75 Jahre Zweiter Weltkrieg
Der II. Weltkrieg
Ein Krieg des Volkes? (Teil 1)

von 
Howard Zinn

09-2014

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„Wir, die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika erklären hiermit ausdrücklich im Namen Indiens, Burmas, Malaysias, Australiens, Britisch-Ostafrikas, Britisch-Guyanas, Hong Kongs, Siams, Singapurs, Ägyptens, Palästinas, Kanadas, Neuseelands, Nordirlands, Schottlands, Wales wie auch Puerto Ricos, Guams, der Philippinen, Hawaiis, Alaskas und der Virgin Islands, dass es sich bei diesem Krieg um keinen imperialistischen Krieg handelt.“ So lautete ein Witz, mit dem sich die KP im Jahre 1939 über die Vereinigten Staaten lustig machte.

Zwei Jahre später überfiel Deutschland Sowjetrussland, und die KP der Vereinigten Staaten, die den Krieg zwischen den Achsenmächten und den Alliierten wiederholt als einen imperialistischen Krieg bezeichnet hatte, nannte ihn nun einen „Volkskrieg“ gegen den Faschismus. Und tatsächlich waren sich fast alle Amerikaner und Amerikanerinnen – ob Kapitalisten, Kommunisten, Demokraten, Republikaner, Arme, Reiche oder die Mittelschicht – darin einig, dass es sich bei diesem Krieg um einen Krieg des Volkes handelte.

War er das?

Alles spricht dafür, dass der II. Weltkrieg der populärste Krieg war, den die Vereinigten Staaten jemals geführt haben. Nie zuvor hat ein größerer Anteil der US-Bevölkerung an einem Krieg teilgenommen: 18 Millionen dienten bei den Streitkräften, 10 Millionen von ihnen in Übersee; 25 Millionen Arbeiter spendeten regelmäßig aus ihren Lohntüten für Kriegsanleihen. Aber könnte man diese Unterstützung nicht auch als eine künstlich erzeugte betrachten, da sich alle Kräfte der Nation – also nicht nur die Regierung, sondern auch die Presse, die Kirche und sogar die größten und wichtigsten radikalen Organisationen – hinter der Forderung nach einem totalen Krieg stellten? Gab es denn keine zurückhaltenden Untertöne, abseits der Öffentlichkeit keine Anzeichen von Widerwillen?

Der II. Weltkrieg war ein Krieg gegen einen Feind von unbeschreiblicher Grausamkeit. Hitler-Deutschland sprengte mit seinem Totalitarismus, Rassismus, Militarismus und seiner unverhohlen aggressiven Kriegsführung die Grenzen dessen, was eine schon längst zynisch gewordene Welt bisher erlebt hatte. Aber standen denn die Regierungen der Nationen, die diesen Krieg führten England, die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion – für etwas, was deutlich zu unterscheiden war? Bedeutete ihr Sieg eine weltweite Niederlage des Imperialismus, Rassismus, Totalitarismus und Militarismus? Entsprach das Verhalten der Vereinigten Staaten während des Krieges bei den Kampfhandlungen im Ausland und der Behandlung der Minderheiten zu Hause einem „Krieg des Volkes“? Respektierte die US-Kriegspolitik überall das Recht der gewöhnlichen Menschen auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück? Und diente die Nachkriegspolitik der USA im In- und Ausland als ein Beispiel für die Werte, für die dieser Krieg angeblich geführt wurde?

Diese Fragen sind eine gründliche Überlegung wert. Während des II. Weltkrieges hätte die kriegsbegeisterte Stimmung einer Diskussion dieser Fragen keinen Raum gelassen.

