Ich möchte den Bemerkungen des
Doktors Henri Wallon über die moderne Psychologie einige
Anregungen hinzufügen, indem ich den Gegenstand auf die ganze
Philosophie erweitere.
Die wissenschaftlichen und
industriellen Techniken haben in der Geschichte verschiedene,
mehr oder weniger direkte Arten von Einflüssen auf die
Philosophie ausgeübt. Die direkteste ist zweifellos, wie Henri
Wallon hervorhob, die, dass die Industrie eines Tages das
Bedürfnis empfand, von den Wissenschaften vom Menschen Rezepte
zu verlangen, um den Ertrag der Arbeitsleistung des Arbeiters zu
verbessern. So wurde, mit Taylor, die Psychotechnik geboren.
Ein schon etwas entfernterer
Einfluss ist der, den zu verschiedenen Zeiten die seitens
gewisser Wissenschaftszweige erprobten Techniken auf die
philosophischen Studien ausgeübt haben, die darunter litten,
dass sie einer sicheren Methode entbehrten. Man könnte bis zu
Spinoza zurückgehen, zu seiner Anwendung der mathematischen
Technik auf die Ethik « more geometrico demonstrata ». Man kann,
uns schon näher gerückt, die mathematische politische Oekonomie
und die aus den Fortschritten der Biologie geborene
organi-zistische Soziologie hier anführen. Man kann, mit Wallon,
auch die experimentelle Psychologie von Ribot nennen.
Auf indirektere, aber tiefere
Weise wandelt die Technik die Lebensbedingungen der Menschen um
und damit den Aspekt der Welt, in der wir leben. Die Philosophen
werden dann wohl oder übel dazu geführt, dieses Bild der Welt in
ihre Lehren umzusetzen. Insbesondere wenn sie versuchen, das
geistige Leben, diese Stetsfort fliehende und gegen die Analyse
so rebellische Realität zum Ausdruck zu bringen, tun sie damit
im allgemeinen nichts anderes, als in Form von Allegorien die
der materiellen Welt entlehnten Bilder zu reproduzieren. Man
könnte beinahe mittels der Werke der traditionellen Psychologen
die Techniken ihrer Epochen rekonstruieren.
Die Bedeutung der Wagenrennen im
griechischen Altertum spiegelt sich im Mythos von Piatons «
Phaidros » wider. Die Seele ist darin der Kutscher zweier
Pferde, eines weissen und eines schwarzen. Im Mythos von der
Höhle, im siebenten Buch der « Republik », denkt derselbe
Piaton an die Vorführer von Marionettenspielen: «Diesem Weg
entlang steU' dir eine Mauer vor, ähnlich jenen Zwischenwänden,
die die Gaukler zwischen sich und die Zuschauer stellen, um
ihren Blicken das Spiel und die geheimen Triebfedern der Wunder
zu entziehen, die sie ihnen zeigen.» Die Metaphern des Leibniz
entsprechen einer vervollkommneteren Technik: so wird die
prästabilierte Harmonie der Monaden dem Lager eines peinlich
exakten Uhrmachers verglichen. Die Statue des Condillac im «
Traite des sensations » entspricht der gros-sen Mode der
Automaten des Vaucanson. Schon im Werk des Descartes kann man
die Bilder gar nicht mehr zählen, die mechanischen
Konstruktionen entliehen sind: Automaten (Theorie der
Maschinentiere, im fünften Teil des «Discours de la Methode»)
oder Uhrmacherei («Traite des passions », Artikel 16). Die
Erfindung der Photographie ist von den Psychologen unverzüglich
benützt worden, um den Geist mit einer Dunkelkammer zu
vergleichen und empiristische Theorien über die
Verallgemeinerung zu konstruieren: daher die zusammengesetzten
Bilder des Galton. Die psycho-physio-logischen Theorien des
Gedächtnisses und der Gewohnheit haben sich zur gleichen Zeit
entwickelt wie die Mittel der Nachrichtenübermittlung. Mit
Descartes und seinen Tier-Geistern ist man in der Epoche, in der
reitende Boten über die Strassen jagend die Botschaften
austrugen; mit Ribot und James in der Epoche der
Telegraphendrähte — in Erwartung eines nächsten, dem Radio
entlehnten Mythos. Die Bücher von Bergson (der jedoch seine
ganze Lehre auf der nicht weiter zu erklärenden Entgegensetzung
von Denken und Materie aufbaut) sind voll von Allegorien, die
den zeitgenössischen Techniken entnommen sind: so wird zum
Beispiel die Metapher vom Telegraphisten, der eine Depesche an
den Ursprungsort zurücksendet, um sie zu kontrollieren, dazu
verwendet, die Rolle der Wahrnehmung im « effort intellectuel»
der Aufmerksamkeit zu erklären.
