Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Regierung rechter Sozialdemokraten plant neue soziale Schandtaten
Und ist bei einem absoluten Unpopularitäts-Rekord angelangt

09-2014

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Man muss keinem Aberglauben anhängen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Zahl 13 für François Hollande Unglück bedeutet. 13 Prozent, das ist der augenblickliche Popularitätswert des französischen Staatspräsidenten François Hollande: So viele Französinnen und Franzosen vertrauen noch auf seine Politik.

Er wurde zuerst durch das rechtskonservative Wochenmagazin Figaro-Magazine vom vergangenen Wochenende des 06./07. September 14 publik, jedoch kurz darauf durch sämtliche Umfrageinstitute bestätigt – überall befindet sich Hollande im Sturzflug (ob er nun bei 13 oder bei 19 Prozent an „Popularitätswerten“ ankommt). Das Ergebnis ist also kein „Ausreißer“, sondern spiegelt sich in sämtlichen Befragungen wieder. Bereits seine Amtsvorgänger Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy erlebten Tiefswerte an Popularität, Ersterer mit 16 Prozent und Letzterer mit 20 Prozent, aber jeweils in ihrem letzten Amtsjahr. Doch Hollande hat, blickt man auf den Wahlkalender, noch drei Jahre vor sich. Auch wenn nicht nur der Chefredakteur des stark rechtslastigen Figaro-Magazine, Carl Meeus, die Auffassung vertritt: „Mit 13 Prozent Popularität kann man nicht mehr wirklich regieren.“ Seine rekordverdächtige Unbeliebtheit, fährt Meeus fährt, „zerstört jede Handlungsfähigkeit des Präsidenten“.

Auch sein Premierminister Manuel Valls, der im April 2014 mit einem „Macherimage“ und rund 60 Prozent Unterstützung in der öffentlichen Meinung antrat, ist mittlerweile bei nur noch dreißig Prozent angekommen, und verlor 14 Prozent im Verlauf des diesjährigen Hochsommers. Es ist also ganz offenkundig eine Politik, die durch die Wahlbevölkerung abgestraft wird, und nicht nur eine Persönlichkeit. Darin liegt auch kein Wunder. Wer im Jahr 2012 mit einem halblinken Diskurs gewählt wird, um – so die verbreitete Erwartung - zumindest eine etwas sozialere und etwas stärker bürgerrechtsorientierte Politik als sein Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy zu verfolgen, um 2014 in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik noch rechts am zuvor regierenden Bürgerblock vorbeizuziehen, kann mit wenig Unterstützung rechnen.

Die Rechten in der Gesellschaft wittern Betrug und behaupten, es handele sich nur um schöne wirtschaftsliberale Worte, denen keine Tate folgten, was allerdings in der Realität unzutreffend ist. Oder sie attackieren die Regierung, statt bei ihrer mit der Rechten kompatiblen Wirtschaftspolitik, auf dem Feld der „moralischen Werte“, wie man im Vorjahr bei den Massenprotesten gegen die Homosexuellenehe sehen konnte. Ein Teil der französischen Rechten hängt noch immer der historischen Sichtweise an, dass ein Sozialist an der Regierung grundsätzlich illegitim sei, da dies im Grunde „widernatürlich“ sei und einer natur- oder Gottgegebenen „moralischen Ordnung“ widerspreche. Und auf der Linken zeigt man sich zugleich wenig begeistert darüber, dass die „eigene“ Regierung jedenfalls auf vielen Feldern schlicht die Politik der Gegenseite betreibe.

Anekdote über die „Zahnlosen“ – zutreffend oder unwahr?

Die schlechten Umfragewerte wurden erhoben, noch bevor am vergangenen Donnerstag, den 04. September 14 das Buch von François Hollandes sitzengelassener früherer Lebensgefährtin Valérie Trierweiler mit 200.000 Auflage in den Handel ausgeliefert wurde. Es war unter hoher Geheimhaltung vorbereitet und in einer deutschen Druckerei angefertigt worden. Unter dem ironischen Titel „Danke für diesen Augenblick“ (Merci pour ce moment) rechnet die ehemalige Journalistin Trierweiler, welche Hollande für die rheblich jüngere Schauspielerin Julie Gayet hatte sitzen lassen, unerbittlich mit ihm ab. Und sie gibt an, dem Publikum bislang unbekannte Charakterzüge seines Präsidenten zu verraten. Das Buch wurde schnell zum Publikumsrenner, mit bereits circa 170.000 verkauften Exemplaren – davon 130.000 allein in den ersten vier Tagen -, und ist vielerorts bereits begriffen; die Rechte an einer bald erfolgenden Neuauflage wurden von einem US-Verleger aufgekauft. Viele Buchhändler/innen haben jedoch bereits die Schnauze voll von diesem Voyeurismus und würden ganz gern in diesen Tagen auch noch andere Werte, solche mit echtem literarischem Wert, absetzen. Unter dem Titel Non merci pour ce moment! („Nein danke für diesen Augenblick“) lancierte ein Teil des Buchhändlergewerbes einen Aufruf, in dem es u.a. an François Hollande und Valérie Trierweiler gerichtet heißt, man sei nicht ihr „Schmutzkübel“ und dazu da, ihre „schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen“.