Dass sich die Vereinigten Staaten als Verteidiger wehrloser Länder hervorgetan haben sollen, deckt sich zwar mit dem in US-amerikanischen Schulbüchern verbreiteten Image, aber nicht mit ihrer Vorgeschichte in weltpolitischen Belangen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten sich die USA gegen die haitianische Revolution für die Unabhängigkeit von Frankreich. Sie zettelten einen Krieg gegen Mexiko an und erorberten eine Hälfte des Landes. Sie gaben vor, Kuba bei seinem Kampf um die Freiheit von Spanien zu unterstützen und setzten sich dann selbst mit einen Militärstützpunkt, mit Investitionen und Interventionsrechten auf Kuba fest. Sie besetzten Hawaii, Puerto Rico und Guam und führten einen brutalen Krieg, um die Philippinos zu unterwerfen. Mit Kanonenbooten und Drohungen „öffneten“ sie Japan für den Handel mit ihren Produkten. Sie riefen eine „Politik der offenen Tür“ in China aus, um ihre Chancengleichheit bei der Ausbeutung Chinas gegenüber den anderen imperialistischen Mächten zu gewährleisten. Um die Vormachtstellung des Westens in China zu behaupten schickten sie gemeinsam mit weiteren Staaten Truppen nach Peking und stationierten sie dort über dreißig Jahre.

Während die Vereinigten Staaten in China die „geöffnete Tür“ forderten, insistierten sie mit der Monroe-Doktrin und mehreren Militärinterventionen auf eine geschlossene Tür in Lateinamerika – das heißt, geschlossenen für alle außer den Vereinigten Staaten. Sie haben eine ‚Revolution‘ gegen Kolumbien angezettelt und den ‚unabhängigen‘ Staat Panama ins Leben gerufen, um dort den Kanal zu bauen und und die Kontrolle über ihn auszuüben. 1926 haben sie 5000 Marines nach Nikaragua geschickt, um eine Revolution niederzuschlagen und dort sieben Jahre lang eine Streitkraft zu unterhalten. 1916 intervenierten sie zum vierten Mal in der Dominikanischen Republik und stationierten dort für acht Jahre Truppen. 1915 intervenierten sie das zweite Mal in Haiti und stationierten dort Truppen für neunzehn Jahre. Zwischen 1900 und 1933 griffen die Vereinigten Staaten vier Mal in Kuba, zwei Mal in Nikaragua, sechs Mal in Panama militärisch ein, ein Mal in Guatemala und sieben Mal in Honduras. 1924 unterstand das Finanzwesen der Hälfte der zwanzig lateinamerikanischen Länder de facto den Vereinigten Staaten. 1935 wurde über die Hälfte der US-amerikanischen Stahl- und Baumwollexporte in Lateinamerika verkauft.

Kurz vor dem Ende des I. Weltkrieges landete 1918 in Wladiwostok, Russland, im Rahmen einer Intervention der Alliierten eine 7000 Mann starke US-amerikanische Streitmacht, die bis in die frühen 1920er bleiben sollte. Zur Unterstützung eines weiteren alliierten Expeditionskorps gingen fünftausend Mann in dem russischen Hafen Archangelsk an Land und blieben fast ein Jahr. Das Außenministerium teilte dem Kongress mit: „All diese Operationen dienen dazu, die Auswirkungen der bolschewistischen Revolution in Russland zu neutralisieren.“

Kurz gesagt: Wenn der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten eine Verteidigung des Prinzips der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Länder darstellen sollte (wie seinerzeit so viele Amerikaner angesichts der Nazi-Invasionen glaubten), dann sät deren Vorgeschichte Zweifel an ihrem eigenen Vermögen, dieses Prinzip einzuhalten.

Damals schien festzustehen, dass die Vereinigten Staaten eine Demokratie mit gesicherten Freiheiten waren, wohingegen in Deutschland, einer Diktatur, die jüdische Minderheit verfolgt und Dissidenten gleich welcher Religion ins Gefängnis gesteckt wurden, wobei man die Überlegenheit der nordischen „Rasse“ proklamierte. Allerdings konnten die Schwarzen, wenn sie sich mit dem Antisemitismus in Deutschland auseinandersetzten, keinen großen Unterschied zu ihrer eigenen Situation in den USA feststellen. Und die Vereinigten Staaten hatten nur wenig gegen Hitlers Verfolgungspolitik unternommen, sondern sich die ganzen 1930er Jahre hindurch an der Appeasement-Politik Englands und Frankreichs beteiligt. Roosevelt und sein Außenminister Cordell Hull waren mit ihrer öffentlichen Kritik an Hitlers Antisemitismus sehr zaghaft: Als im Januar 1934 im Senat eine Resolution eingebracht wurde, die den Senat und den Präsidenten dazu aufforderten, „Überraschung und Schmerz“ darüber zum Ausdruck zu bringen, was die Deutschen den Juden antaten, und die Wiederherstellung der Rechte der Juden zu verlangen, „veranlasste“ laut Arnold Offner (American Appeasement) „das Außenministerium, dass diese Resolution von einem Ausschuss zu den Akten gelegt wurde“.

