Der letzte Tag des
Konzentrationslagers Buchenwald unter Naziherrschaft kam. Der
Tag, auf den manche Häftlinge seit zehn oder mehr Jahren
gewartet hatten — und nun kam er doch so plötzlich. Zeitig waren
die Häftlinge aus den ärmlichen Bettstellen, und die Ruhe nach
all diesen aufregenden Tagen tat beinahe weh. Der Lautsprecher
schwieg. Fast immer hatte man in den letzten Tagen bei
Durchsagen mit Besorgnis auf ihn gehört. Erst um 9.30 Uhr rief
der Rapportführer Hofschulte den Friseur ans Tor. Wieder trat
Ruhe ein. Die Erwartungstieg. Hunderte von Häftlingen belagerten
vormittags den Waldesausgang am unteren Teil des Lagers und
suchten das Gelände mit Hilfe von Ferngläsern ab, die aus den
optischen Werkstätten des Lagers entwendet waren. Schon war
MG.-Feuer zu hören. Es kam immer näher. Einige wollten vom
dritten Stockwerk der Effektenkammer aus in nordöstlicher
Richtung bereits Panzer gesehen haben. Das Artilleriefeuer wurde
immer deutlicher. Dumpfe Detonationen erfolgten in einer
Entfernung von etwa 5 km. Es gab keinen Zweifel mehr, die
Panzerspitzen der 3. amerikanischen Armee schoben sich näher
heran. Um 10.15 Uhr heulte die Sirene. Eine Viertelstunde später
befahl der Lagerkommandant einen reichsdeutschen
antifaschistischen Häftling und den Lagerältesten zu sich. Er
erklärte ihnen: „Es ist mir bekannt, daß verschiedene
Auslandssender zugeben mußten, daß seit dem Kommandowechsel im
KZ Buchenwald die Führung des Lagers besser geworden sei. Ich
übergebe Ihnen hiermit das Lager. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort,
daß sie diese Tatsache nicht eher bekanntgeben, als bis die
Amerikaner da sind, um eine Panik zu verhüten. Von mir aus
passiert Ihnen nichts ..."
Wer mochte diese Erklärung
glauben? Die Posten standen noch auf ihren Türmen. Betrug bis
zur letzten Minute. Man hörte, Pister habe den Kommandanten des
in der Nähe liegenden Flugplatzes Nohra angerufen und diesen
aufgefordert, einem Befehl Himmlers gemäß, das Lager zu
liquidieren. Als keine Bomber zur Verfügung standen, — diese
wurden sichtlich ebenso notwendig an der nahen Front gebraucht —
machte er den Vorschlag, Tiefflieger zu schicken und das Lager
mit Gasbomben angreifen zu lassen. Das Gerücht kann nicht auf
seine Wahrheit untersucht werden; richtig ist allerdings, daß
zu dieser Zeit bei der Truppe Gasmasken ausgegeben wurden.
Man kann nicht wissen, was von den
Faschisten noch im einzelnen geplant war. Die Erlebnisse der
Evakuierten waren zum Teil so schrecklich, daß man annehmen muß,
daß auch in dieser Stunde die Faschisten ihre Einschätzung des
menschlichen Lebens nicht geändert haben und daß es doch das
beste ist, sich auf die eigenen Waffen zu stützen. Die
amerikanischen Panzerspitzen und die Jabos über dem Lager, die
vorhandenen Waffen zum Gebrauch bereit, so wäre jede aggressive
Handlung der Faschisten scharf zurückgewiesen worden.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen neuer Jagdbomber um 11.45 Uhr
ertönte die bisher nur probeweise benutzte Feindalarmsirene.
SS-Leute rannten herum und suchten von ihrem Raubgut zu retten,
was sie nur konnten. Der Kommandant Pister war schon vorher mit
seinem Mörderstab abgefahren und um 12.10 Uhr hörten die
Häftlinge zum letztenmal die verhaßte Stimme des Rapportführers
Hofschulte: „Sämtliche SS-Leute aus dem Lager!" In Hochspannung
verrannen die letzten Minuten. Langsam kreisten in geringer Höhe
Aufklärer. MG-Salven knatterten unaufhörlich.
Dazwischen hörte man die Abschüsse
aus Panzerkanonen. Der Kampflärm wurde immer deutlicher. Auf
Dächern und auf jedem erhöhten Platz standen Häftlinge und sahen
ins Tal hinab. Scherenfernrohre tauchten auf und man suchte
festzustellen, ob die Kampfhandlungen in Hottelstedt, einem etwa
1 km vom Lager entfernten Dorf, klar ausgemacht werden konnten.
Die Mühle brannte. Das war die Ostseite. Also schössen die
Deutschen dorthin und demzufolge mußten die Amerikaner im Dorf
sein.
Um 14 Uhr marschierte eine
Kompagnie SS-Reserve in Richtung Front, bog dann aber ab, um
sich in Richtung Osten „abzusetzen". Panzerfäuste waren auf den
Türmen verteilt. Um das Lager herum wurde immer noch gewühlt, um
Löcher für die Panzerspitzen zu schaffen. Da krachte es im Wald.
Hinter dem Wald gingen große, schwarze Rauchpilze hoch.
MG-Schüsse gellen auf, Tiefflieger schießen zur Erde. Das müssen
flüchtende Panzer sein!