Nicht alles an den Enthüllungen von Valérie Trierweiler muss stimmen, da das persönliche Rachebedürfnis zum Teil die Feder geführt haben mag - zumal sie in aller Regel völlig unüberprüfbar sind, und auf angeblichen oder tatsächlichen privaten Äußerungen François Hollandes in seiner Intimsphäre beruhen. Trierweiler behauptet, bei Hollande einen „Luxusgeschmack“ entdeckt zu haben, welcher ihr zuwider gewesen sei – allerdings wird ihr entgegnet, sie entdecke ihn reichlich spät, nämlich nach neun Jahren Liaison mit dem Politiker und nachdem er sie sitzen gelassen habe. Noch im Januar 14, also ein gutes Vierteljahr nach dem Auffliegen von Hollandes paralleler Affäre mit der Schauspielerin Julie Gayet, wollte Trierweiler noch zu ihm zurückkehren, wie sie selbst schreibt. Falls sie also einige seiner Charakterzüge derart wenig mochte, wie sie nun behauptet, so kommt ihr diese Erkenntnis reichlich spät. (Und „Luxusgeschmäcker“ passen eher zu seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy, welcher offen als prahlender Neureicher auftrat, als zu Hollande. Vor laufenden Kameras wurde wiederholt sein Wahlkreissitz in seinem früheren Wahlbezirk im ländlichen Département Corrèze gezeigt, ein äußerst einfach ausgestattetes Zimmer ohne jeglichen Luxus. Allerdings wuchs Hollande in Oberklassenverhältnissen auf und ist dadurch an ein gewisses Niveau au Komfort gewöhnt. Entscheidend ist jedoch überhaupt nicht seine vermeintliche – absolut unbewiesene – individuelle Bösartigkeit, sondern die beschissene Politik, für die seine gesamte Regierung und nicht er als Einzelperson verantwortlich zeichnet.)

Aber zumindest eine Anekdote, die in dem Buch kolportiert wird, hat bereits in der Öffentlichkeit erhebliche Wirkung entfaltet und machte binnen Stunden überall von sich reden. In privater Runde soll Hollande demnach über eine mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattete Familie gehöhnte, und diese ironisch als „die Zahnlosen“ bezeichnet haben, die „nicht schön anzusehen“ seien. Die angebliche soziale Ader, welche Hollande als Präsidentschaftskandidat beschworen hatte, ist damit endgültig dementiert. Auch wenn die Sache nicht unbedingt stimmt. Eine Reihe von Persönlichkeiten, die François Hollande näher kennen, politische Freunde und Feinde gleichermaßen, behaupten jedenfalls, dies sei unglaubwürdig; sie dementieren, dass die Anekdote zutrifft oder dass Hollande einen solchen persönlichen Zynismus an den Tag legen könnte. Doch sei es, wie es sei – wir können den eventuellen Wahrheitsgehalt der kolportierten privaten Aussage nicht beurteilen -, auf politischer Ebene ist es jedenfalls „zu spät“, um die Auswirkungen rückgängig zu machen.

Auf Twitter und im Internet mokierten sich die Spötter in Windeseile und machten aus Hollandes Wahlkampfslogan von 2012, Le changement maintenant („Den Wechsel jetzt, die Veränderung jetzt“) in Windeseile: Les sans-dents maintenant („Die Zahnlosen jetzt“), was lautmalerisch ähnlich klingt. Beobachter wiesen immer wieder darauf hin, dass eine wachsende Anzahl von Prekären, working-poor und Arbeitslosen sich keinerlei Zahnbehandlungen mehr leisteteten, weil diese schlicht zu teuer seien. Auch die französische Zahnärzteinnung protestierte gegen den angeblichen Ausspruch Hollandes. Einzelpersonen campierten an den ersten Tagen nächtlich vor dem Elysée-Palast, mit einer Zahnbürste bewaffnet, und ließen sich dabei durch TV-Kameras filmen.