Nach Mussolinis Einmarsch in Äthiopien 1935 sprachen die USA zwar ein Munitionsembargo aus, ließen aber amerikanische Unternehmen die riesigen Mengen an Öl nach Italien liefern, die für die Fortführung des Krieges in Äthiopien benötigt wurden. Und als 1936 in Spanien die Faschisten gegen die gewählte sozialistisch-liberale Regierung rebellierten, unterstützte die Regierung Roosevelts das Neutralitätsgebot, das das die Blockade Spaniens von sämtlichen Hilfsleistungen zur Folge hatte – während Hitler und Mussolini Franco die für den Ausgang des Bürgerkrieges entscheidende Unterstützung gewährten. Dazu sagt Offner:

„ ... die Vereinigten Staaten gingen sogar über die gesetzlichen Bestimmungen ihres Neutralitätsgebots weit hinaus. Hätten die Vereinigten Staaten, England und Frankreich umgehend Hilfe geleistet, dann hätten – wenn man berücksichtigt, dass bis November 1936 Hitlers Position zu Hilfsleistungen von Frankreich noch nicht feststand – die Republikaner in Spanien durchaus siegen können. Statt dessen hat Deutschland von dem spanischen Bürgerkrieg in jeder Hinsicht profitiert.“

War das einfach nur eine Fehleinschätzung, ein schrecklicher Fehler? Oder die sich logisch ergebende Politik einer Regierung, deren vornehmliches Interesse nicht darin bestand, den Vormarsch des Faschismus zum Stillstand zu bringen, sondern die Weltmachtinteressen der USA durchzusetzen? Für diese Interessen schien in den dreißiger Jahren eine antisowjetische Linie am zweckdienlichsten zu sein. Später, als Japan und Deutschland für die globalen Interessen der Vereinigten Staaten eine Bedrohung darstellten, wurde einer prosowjetischen, gegen die Nazis gerichteten Politik Vorzug gegeben. Roosevelt lag ein Ende der Unterdrückung der Juden ungefähr so sehr am Herzen wie Lincoln die Abschaffung der Sklaverei während des Bürgerkriegs. Wie es auch immer um ihr persönliches Mitgefühl für die Verfolgungsopfer bestellt gewesen sein mag, die Priorität ihrer Politik lag nicht etwa bei den Minderheitsrechten, sondern in der nationalen Machtentfaltung.

Nicht Hitlers Angriffe auf die Juden haben die Vereinigten Staaten in den Krieg geführten, genauso wenig wie die Versklavung von 4 Millionen Schwarzen 1861 der Grund für den Bürgerkrieg gewesen ist. Italiens Überfall auf Äthiopien, Hitlers Einmarsch in Österreich und in die Tschechoslowakei, sein Angriff Polens – keines dieser Ereignisse veranlasste die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt, auch wenn Roosevelt England wichtige Hilfe leistete. Was die Vereinigten Staaten endgültig zur Kriegsteilnahme bewegte, war der Überfall der Japaner auf die US-Marinebasis Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941. Mit Sicherheit hat nicht Mitgefühl für die zivilen Opfer des japanischen Luftkrieges Roosevelt zu seinem entrüsteten Kriegsaufruf bewegt, genauso wenig wie Japans Aggression gegen China im Jahre 1937 oder die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Nanking den Kriegseintritt provozierte. Es war der Angriff der Japaner auf einen wichtigen Stützpunkt im pazifischen Imperium Amerikas.

