannstatt; † 21. Juli 1952 in Bad Liebenstein) war ein kommunistischer Politiker, marxistischer Theoretiker, Gründungsmitglied des NKFD, Schriftsteller und Pädagoge. In der SBZ und der späteren DDR war auf dem Gebiet der Agrarpolitik aktiv.