Politisch-Psychologische Schriftenreihe der SEXPOL Nr. 2
Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse

von Wilhelm Reich

09/2015

trend
onlinezeitung

VORWORT zum Neuabdruck 1934

Das große Interesse für die vorliegende erste Zusammenfassung der Beziehungen zwischen dialektischem Materialismus und Psychoanalyse veranlasste den Verlag für Sexualpolitik, die Abhandlung, die 1927/1928 abgefasst wurde und 1929 in der Zeitschrift "Unter dem Banner des Marxismus" in russischer und deutscher Sprache erschien, in Broschürenform herauszubringen. Sie liegt auch in französisch, übersetzt in "La crise sexuelle", Paris, Edition Social. Int. 1933, vor.

Vor die Frage gestellt, die Abhandlung durch Neubearbeitung auf das Niveau meiner heutigen Anschauungen zu bringen oder sie der Öffentlichkeit in ihrer damaligen Fassung neuerdings vorzulegen, entschied ich mich für das zweite. An Grundsätzlichem habe ich nichts zu ändern; wohl sind die Einsichten im Laufe dieser sechs Jahre beträchtlich erweitert, stellenweise auch korrigiert und präzisiert worden. Im ganzen aber ist die konkrete Bearbeitung des Gebietes der Sexualökonomie, das hier erschlossen wurde, noch durchaus im Flusse der Entwicklung und mit schwerer neuer Problematik belastet. Ich zog es daher vor, zunächst die Abhandlung in ihrer alten Form herauszugeben und nur durch ergänzende Fußnoten *) anzuzeigen, welche Stellen anderwärts ausgearbeitet wurden, welche der Korrektur bedurften und wo sich mittlerweile neue Probleme und Lösungen ergaben. Die Abhandlung bleibt also nur die orientierende Einführung in die Psychoanalyse vom marxistischen Standpunkt aus. Eine ausführliche Angabe der seither erfolgten Publikationen wird den Leser hoffentlich befähigen, in meinen Schriften die Ergänzungen bzw. grundlegenden Darstellungen aufzusuchen.

Ich kann korrekterweise nicht länger verhehlen, dass alle Beteiligten sich von den hier dargelegten Zusammenhängen distanzierten. Freud lehnte die Beziehung von Marxismus und Psychoanalyse grundsätzlich ab und bezeichnete die beiden Disziplinen als einander konträr. Den gleichen Standpunkt beziehen die offiziellen Vertreter der Komintern. In beiden Lagern wurde ich vor die Alternative gestellt, zwischen der Psychoanalyse und dem revolutionärem Marxismus zu wählen. Ich überlasse es der Öffentlichkeit, zu beurteilen, und der Zukunft, zu entscheiden, wer hier Recht hat. Vielleicht gelingt es mir, einmal die Gründe zusammenzustellen, die diese Stellungnahmen veranlassen.

Am Schluss muss ich noch der vielen anderen Versuche gedenken, die in der Luft schwebenden Zusammenhänge von Marxismus und Psychologie zu fassen. Ohne zu ihnen jetzt sachlich Stellung zu nehmen, muss ich doch die Abgrenzung zunächst an der entscheidendsten Stelle vornehmen: Sie gehen alle an der Kernfrage, der sexuellen Not in der Masse der Erdbevölkerung vorbei und finden nicht den Anschluss an die von mir vertretene Grundanschauung und Praxis. Sie sind entweder akademisch-theoretisch reserviert oder weitherzig liberal in der Zuordnung von Soziologie und Psychologie. Doch fordern gerade die Kompliziertheit der Tatsachen und ihre Bedeutung für die Kulturpolitik der Revolution die allergenauesten Abgrenzungen und die schärfste Vertretung der einmal errungenen Gesichtspunkte im Nebel, den der ideologische und kulturelle Prozess unseres Seins noch immer bildet. Ich muss also auch die Verantwortung für alle Produktionen aus dem Gebiete der dialektisch- materialistischen Psychologie und Sexuologie ablehnen, die nicht von mir oder meinen Schülern stammen, das Gleiche gilt für derartige Arbeiten, die zwar von mir bestimmte Grundanschauungen übernehmen, sie aber durch Weglassung des Wesentlichsten schon jetzt verflachen und es außerdem offenbar als eine Gefahr oder als eine Verminderung des eigenen Ruhms betrachten, die Herkunft der übernommenen Ansichten zu nennen.

Im Oktober 1934
Wilhelm Reich

Die Schrift als PDF-Datei laden (150 kb)

Editorische Hinweise

Die Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie wurde im Mai 1934 von Wilhelm Reich im dänischen Exil in Kopenhagen gegründet und ab 1935 in Oslo weitergeführt. Sie erschien als Vierteljahresschrift, mehrmals als Doppelnummer, in insgesamt 15 Ausgaben. Die letzte Ausgabe erschien Anfang 1938.

Zusätzlich zu ihr erschienen im Sexpol-Verlag Bücher und Broschüren von Reich sowie eine Politisch-Psychologische Schriftenreihe der Sexpol.