Solange sich Japan als Mitglied im imperialistischen Club der Großmächte artig benahm und gemäß der ‚Politik der offenen Tür‘ auch die anderen an der Ausbeutung Chinas teilhaben ließ, hatten die Vereinigten Staaten keinerlei Einwände. 1917 tauschte man mit Japan diplomatische Noten aus, die besagten, die Regierung der Vereinigten Staaten respektiert Japans besonderes Interesse an China.“ Akira Iriye (After Imperialism) zufolge unterstützten US-amerikanische Konsuln in China 1928 die Landung japanischer Truppen. Erst als Japan mit dem Versuch der Eroberung Chinas zu einer Bedrohung potentieller US-amerikanischer Märkte wurde, aber vor allem, als Japan drohte, sich einen Zugriff auf Zinn, Kautschuk und Öl Südostasiens zu verschafften, wurden die USA unruhig und ergriffen im Sommer 1941 die Maßnahme, die zu dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor führen sollte: zu einem Totalembargo auf Alteisen und Öl.

So meint Bruce Russet (No Clear and Present Danger): „Die ganzen 1930er Jahre hindurch hat die Regierung der Vereinigten Staaten so gut wie nichts unternommen, um den Vormarsch der Japaner auf dem asiatischen Kontinent aufzuhalten“. Aber: „Es besteht kein Zweifel daran, dass der südwestliche pazifische Raum für die Vereinigten Staaten eine hohe wirtschaftliche Bedeutung hatte – damals stammten aus dieser Region ein Großteil des Zinns und Kautschuks sowie auch beträchtliche Mengen anderer Rohstoffe.“

Der amerikanischen Öffentlichkeit wurde der Angriff auf Pearl Harbor als ein völlig unerwarteter, schockierender und unmoralischer Akt der Aggression präsentiert. Unmoralisch in der Tat, wie jedes andere Bombardement auch – aber nicht wirklich unerwartet oder schockierend für die US-Regierung. Russet behauptet: „Japans Luftschlag gegen den US-amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor war der Höhepunkt einer langen Reihe feindseliger Handlungen beider Seiten. Mit den wirtschaftlichen Sanktionen gegen Japan ergriffen die Vereinigten Staaten Maßnahmen, von denen weite Kreise in Washington wussten, dass sie ein erhebliches Kriegsrisiko bargen.“

Von den wilden Beschuldigungen gegen Roosevelt einmal abgesehen (wie z.B., er hätte über Pearl Harbor Bescheid gewusst und nichts darüber gesagt oder er hätte den Luftangriff bewusst provoziert, wofür es keinerlei Beweise gibt), dürfte feststehen, dass er das getan hat, was vor ihm James Polk während des Mexikokrieges und nach ihm Lyndon Johnson während des Vietnamkrieges getan hat – er hat die Öffentlichkeit über eine Sache belogen, von der er meinte, dass sie eine gerechte sei. Im September und Oktober des Jahres 1941 stellte er die Fakten zweier Vorfälle, in denen deutsche U-Boote und amerikanische Zerstörer involviert waren, falsch dar. Thomas A. Bailey, ein mit Roosevelt sympathisierender Historiker, schrieb dazu:

„In der Zeit vor dem Angriff auf Pearl Harbor wurde das amerikanische Volk von Franklin Roosevelt mehrmals in die Irre geführt. ( ... ) Er nahm die Rolle des Doktors ein, der dem Patienten zu seinem eigenen Wohl anlügen muss ... wegen der notorischen Kurzsichtigkeit der Massen, die gewöhnlich erst dann die Gefahr erkennen, wenn sie von ihr schon in den Würgegriff genommen werden.“

Radhabinod Pal, einer der Richter des Tokioter Kriegsverbrecherprozesses, stimmte mit dem allgemeinen Urteil gegen japanische Amtsträger nicht überein und behauptete, die Vereinigten Staaten hätten den Krieg eindeutig provoziert und mit einer Reaktion Japans gerechnet. Richard Linear (Victors' Justice) fasst Pals Sicht auf das Alteisen- und Ölembargo so zusammen, dass „diese Maßnahmen ganz eindeutig eine gewaltige Bedrohung für die nackte Existenz Japans darstellten.“ Dokumente belegen, dass zwei Wochen vor Pearl Harbor auf einer Konferenz im Weißen Haus ein Krieg in Erwägung gezogen und darüber diskutiert wurde, wie man ihn rechtfertigen sollte.