Wie vom Fieber geschüttelt liegen
die bewaffneten Stoßtrupps des Lagers hinter Hügeln, zum Sturm
auf den Zaun bereit. Noch immer kein Befehl zum Eingreifen. Im
oberen Kommandanturbereich ist es noch ruhiger. Jemand ruft die
Posten von den Türmen. Zwei SS-Russen drücken sich aus der
Feuerlinie. Ein russischer Häftling ruft ihnen zu, die Waffen
wegzuwerfen. Sie tun es. Der Sturm bricht los. An fünf, sechs
Stellen wird der Zaun zerrissen. Schüsse fallen in nächster
Nähe. Über den Appellplatz rast eine Gruppe von Bewaffneten.
Lagerältester Eiden an ihrer Spitze. Es
passieren auch schon die ersten Panzer die Straße nach
Hottelstedt-SS-Revier. Sie dringen in den Kommandanturbereich
ein und durchfahren ihn, ohne sich aufzuhalten, in Richtung
Weimar. Am Tor wurde die schwerbewaffnete Wache überwältigt.
Kameraden vom Lagerschutz erstürmten den Turm, montierten das
schwere MG. ab. Die ersten Handgranaten und Panzerfäuste wurden
erbeutet. Auch ander hinteren Seite des Lagers wurden die Zäune
durchbrochen und die Wachtürme gestürmt.
Um 15.15 Uhr flattert die weiße
Fahne auf dem Turm 1. Das Lager rast. Alles will Waffen und
drängt nach außen. Die Kasernen werden gestürmt. Überall werden
Waffen erbeutet, ins Lager gebracht und neue Gruppen mit ihnen
ausgerüstet. Die ersten Gefangenen werden eingebracht. Der
Lagerälteste schickt seinen ersten Aufruf durch das Mikrophon:
„Kameraden! Die Faschisten sind geflohen. Ein internationales
Lagerkomitee hat die Macht übernommen. Wir fordern euch auf,
Ruhe und Ordnung zu bewahren. Das Lager wird gesichert. Bleibt,
soweit ihr nicht eingeteilt seid, in den Blocks!" Das Lager
jubelte und blieb nicht in den Blocks. Jeder wollte eine Waffe
und wollte dabei sein. Ein seit 1933 in Haft befindlicher
Kommunist begrüßte die ersten, den Durchbruchspanzern folgenden
Spähwagen und gab ihnen Auskunft. Ununterbrochen rollten die
Panzer über die Straße. Laufend wurden SS-Leute, Soldaten und in
Uniform gesteckte Hitlerjungen eingebracht. Das Schlachtfeld war
mit abgerissenen Achselstücken und den sonst so beliebten
Sternen bedeckt. Zwei tote SS-Leute lagen an der Straße ...
Einer der gefährlichsten SS-Männer, die Buchenwald kennengelernt
hat, — SS-Unterscharführer Heinrich — suchte in gestreifter
Häftlingskleidung das Weite. Er wurde erkannt und eine Salve aus
der Mpi setzte seiner schwarzen Seele ein Ende.
Das internationale Komitee hatte
sofort nach Auftauchen der ersten Panzer seine Arbeit
aufgenommen, und als gegen Abend die ersten amerikanischen
Offiziere den Kommandanturbereich betraten, war bereits durch
die militärische Leitung eine Sicherheitskette um das ganze
Lager gezogen ... Die amerikanischen Offiziere sprachen sich
anerkennend über das tatkräftige Handeln der Häftlinge aus und
sagten, nachdem sie über die Lage informiert waren, alle
mögliche Hilfe zu.
Die Schlacht um das
Konzentrationslager Buchenwald war geschlagen und gewonnen.
Zwei Kameraden mußten am Tag der Befreiung sterben. Im ersten
Getümmel des Sturmes traf sie die Kugel.
21 000 Häftlinge des KZ.
Buchenwald sind frei! Hunderte von Häftlingen, seit der
nationalsozialistischen Machtübernahme in Gefangenschaft, unter
dem schrecklichsten Terror, den die Geschichte bisher
kennengelernt hat, Tausende, die mehr als fünf Jahre in dieser
Hölle Buchenwald geschmachtet haben, sind frei!
Frei! Sie dürfen nicht mehr
geschlagen werden! Man darf sie nicht mehr treten und
auspeitschen, man darf sie nicht mehr erschießen. 21 000
Häftlinge sind wieder Menschen geworden! Sie dürfen wieder an
die Heimat denken, an ihre Rückkehr in die
Heimat glauben, glauben auch an das Wiedersehen mit
Menschen, die ihnen in all den Jahren genommen waren. Und wenn
der Vater nicht mehr das Kind findet und einem erwachsenen
Menschen die Hand drückt, wenn der Mann, der die junge Frau
verlassen hat, nun eine von Gram verhärmte Frau wiederfindet, es
war nicht umsonst. Die Knechtschaft ist zu Ende. Die
faschistische Bestie liegt im Verrecken.
Editorische Hinweise
Entnommen
aus: Rudi Jahn / KPD (Hrg.) Das war Buchenwald! Ein
Tatsachenbericht. Leipzig, Verlag für Wissenschaft und
Literatur, [1945]., S. 113-116.
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