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Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 strömten weitere Flüchtlinge
– nicht nur Juden, sondern auch Kommunisten, Sozialdemokraten
und andere Regimegegner – ins Land. Der prominenteste war Albert
Einstein. Die Regierung verbot ihnen die Berufstätigkeit, so
dass die meisten auf die Unterstützung der sehr rührigen
»Hilfscomités« angewiesen waren. 1937 beschloss Belgien, keine
weiteren Flüchtlinge mehr aufzunehmen. Illegal kamen sie
allerdings noch immer über die Grenze. Nach dem Anschluss
Österreichs, der Annexion des Sudetenlandes und der
Reichspogromnacht wurde das Einreiseverbot Ende 1938 wieder
gelockert. Viele Flüchtlinge, die oft daran dachten, über die
Häfen Antwerpen und Ostende weiterzureisen, kamen in
Auffanglager.
Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden alle Fremden
registriert. Insbesondere deutsche Staatsbürger, »les boches de
1914-18«, wurden als Feinde und potentielles Sicherheitsrisiko
betrachtet. Als die »drôle de guerre« am 10. Mai 1940 mit dem
deutschen Überfall auf Belgien, Frankreich und die Niederlande
endete, wurden etwa 13.500 Fremde von der belgischen Polizei
verhaftet, die Hälfte von ihnen nach Frankreich deportiert. Aus
den Lagern am Fuß der Pyrenäen kamen nur wenige Flüchtlinge nach
Belgien zurück. Bevor die Regierung nach Frankreich (und
letztlich nach London) floh, ermächtigte sie die
Generalsekretäre, die Spitzenbeamten der Ministerien, alle
Aufgaben der Minister zu übernehmen. Die Generalsekretäre
beratschlagten mit einem der prominentesten Industriellen und
Bankiers des Königreichs, Alexandre Galopin, Gouverneur der
»Société Générale«. Sie einigten sich auf eine Linie, die der
Historiker José Gotovitch später als »Politik des geringeren
Übels« umschrieb.
Man war sich einig: Auf keinen Fall durfte sich die erste
deutsche Besatzung von 1914 bis 1918 wiederholen, mit einer
deutschen Zivilverwaltung, die den Staat zerschlug, die
Geldvorräte raubte, die Industrieanlagen demontierte und
Arbeitskräfte deportierte. Diesmal sollten alle Entscheidungen
in belgischer Hand bleiben, mit den produzierten Gütern
Lebensmittel für die Bevölkerung gekauft werden. Die Richtlinien
für die Beamten waren bereits 1935 von der Regierung festgelegt
worden. Sie sollten mit einem Besatzer zusammenarbeiten, außer
wenn es sich »um Befehle handelte, die nicht mit der
Treuepflicht gegenüber dem Vaterland vereinbar« waren. Dann
mussten sie sich an ihre Vorgesetzten wenden.
Nach der belgischen Kapitulation am 28. Mai 1940 akzeptierte die
deutsche Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich die
»Galopin-Doktrin«. Auf diese Weise sparte sie Mühe und Kosten
und konnte sich ganz auf die strategischen Ziele konzentrieren.
Diese pragmatische Haltung kam am 28. Oktober 1940 zum ersten
Mal auf den Prüfstand. Eine Verordnung der Militärverwaltung
verlangte, dass alle Juden – die Verordnung definierte sie als
»alle Personen, die mindestens drei jüdische Großmütter haben« –
aus sämtlichen öffentlichen Ämtern entfernt werden mussten. Das
stand in krassem Widerspruch zur belgischen Verfassung, die die
Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die Gleichheit aller
Belgier garantiert. Die Generalsekretäre weigerten sich deshalb,
diese Verordnung auszufertigen. Sie forderten beim
»Gesetzgebungsrat«, dem die Obersten Richter und die Präsidenten
der Anwaltskammern angehörten, ein Gutachten an. Der
»Gesetzgebungsrat« urteilte, dass die belgischen Behörden nicht
das Recht hätten, Maßnahmen gegen Juden zu treffen. Das sei »die
Politik des Feindes« und berühre die öffentliche Ordnung
Belgiens nicht. Allerdings seien die belgischen Behörden
aufgrund der deutschen Besatzung auch genötigt, solche Maßnahmen
der Militärverwaltung zu dulden....
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Die judenfeindlichen, deutschen Verordnungen häuften sich. Im
November 1940 wurden die Kommunen aufgefordert, Judenregister
anzulegen. Alle Geschäfte und Betriebe von Juden erhielten einen
stigmatisierenden Aufkleber. Zum 31. Dezember 1940 wurde allen
jüdischen Lehrkräften und Juristen Berufsverbot erteilt, bald
darauf galt es auch für Ärzte und Pflegepersonal. Die
Feldkommandantur Antwerpen befahl 8.609 im Landkreis Antwerpen
registrierten Juden, sich in die Provinz Limburg zu begeben.
Dort mussten die Provinz- und Kommunalverwaltungen Unterkunft,
Arbeit und Verpflegung beschaffen. Im Sommer 1941 befahl die
Militärverwaltung die Rückführung dieser Zwangsaussiedler nach
Antwerpen, Brüssel, Charleroi und Lüttich. Dann verlangte sie
auch den roten Stempel »Jood – Juif« in den Personalausweisen.