Letzte Meldung: Am Vormittag dieses Mittwochs, den 10. September reagierte Präsident François Hollande nun offiziell auf diese Vorwürfe. Er bezeichnete die Story über die „Zahnlosen“ als „eine Lüge, die mich verletzt“.

Ganz rechte Sozialdemokraten auf Wirtschaftskurs

Seitdem Hollandes Premierministers Valls zu Anfang der letzten Augustwoche seine Regierung umbildete, ist ein strammer sozialdemokratischer Rechtskurs angesagt. Die Kabinettsumbildung diente dazu, den wegen Kritik am Regierungskurs aufgefallenen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg – ein halblinker Sozialdemokrat mit etatistischen und protektionistischen Untertönen – zu entfernen. Mit ihm gingen Schulminister Benoît Hamon, ein früherer Wortführer des linken Parteiflügels. Und Kulturministerin Aurélie Filipetti, die vielleicht nicht länger die soziale Kahlschlagpolitik gegen die Kulturprekären oder intermittents mittragen mochte... und/oder prompt mit dem bisherigen Regierungs-Bösewicht Arnaud Montebourg durchbrannte; Fotos der beiden als turtelndes Liebespaar in San Francisco tauchten plötzlich im Regenbogenmagazin Paris Match vom 11.09.14 auf... (Beide erstatteten mittlerweile Strafanzeige wegen „Verletzung ihres Privatlebens“.)

Allein die relativ progressive, karibikfranzösische Justizministerin Christiane Taubira verblieb im Amt. François Hollande hatte sie, laut Enthüllungen der Investigativ- und Satirezeitung Le Canard enchaîné (03. September), mit den Worten zum Bleiben beschworen: „Du bist mein allerletztes linkes Markenzeichen!“ Taubira möchte gerne noch ihre geplante Justizreform zu Ende führen, trotz Widerständen von Valls, dem ihre Konzeption nicht autoritär genug ist. Und die Satiresendung Les Guignols de l’info beim TV-Sender Canal+ spottet tagein tagaus über ein umgebildetes Kabinett, das sie nur noch mit dem Adjektiv „rechts“ (de droite) belegt. In einer Episode der Polit-Puppensendung, die seit 1988 fast täglich ausgestrahlt wird, wendet sich Hollande mit der bangen Frage an Premierminister Valls: „Wie konnten sich nur linke Minister einschleichen (gemeint: ins bisherige Regierungskabinett)?“ Antwort: „Nun, sie hatten einen Trick drauf, sie hatten sich Krawatten umgehängt!“

Wirtschaftsliberaler Sunny Boy Emmanuel Macron

Die frisch umgebildete Regierung entzündete auch sogleich ein Feuerwerk von vor allem wirtschaftspolitischen Ankündigungen. Der neue, erst 36jährige Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, ein früherer Geschäftsbanker und angeblich Millionär, feierte seinen Einstand mit einem Angriff auf die 2000 durch die damalige sozialdemokratische Regierung durchgeführte Arbeitszeitverkürzung. Die theoretisch geltende 35-Stunden-Woche sei viel zu starr und müsse aufgeweicht werden, verkündete Marcon, und übernahm dadurch einen im vergangenen Jahrzehnt durch Wirtschaftsliberale ständig wiederholten Topos. Er wird dadurch nicht wahrer: Das Gesetz aus dem Jahr 2000 setzt nur einen verpflichtenden Maßstab für die reguläre Arbeitszeit im Jahreszyklus, lässt allerdings sowohl „flexible“ und stark variierende Arbeitszeiten innerhalb des Jahres, als auch über die Obergrenze hinausgehende Überstunden zu.

Arbeitsminister François Rebsamen hat zwar in den letzten Monaten trotz wiederholter Ankündigungen nicht die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Aber kaum war er im Amt bestätigt, verkündete er Ende August d.J., nun würden die angeblich zu Sozialbetrug neigenden Erwerbslosen endlich Kontrollen entzogen: Wer keine Anstrengungen zur Stellensuche nachweisen kann, dem oder der droht der vorübergehende Entzug der Leistungen aus der Arbeitslosenkasse. In Wirklichkeit war ein entsprechender Kontrollmechanismus jedoch, in aller Diskretion und ohne Aufhebens darum zu veranstalten, seit einem Jahr in vier französischen Départements ausprobiert worden. Dafür wurden spezielle Kontrollteams eingerichtet. Gut sechs Prozent der kontrollierten Erwerbslosen verloren ihre Bezüge, in einem ersten Anlauf je für 14 Tage. Es geht nun darum, eine Verallgemeinerung des erprobten Verfahrens anzustreben.