Ein Jahr vor Pearl Harbor war in einem Memorandum des Außenministeriums zur Expansion Japans von der Unabhängigkeit Chinas oder dem Prinzip der Selbstbestimmung keine Rede. Dort hieß es:

„ ... unsere allgemeine diplomatische und strategische Position würde durch den Verlust unserer Märkte in China, Indien und der Südsee (und durch den Verlust großer Teile des japanischen Marktes für unsere Waren durch Japans zunehmende Autarkie) wie auch durch massive Einschränkungen unseres Zugangs zu Kautschuk, Zinn, Jute, Öl und anderen unverzichtbaren Rohstoffen des asiatisch-ozeanischen Raums erheblich geschwächt werden.“

Und sobald die Vereinigten Staaten mit England und Russland im Krieg vereint waren, (Deutschland und Japan erklärten kurz nach dem Angriff auf Perl Harburger den Vereinigten Staaten den Krieg), bewies ihr Verhalten etwa, dass ihre Ziele humanitäre waren oder dass Macht und Profit im Mittelpunkt standen? Führten sie den Krieg, um der Kontrolle einiger Nationen über andere ein Ende zu setzen oder um dafür zu sorgen, dass die tonangebenden Nationen mit den Vereinigten Staaten verbündet waren? Im August 1941 trafen sich Roosevelt und Churchill vor der Küste Neufundland und verkündeten der Welt die Atlantik-Charta, in der für die Nachkriegszeit hehre Ziele erklärt wurden. Die Charta besagt, die unterzeichnenden Staaten „streben keinerlei Bereicherung an, weder in territorialer noch in anderer Beziehung“ und dass sie „das Recht aller Völker“ achtete, sich „jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen“. Berühmt wurde sie dafür, dass sie das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung verkündete.

Aber zwei Wochen vor der Verabschiedung der Charta gab Sumner Welles, stellvertretender US-Außenminister, der Regierung Frankreichs die Garantie, das französische Kolonialreich nach Kriegsende bestehen zu lassen: „Eingedenk der traditionsreichen Freundschaft mit Frankreich hat diese Regierung tiefstes Verständnis für den Wunsch des französischen Volkes, seine Hoheitsgebiete zu pflegen und beizubehalten.“ Sogar in der vom Verteidigungsministerium aufgezeichneten Geschichte Vietnams (The Pentagon Papers) wird auf das hingewiesen, was man als eine „ambivalente“ Indochina-Politik bezeichnete und merkte dabei an, dass „die USA in der Atlantik-Charta und anderen Erklärungen ihre Unterstützung für nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit verkündeten“, aber auch, dass man „zu Beginn des Krieges den Franzosen mehrmals die Absicht zum Ausdruck brachte oder ihnen andeutete, nach dem Krieg das französische Kolonialreich wiederherzustellen.“

Ende des Jahres 1942 versicherte Roosevelts persönlicher Berater General Henri Giraud: Es herrscht völliges Einvernehmen, sobald wie möglich die französische Souveränität über dem gesamten Territorium, auf dem 1939 die Trikotage wehte, wiederherzustellen, ob im Mutterland oder in den Kolonien.“ (Diese Seiten sind wie die anderen in den Pentagon Papers mit „Streng geheim – vertrauliches Dokument“ gekennzeichnet.) 1945 gehörte diese „ambivalente“ Haltung der Vergangenheit an. Im Mai versicherte Truman den Franzosen, er würde ihre „Souveränität in Indochina“ nicht in Frage stellen. Im folgenden Herbst drängten die Vereinigten Staaten das nationalistische China, dem von der Potsdamer Konferenz die vorübergehende Verantwortung für den nördlichen Teil Indochina übergeben wurde, das Gebiet den Franzosen auszuhändigen – und das trotz des offensichtlichen Wunsches der Vietnamesen nach Unabhängigkeit.

Das war ein Gefallen, den man der französischen Regierung getan hat. Aber wie verhielt es sich mit den imperialen Ambitionen der Vereinigten Staaten während des Krieges? Was war mit der „Bereicherung, in territorialer oder anderer Beziehung“, von der sich Roosevelt in der Atlantik-Charta distanziert hatte?

