75 Jahre Zweiter Weltkrieg
Kollaboration und Judenverfolgung in Belgien

Leseauszug aus der Besprechung einer Untersuchung über die Judenverfolgung in Belgien im 2. Weltkrieg


von Sven-Claude Bettinger

09-2014

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. Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 strömten weitere Flüchtlinge – nicht nur Juden, sondern auch Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Regimegegner – ins Land. Der prominenteste war Albert Einstein. Die Regierung verbot ihnen die Berufstätigkeit, so dass die meisten auf die Unterstützung der sehr rührigen »Hilfscomités« angewiesen waren. 1937 beschloss Belgien, keine weiteren Flüchtlinge mehr aufzunehmen. Illegal kamen sie allerdings noch immer über die Grenze. Nach dem Anschluss Österreichs, der Annexion des Sudetenlandes und der Reichspogromnacht wurde das Einreiseverbot Ende 1938 wieder gelockert. Viele Flüchtlinge, die oft daran dachten, über die Häfen Antwerpen und Ostende weiterzureisen, kamen in Auffanglager.

Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden alle Fremden registriert. Insbesondere deutsche Staatsbürger, »les boches de 1914-18«, wurden als Feinde und potentielles Sicherheitsrisiko betrachtet. Als die »drôle de guerre« am 10. Mai 1940 mit dem deutschen Überfall auf Belgien, Frankreich und die Niederlande endete, wurden etwa 13.500 Fremde von der belgischen Polizei verhaftet, die Hälfte von ihnen nach Frankreich deportiert. Aus den Lagern am Fuß der Pyrenäen kamen nur wenige Flüchtlinge nach Belgien zurück. Bevor die Regierung nach Frankreich (und letztlich nach London) floh, ermächtigte sie die Generalsekretäre, die Spitzenbeamten der Ministerien, alle Aufgaben der Minister zu übernehmen. Die Generalsekretäre beratschlagten mit einem der prominentesten Industriellen und Bankiers des Königreichs, Alexandre Galopin, Gouverneur der »Société Générale«. Sie einigten sich auf eine Linie, die der Historiker José Gotovitch später als »Politik des geringeren Übels« umschrieb.

Man war sich einig: Auf keinen Fall durfte sich die erste deutsche Besatzung von 1914 bis 1918 wiederholen, mit einer deutschen Zivilverwaltung, die den Staat zerschlug, die Geldvorräte raubte, die Industrieanlagen demontierte und Arbeitskräfte deportierte. Diesmal sollten alle Entscheidungen in belgischer Hand bleiben, mit den produzierten Gütern Lebensmittel für die Bevölkerung gekauft werden. Die Richtlinien für die Beamten waren bereits 1935 von der Regierung festgelegt worden. Sie sollten mit einem Besatzer zusammenarbeiten, außer wenn es sich »um Befehle handelte, die nicht mit der Treuepflicht gegenüber dem Vaterland vereinbar« waren. Dann mussten sie sich an ihre Vorgesetzten wenden.

Nach der belgischen Kapitulation am 28. Mai 1940 akzeptierte die deutsche Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich die »Galopin-Doktrin«. Auf diese Weise sparte sie Mühe und Kosten und konnte sich ganz auf die strategischen Ziele konzentrieren. Diese pragmatische Haltung kam am 28. Oktober 1940 zum ersten Mal auf den Prüfstand. Eine Verordnung der Militärverwaltung verlangte, dass alle Juden – die Verordnung definierte sie als »alle Personen, die mindestens drei jüdische Großmütter haben« – aus sämtlichen öffentlichen Ämtern entfernt werden mussten. Das stand in krassem Widerspruch zur belgischen Verfassung, die die Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die Gleichheit aller Belgier garantiert. Die Generalsekretäre weigerten sich deshalb, diese Verordnung auszufertigen. Sie forderten beim »Gesetzgebungsrat«, dem die Obersten Richter und die Präsidenten der Anwaltskammern angehörten, ein Gutachten an. Der »Gesetzgebungsrat« urteilte, dass die belgischen Behörden nicht das Recht hätten, Maßnahmen gegen Juden zu treffen. Das sei »die Politik des Feindes« und berühre die öffentliche Ordnung Belgiens nicht. Allerdings seien die belgischen Behörden aufgrund der deutschen Besatzung auch genötigt, solche Maßnahmen der Militärverwaltung zu dulden....