Auch innerhalb der regierenden Sozialdemokratie protestierten viele, selbst Parteichef Jean-Christophe Cambadélis, gegen das Vorhaben. Am längeren Hebel dürfte aber letztendlich der amtierende Minister Rebsamen sitzen. Am Rande der Sommeruniversität in La Rochelle hatte Rebsamen über seinen Parteivorsitzenden gespottet, dieser „kenne die Welt der Unternehmen nicht“ und habe „in seinem Leben noch nie gearbeitet“ (zitiert n. der Wochenzeitung Le Canard enchaîné). Gemeint war: außerhalb der Politik. Ein Vorwurf, welcher allerdings auf Rebsamen, der im Leben nie etwas Anderes war als Berufspolitiker, beginnend mit dem Amt des Oberbürgermeisters von Dijon, noch stärker zutrifft als auf Cambadélis. Letzterer begann seine Karriere dereinst als Studentenführer und Kader einer sektiererischen Variante des französischen Trotzkismus, und steht heute auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie.

Sozialer Kahlschlag?

Zu den weiteren ersten Maßnahmen des neuen, teilweise neu-alten, Kabinetts gehörte auch die Aufhebung des Mietspiegels, den die bis März dieses Jahres amtierende grüne Wohnungsministerin Cécile Duflot eingeführt hatte. Es handelte sich um eine Mietpreisbindung, die für Obergrenzen bei Neuvermietung sorgen und so die explodierenden Mietkosten zumindest ein Stück weit eindämmen soll. Valls erklärte sie zum Hindernis für den Wohnungsbau und setzt nun stattdessen auf wirtschaftsliberale Rezepte wie massive Steuergeschenke für Investoren, die Geld in den Bau stecken. Lediglich in der Hauptstadt Paris soll der Mietspiegel „probeweise“ weiterhin beibehalten werden. Martine Aubry – Bürgermeisterin von Lille, der je nach Angaben zweit- oder dritt-teuersten Stadt in Frankreich, sowie gescheiterte Anwärterin auf die Ämter von Präsident und Premierminister, die Valls also ganz gerne einen auswischt – protestierte öffentlichkeitswirksam. Und erreichte, dass der Mietspiegel neben Paris auch in Lille weiterhin gilt. Und perspektivisch in anderen Städten, deren Bürgermeister/innen spezielle Anträge beim Premierminister darauf stellen und dadurch eine Sonderverordnung erreichen. Überall anders wird er abgeschafft. Ursprünglich hatte das Gesetz von Cécile Duflot einen Mietspiegel in 28 Ballungsräumen mit „angespanntem Wohnungsmarkt“ einführen sollen.

Da die Regierung ferner noch weitere, bereits vor der Kabinettsumbildung angekündigte „Reform“vorhaben in der Hinderhand hält – eine gesetzliche Erleichterung von Sonntagsarbeit, die Abschaffung der bislang alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen der Arbeitsgerichte durch sämtliche Lohnabhängigen sowie Arbeitgeber, oder die mehrjährige Aussetzung der Verpflichtung zur Einrichtung von Betriebsräten in Unternehmen mit wachsender Mitarbeiterzahl -, könnte sie auch in der eigenen Partei auf Hindernisse stoßen. Nicht wenige ihrer Mitglieder ballen längst die Fäuste in der Tasche über die Politik von Manuel Valls, der als Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der Sozialdemokratie bei der Urabstimmung 2011 mit einer innerparteilichen Rechtsaußenposition angetreten war und dabei nur 5,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte.

In La Rochelle weigerte sich der Ordnerdienst der Partei, den Premierminister Valls zu schützen, und bei seinem Auftritt wurde er bei der Nennung des Worts „Unternehmen“ ausgepfiffen. Kurz zuvor hatte Manuel Valls nämlich, als Antrittsrede nach der Kabinettsumbildung, eine Ansprache bei der Sommeruniversität des Arbeitgeberverbands MEDEF im Pariser Umland gehalten. Dort proklamierte er seine „Liebe für die Unternehmen“, und meinte dabei sicherlich nicht vergesellschaftete Unternehmen unter demokratischer Kontrolle, wie das Programm der Sozialistischen Partei sie dereinst in den 1970er Jahren noch vorsah. Die Vertreter des Kapitalverbands hatten Valls stehende Ovationen gegeben. In seiner eigenen Partei sehen diese Kumpanei jedoch nicht alle gerne, jedenfalls nicht in dieser Ausmaß und dieser Offenheit.