Die Schlagzeilen wurden von den Schlachten und Truppenbewegungen gemacht: die Invasion in Nordafrika 1942 und Italien 1943, die dramatische Landung massiver Truppenverbände in das von Deutschland besetzte Frankreich über den Ärmelkanal 1944, die erbitterten Schlachten, mit denen Deutschland über seine Grenzen zurückgetrieben wurde, die zunehmenden Bombardements der britischen und amerikanischen Luftwaffe. Und, zur selben Zeit, die Siege Russlands über die Naziarmeen (die Russen hatten während der Landung in der Normandie die Deutschen schon aus Russland verjagt und banden 80 % der deutschen Truppen). Und im Pazifik rückten in den Jahren 1943 und 1944 die amerikanischen Streitkräfte Insel um Insel auf Japan zu und verschafften sich so immer nähere Stützpunkte für die gewaltigen Bombardements japanischer Städte.

Hinter den Schlagzeilen, die von den Schlachten und Bombenangriffen bestimmt wurden, verrichteten amerikanische Diplomaten und Unternehmer still und heimlich harte Arbeit; man sorgte dafür, dass die Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten weltweit unangefochten an erster Stelle stand, sobald der Krieg vorbei war. US-amerikanisches Kapital drang in Regionen vor, die bis dahin von England beherrscht worden waren. Die „Politik der offenen Tür“, die den gleichberechtigten Zugang zu den Märkten vorsah, wurde von Asien auf Europa ausgeweitet. Das hieß, dass die Vereinigten Staaten beabsichtigten, England zur Seite zu drängen und durch die offene Tür zu treten.

So wurde mit dem Nahen Osten und seinem Öl verfahren. Im August 1945 sagte ein Beamter des Außenministeriums, dass „eine kritische Betrachtung der diplomatischen Geschichte der vergangenen 35 Jahre vor Augen führt, dass in den Außenbeziehung der Vereinigten Staaten kein anderer Rohstoff als Erdöl eine so große historische Rolle gespielt hat.“ Saudi-Arabien war im Besitz der größten Erdölreserven des Nahen Ostens. Der Ölkonzern ARAMCO brachte mithilfe des Innenministers Harold Dickes Roosevelt dazu, Saudi-Arabien im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes (Lend Lease Act) mit kriegswichtigem Material zu beliefern – womit ein Grund für das Engagement der US-Regierung in der Region und ein Schutzschild für die Interessen ARAMCOs geschaffen wurde. 1944 unterschrieben Großbritannien und die Vereinigten Staaten ein Erdölabkommen, in dem man sich auf das „Prinzip der Chancengleichheit“ einigte. Lloyd Gardener (Economic Aspects of New Deal Diplomacy) kommt zu dem Schluss, dass „die „Politik der offenen Tür im gesamten Nahen Osten gesiegt hatte“.

Der Geschichtswissenschaftler Gabriel Kolko schlussfolgert nach einem genauen Studium der amerikanischen Kriegspolitik (The Politics of War), „das ökonomische Kriegsziel der Amerikaner bestand darin, den Kapitalismus im In und im Ausland aufrecht zu erhalten.“ Im April 1944 sagte ein Beamter des Außenministeriums: „Wie Sie wissen, haben wir für dieses Land in der Nachkriegszeit einen enormen Produktivitätsanstieg geplant, und der amerikanische Binnenmarkt kann unmöglich auf unbestimmte Zeit die gesamte Produktion absorbieren. Es besteht gar keine Frage, dass wir viel größere Auslandsmärkte benötigen.“

Anthony Sampson schreibt in seiner Untersuchung des internationalen Ölgeschäfts (The Seven Sisters):

„Ende des Krieges ging der dominierende Einfluss auf Saudi-Arabien unbestreitbar von den Vereinigten Staaten aus. König Ibn Saud wurde nicht mehr länger als der wilde Wüstenkrieger gesehen, sondern als Schlüsselfigur im Machtkampf um den Nahen Osten, die vom Westen umworben werden musste. Roosevelt, im Februar 1945 auf dem Rückweg von Jalta, lud den König auf den Kreuzer 'Quincy' ein, mit seinem Gefolge von 50 Leuten, darunter zwei seiner Söhne, ein Premierminister, ein Astrologe und zur Verpflegung ganze Schafherden.“

Später schrieb Roosevelt Ibn Saud und versprach, in der Palästina-Politik der Vereinigten Staaten gäbe es keinen Kurswechsel, ohne vorher die Araber zu konsultieren. In den kommenden Jahren sollte das Ölinteresse in ständiger Konkurrenz zu dem politischen Interesse an dem Staat der Juden im Nahen Osten stehen, doch zu diesem Zeitpunkt schien Öl doch wichtiger zu sein.