. Die judenfeindlichen, deutschen Verordnungen häuften sich. Im November 1940 wurden die Kommunen aufgefordert, Judenregister anzulegen. Alle Geschäfte und Betriebe von Juden erhielten einen stigmatisierenden Aufkleber. Zum 31. Dezember 1940 wurde allen jüdischen Lehrkräften und Juristen Berufsverbot erteilt, bald darauf galt es auch für Ärzte und Pflegepersonal. Die Feldkommandantur Antwerpen befahl 8.609 im Landkreis Antwerpen registrierten Juden, sich in die Provinz Limburg zu begeben. Dort mussten die Provinz- und Kommunalverwaltungen Unterkunft, Arbeit und Verpflegung beschaffen. Im Sommer 1941 befahl die Militärverwaltung die Rückführung dieser Zwangsaussiedler nach Antwerpen, Brüssel, Charleroi und Lüttich. Dann verlangte sie auch den roten Stempel »Jood – Juif« in den Personalausweisen. Jüdische Unternehmen bekamen deutsche »Treuhänder«, ihr Vermögen wurde »verwahrt«, immer mehr wurden mit fadenscheinigen Vorwänden »übernommen « oder geschlossen. Schließlich ordnete die Militärverwaltung am 8. Mai 1942 für alle Juden – die sie bis dahin systematisch der Arbeit beraubt hatte – Zwangsarbeit in belgischen Rüstungsbetrieben und vor allem am Atlantikwall in Nordfrankreich an. Dagegen protestierten die Generalsekretäre förmlich, und die Bürgermeister von Brüssel und Lüttich wiesen die ihnen unterstehende Kommunalpolizei an, die deutschen Gestellungsbefehle nicht abzuliefern....

.. Allerdings hatte die Militärverwaltung, unter politischem Druck Berlins, inzwischen dem Aufbau einer belgischen Parallelverwaltung zugestimmt, in der ausschließlich belgische Kollaborateure tätig waren. Das neue »Nationale Arbeitsamt« mit örtlichen Dienststellen und darin besonderen »Judenstellen« organisierte die Zwangsarbeit. Antwerpen, Gent und Charleroi waren mit Vororten zu großen Stadtverbänden zusammengeschlossen worden, an deren Spitze Kollaborateure standen. Die Deutschen hatten auch die Kreis- und Provinzverwaltungen gründlich »gesäubert«, und sogar die Ernennung einiger ihnen wohl gesonnener Generalsekretäre durchgedrückt.

Am 5. Juni 1942 befahl die deutsche Militärverwaltung, alle Juden müssten den gelben »Judenstern« tragen. Es war Sache der Kommunalverwaltungen, die Sterne zu beschaffen und zu verteilen. Die meisten fügten sich. Aber die Bürgermeister von Brüssel und Lüttich weigerten sich, »an einer Maßnahme mitzuwirken, die einen Anschlag auf die Menschenwürde bedeutet.« Nur durch den listigen Vorwand der Besatzer, es handele sich um eine Routinekontrolle, nahmen Brüsseler und Lütticher Polizisten im Sommer 1942 an der ersten großen Razzia in ihren Städten teil. Danach verboten die Bürgermeister weitere Einsätze.

Wenige Monate später wurden sie ihrer Ämter enthoben, als die Deutschen »Groß-Brüssel« und »Groß-Lüttich« mit genehmen Kollaborateuren schufen.

Ganz anders sah die Lage in Antwerpen aus. Dort führten Kommunalverwaltung und Kommunalpolizei die deutschen Befehle ohne Wimpernzucken aus. Im Mai 1940 floh der sozialistische Bürgermeister und Kammerabgeordnete Camille Huysmans nach London. Sein Nachfolger, der katholische Politiker Leo Delwaide, war ein Anhänger der »Neuen Ordnung «. Er ließ die deutschen Befehle ausführen. So half die Kommunalpolizei am 15. August und 11. September 1942 bei zwei großen Razzien mit. Am 28. und 29. September führte die Antwerpener Kommunalpolizei eigenmächtig eine große Razzia durch, bei der 1.243 Juden verhaftet und anschließend der SIPO-SD überstellt wurden. Die Opfer wurden in die »Dossin-Kaserne« in Mechelen gebracht und von dort nach Auschwitz transportiert. Weder der Bürgermeister noch die Staatsanwaltschaft reagierten.

Am 30. September 1942 entschied die Militärverwaltung, dass die belgischen Behörden und Polizei nicht mehr an der Judenverfolgung mitwirken mussten. Das war fortan eine Angelegenheit von Gestapo und SIPO-SD und der belgischen Kollaborateure, die ihnen zuarbeiteten. Wenige Tage später brachen die inzwischen durch parallele Strukturen weitgehend entmachteten Generalsekretäre mit der Militärverwaltung, als sie den »Arbeitseinsatz« für belgische Staatsbürger in Deutschland anordnete. Damit missachtete sie eines der wichtigsten Elemente der »Galopin-Doktrin«, die sich endgültig als Fehlkalkulation erwies. Noch einmal protestierten sie energisch und förmlich im Oktober 1943, als die Deutschen, entgegen allen Zusicherungen, mit der Deportation der belgischen Juden begannen.

Editorische Hinweise

Der Leseauszug stammt aus: Sven-Claude Bettinger, »Das gefügige Belgien«, Das Königreich im Zweiten Weltkrieg, in: Tribüne, 183 (2007) S.138 – 144

Im Februar 2007 veröffentlichten fünf Forscher des unabhängigen Brüsseler »Zentrums zur Erforschung und Dokumentation Krieg und Gesellschaft« (CEGES/SOMA) eine fast 1.200 Seiten umfassende Untersuchung über die Mitwirkung aller staatlichen Stellen Belgiens an der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs. Der Autor stellte in seinem Aufsatz die Studie vor.