Als Reaktion auf die Pfiffe zeigte sich allerdings der Chef der rechtssozialdemokratischen CFDT, eines heute allgemein als regierungsnahe zu bezeichnenden Gewerkschaftsdachverbands – des zweitstärksten hinter der wesentlich progressiveren CGT -, Laurent Berger, „entsetzt“. Wie seine Gewerkschaft dies seit zwanzig Jahren gelernt habe, müssten auch die Sozialdemokraten endlich das Privatkapital als freundlich zu behandelnden Dialogpartner schätzen lernen. Was sie in der Praxis allerdings ganz überwiegend auch tun. Allerdings hat selbst die CFDT, deren Spitze in den letzten fünfzehn Jahren mitunter sogar die Sozialistische Partei rechts überholt hatte, nun gegen die geplanten verschärften Kontrollen für Erwerbslose protestiert. Diese Ankündigung geht auch ihr zu weit.

Notverordnungsregime

Aufgrund der zumindest passiven Widerstände auch in der eigenen Partei will die sozialdemokratisch geführte Regierung nun – falls sie die Vertrauensabstimmung am 16. September 14 passiert, was jedoch eher wahrscheinlich ist, denn die kritischen sozialdemokratischen Abgeordneten oder ,frondeurs‘ wollen sich der Stimme enthalten (es werden jedoch nur Ja- und Nein-Stimmen gewertet, und Enthaltungen nicht mitgezählt) - zum Teil mit einer Art Notverordnungen regieren, wie Premier Valls ankündigte. Es handelt sich bei diesen ordonnances um Texte mit Gesetzeskraft, über die jedoch nicht im Parlament debattiert und abgestimmt wird, sondern deren Inhalt durch die Regierung im Alleingang und ohne Diskussion mit den Abgeordneten festgelegt wird. Die Rolle des Parlaments beschränkt sich bei dieser Prozedur darauf, durch ein Bevollmächtigungsgesetz vorab dem Kabinett eine Generalermächtigung zum Erlass solcher Verordnungen zu erteilen. Unpopuläre Regierungen, die soziale Einschnitte planen, greifen mitunter auf dieses besondere Gesetzgebungsverfahren zurück, seitdem die Verfassung der Fünften Republik es zugelassen hat. Es ist jedoch fundamental undemokratisch.

Als einzigen Trost versprach Jean-Marie Le Guen, ein langjähriger rechtssozialdemokratischer Politiker und derzeit Minister für parlamentarische Angelegenheiten, die Pläne zur Ausweitung der Sonntagsarbeit würden nicht per Notverordnung durchgedrückt. Ein schwacher Trost, zumal er dieses Vorgehen bei vielen anderen Themen offen lässt.

Dementiert wurde bislang allein das Vorhaben, die Mehrwertsteuer erneut anzuheben, von 20 auf 22 Prozent. Dieses steuerliche Instrument, das sozial ungerechteste überhaupt – im Gegensatz etwa zur Einkommenssteuer ist es überhaupt nicht einkommensproportional, und belastet untere Einkommen anteilsmäßig erheblich stärker – war vor dem Regierungswechsel von 2012 durch die Sozialdemokraten immer wieder angeprangt worden. Die im Januar jenes Jahres noch durch Sarkozy durchgeboxte Erhöhung der Mehrwertsteuer war im Frühjahr 2012 durch die sozialdemokratische Parlamentsmehrheit rückgängig gemacht worden, bevor rund ein Jahr später dieselbe Steuer dann doch erneut angehoben wurde. Wie zeitgleich zur Kabinettsumbildung Ende August durch die Tageszeitung Libération bekannt wurde, denkt Valls mit manchen Ministern nun bereits an eine zweite Mehrheitsteuererhöhung in dieser Legislaturperiode nach. Die Veröffentlichung just zum Zeitpunkt des Kabinettsaustauschs war jedoch ein schlechtes Timing, und es folgte ein Dementi. Nunmehr heißt es jedoch nur, eine solche Maßnahme stehe derzeit „nicht auf der Tagesordnung“, wie Finanzminister Michel Sapin am Freitag, den 05. September bekräftigte. Aber was man heute nicht kann besorgen, das folgt dann eben morgen: Soziale Grausamkeiten führt man besser nicht alle auf einmal durch...

Die CGT ruft unterdessen zu einem sozialen Protest- und Aktionstag am 16. Oktober dieses Jahres auf.

Editorische Hinweise

Den Bericht erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.