Während des II. Weltkrieges brach die imperiale Macht der Briten zusammen, und die Vereinigten Staaten waren bereit, das entstandene Machtvakuum auszufüllen. Zu Beginn des Krieges bemerkte Hall:

„Die Führung über ein neues System internationaler Beziehungen im Handel und in anderen wirtschaftlichen Angelegenheiten wird wegen unserer ökonomischen Stärke weitgehend auf die Vereinigten Staaten übergehen. Diese Führungsrolle und die damit einhergehende Verantwortung sollten wir in erster Linie aus Gründen des puren nationalen Eigennutzes annehmen.“

Noch bevor der Krieg vorbei war, entwarf die Regierung die Grundzüge einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung auf Grundlage der Partnerschaft zwischen Regierung und Großkapital. Lloyd Gardener sagt über Roosevelts Hauptberater Harry Hopkins, der die Hilfsprogramme des New Deal aufgestellt hatte: „Kein Konservativer konnte Hopkins in seinem Engagement für Auslandsinvestitionen und ihrer Absicherung übertreffen.“

Der Dichter Archibald MacLeish, damals Staatssekretär für Öffentlichkeitsarbeit beim Außenministerium, äußerte sich kritisch über das, was er für die Nachkriegszeit erwartete: „So, wie die Dinge nun stehen, wird der Frieden, den wir machen, ein Frieden des Öls, ein Frieden des Goldes, ein Frieden der Warenlieferungen sein, um es kurz zu machen: ein Frieden ... ohne moralische Absichten oder einem humanen Interesse...“.

Während des Krieges gründeten England und die Vereinigten Staaten den Internationalen Währungsfonds, um den internationalen Währungshandel zu regulieren; das Gewicht der Stimme sollte sich proportional zu dem beigesteuerten Kapital verhalten, womit die US-amerikanische Dominanz gesichert war. Angeblich wurde die „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ für den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete gegründet, doch nach ihren eigenen Worten war eines ihrer ersten Ziele, „Auslandsinvestitionen zu fördern“. Die Wirtschaftshilfe, die die Länder nach dem Krieg benötigen würden, betrachtete man schon damals unter politischen Gesichtspunkten. Averell Harriman, US-Botschafter in Russland, meinte zu Beginn des Jahres 1944: „Die Wirtschaftshilfe ist eine der effektivsten Waffen, die uns bei der Einflussnahme auf die politischen Geschehnisse in Europa in die von uns gewünschte Richtung zur Verfügung stehen.“

Die UN, die ebenfalls während des Krieges gegründet wurde, präsentierte man der Weltöffentlichkeit als eine internationale Organisation zur Verhinderung zukünftiger Kriege. Aber dominiert wurde sie von den imperialistischen Ländern des Westens – die Vereinigten Staaten, England und Frankreich – und einer neuen Weltmacht, die über Militärstützpunkte und einem gewaltigen Einfluss auf die Länder Osteuropas verfügte – der Sowjetunion. Arthur Vandenburg, ein bedeutender republikanischer Senator, schrieb in sein Tagebuch über die UN-Charta:

„Das Bemerkenswerteste an ihr ist, dass sie von einem nationalistischen Standpunkt aus gesehen so konservativ ist. Sie beruht praktisch auf einer Viermächte-Allianz. ( ... ) Das hier ist alles andere als die naive, internationalistische Schwärmerei von einem Weltstaat. ( ... ) Ich bin zutiefst beeindruckt und überrascht festzustellen, mit welcher Umsicht und Berechnung Hall über unser Vetorecht wacht.“


Editorische Hinweise

Quelle: http://libcom.org/history/world-war-ii-peoples-war-howard-zinn

ins Deutsche übersetzt von Andrea Eismann

Mehr zum Autor: http://howardzinn.org/