Auch ausserhalb der Psychologie
würde man Beispiele dieser Uebertragung finden. So organisiert
Auguste Comte, indem er eine Philosophie der Wissenschaften
konstruiert, die Arbeitsteilung zwischen Gelehrten und
Philosophen nach dem Vorbild der Arbeitsteilung zwischen
Arbeitern und Ingenieuren in der damals aufkommenden grossen
Industrie.
An vierter Stelle, und in
weitergefasstem Sinne, wird man begreifen, dass die Entwicklung
der Technik Probleme gebiert, zu deren Studium die Philosophen
geführt werden; das ist besonders ins Auge fallend bei der Moral
und der Soziologie, kann aber auch für die Psychologie als wahr
gelten. So wird die Platonsche Einteilung der Fähigkeiten in
grobe Lüste (den Bauch), edle Leidenschaften (das Herz) und die
Intelligenz (den Kopf) durch die Einteilung der Klassen der
griechischen Stadt in Arbeiter, Soldaten und Intellektuelle
inspiriert. Desgleichen entspricht bei Aristoteles die Moral der
Ungleichheit der Menschen einer Zivilisation, in der die
Sklavenarbeit eine technische Notwendigkeit ist. Man könnte als
Beispiele ebensogut nehmen: die gleichzeitige Geburt der grossen
Industrie und der politischen Oekonomie im England des XVIII.
Jahrhunderts, oder den «Industrialismus » von Saint-Simon und
das Aufblühen der sozialistischen Lehren im XIX. Jahrhundert.
Endlich scheint mir der
indirekteste Einfluss der Technik auf die Philosophie der zu
sein, dass die Technik den Menschen selbst und die Formen des
menschlichen Denkens verändert, die den wesentlichen Stoff des
philosophischen Studiums ausmachen. Von diesem Gedanken gibt
Wallon weiter oben packende Beispiele, indem er zeigt, dass der
Mensch und das Kind von heute von der Gegenwart, von der
Bewegung, vom Gleichgewicht Vorstellungen besitzen, die nicht
die unserer Vorfahren sind. Noch allgemeiner gesagt, entwickelt
sich die Auffassung der Vernunft selbst mit dem Fortschritt der
Zivilisation. Die « prälogische » Vernunft der Wilden
unterscheidet sich von der logischen, wie sie Aristoteles
definiert, und die dialektische Vernunft von Hegel und Marx ist
im Begriff, die aristotelische Vernunft zu verdrängen. Was von
der theoretischen Vernunft gilt, gilt noch mehr von der
praktischen, die sich rascher verändert. Die Vernunft des
Aristoteles verlangt eine Moral der Ungleichheit (Moral gibt es
nur für die Freien); die Vernunft des Kant (die jedoch für die
Logik dieselbe ist wie die des Aristoteles) heischt eine Moral
der Gleichheit (alle Menschen werden als Freie und
Gleichberechtigte geboren), in dem Zeitpunkt, in dem der
technische Fortschritt eine gewisse Ausgleichung der
Lebensbedingungen und der Kulturen erlaubt und erfordert.
Es versteht sich von selbst, dass
die Beziehungen zwischen Philosophie und Technik auf
Gegenseitigkeit beruhen; wenn die Philosophie in weitem Masse
die Bewusstwerdung des Menschen von seinen ökonomischen
Bedingungen und technischen Bedürfnissen ist, so findet diese
Bewusstwerdung ihrerseits ihren Widerhall im materiellen Leben
des Menschen, das sie nach einem Ideal umgestaltet.
Editorische Hinweise
Der Text
wurde entnommen aus: Die Wissenschaft im Lichte des Marxismus,
hrg. v. Henri Wallon, Zürich 1937, Nachdruck o.O. 1971, S.
154-156
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