Jüdische Unternehmen bekamen deutsche »Treuhänder«, ihr Vermögen
wurde »verwahrt«, immer mehr wurden mit fadenscheinigen
Vorwänden »übernommen « oder geschlossen. Schließlich ordnete
die Militärverwaltung am 8. Mai 1942 für alle Juden – die sie
bis dahin systematisch der Arbeit beraubt hatte – Zwangsarbeit
in belgischen Rüstungsbetrieben und vor allem am Atlantikwall in
Nordfrankreich an. Dagegen protestierten die Generalsekretäre
förmlich, und die Bürgermeister von Brüssel und Lüttich wiesen
die ihnen unterstehende Kommunalpolizei an, die deutschen
Gestellungsbefehle nicht abzuliefern....
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Allerdings hatte die Militärverwaltung, unter politischem Druck
Berlins, inzwischen dem Aufbau einer belgischen
Parallelverwaltung zugestimmt, in der ausschließlich belgische
Kollaborateure tätig waren. Das neue »Nationale Arbeitsamt« mit
örtlichen Dienststellen und darin besonderen »Judenstellen«
organisierte die Zwangsarbeit. Antwerpen, Gent und Charleroi
waren mit Vororten zu großen Stadtverbänden zusammengeschlossen
worden, an deren Spitze Kollaborateure standen. Die Deutschen
hatten auch die Kreis- und Provinzverwaltungen gründlich
»gesäubert«, und sogar die Ernennung einiger ihnen wohl
gesonnener Generalsekretäre durchgedrückt.
Am 5. Juni 1942 befahl die deutsche Militärverwaltung, alle
Juden müssten den gelben »Judenstern« tragen. Es war Sache der
Kommunalverwaltungen, die Sterne zu beschaffen und zu verteilen.
Die meisten fügten sich. Aber die Bürgermeister von Brüssel und
Lüttich weigerten sich, »an einer Maßnahme mitzuwirken, die
einen Anschlag auf die Menschenwürde bedeutet.« Nur durch den
listigen Vorwand der Besatzer, es handele sich um eine
Routinekontrolle, nahmen Brüsseler und Lütticher Polizisten im
Sommer 1942 an der ersten großen Razzia in ihren Städten teil.
Danach verboten die Bürgermeister weitere Einsätze.
Wenige Monate später wurden sie ihrer Ämter enthoben, als die
Deutschen »Groß-Brüssel« und »Groß-Lüttich« mit genehmen
Kollaborateuren schufen.
Ganz anders sah die Lage in Antwerpen aus. Dort führten
Kommunalverwaltung und Kommunalpolizei die deutschen Befehle
ohne Wimpernzucken aus. Im Mai 1940 floh der sozialistische
Bürgermeister und Kammerabgeordnete Camille Huysmans nach
London. Sein Nachfolger, der katholische Politiker Leo Delwaide,
war ein Anhänger der »Neuen Ordnung «. Er ließ die deutschen
Befehle ausführen. So half die Kommunalpolizei am 15. August und
11. September 1942 bei zwei großen Razzien mit. Am 28. und 29.
September führte die Antwerpener Kommunalpolizei eigenmächtig
eine große Razzia durch, bei der 1.243 Juden verhaftet und
anschließend der SIPO-SD überstellt wurden. Die Opfer wurden in
die »Dossin-Kaserne« in Mechelen gebracht und von dort nach
Auschwitz transportiert. Weder der Bürgermeister noch die
Staatsanwaltschaft reagierten.
Am 30. September 1942 entschied die Militärverwaltung, dass die
belgischen Behörden und Polizei nicht mehr an der
Judenverfolgung mitwirken mussten. Das war fortan eine
Angelegenheit von Gestapo und SIPO-SD und der belgischen
Kollaborateure, die ihnen zuarbeiteten. Wenige Tage später
brachen die inzwischen durch parallele Strukturen weitgehend
entmachteten Generalsekretäre mit der Militärverwaltung, als sie
den »Arbeitseinsatz« für belgische Staatsbürger in Deutschland
anordnete. Damit missachtete sie eines der wichtigsten Elemente
der »Galopin-Doktrin«, die sich endgültig als Fehlkalkulation
erwies. Noch einmal protestierten sie energisch und förmlich im
Oktober 1943, als die Deutschen, entgegen allen Zusicherungen,
mit der Deportation der belgischen Juden begannen.
Editorische Hinweise
Der
Leseauszug stammt aus: Sven-Claude Bettinger,
»Das gefügige
Belgien«, Das Königreich im Zweiten Weltkrieg, in: Tribüne,
183 (2007) S.138 – 144
Im Februar 2007
veröffentlichten fünf Forscher des unabhängigen Brüsseler
»Zentrums zur Erforschung und
Dokumentation Krieg und Gesellschaft« (CEGES/SOMA) eine fast
1.200 Seiten umfassende Untersuchung über die Mitwirkung aller
staatlichen Stellen Belgiens an der Judenverfolgung während
des Zweiten Weltkriegs. Der Autor stellte in seinem Aufsatz
die Studie vor.
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