Philosophie und Technik

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on René Maublanc

09-2014

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onlinezeitung

Ich möchte den Bemerkungen des Doktors Henri Wallon über die moderne Psychologie einige Anregungen hinzufügen, indem ich den Gegenstand auf die ganze Philosophie erweitere.

Die wissenschaftlichen und industriellen Techniken haben in der Geschichte verschiedene, mehr oder weniger direkte Arten von Einflüssen auf die Philosophie ausgeübt. Die direkteste ist zweifellos, wie Henri Wallon hervorhob, die, dass die Industrie eines Tages das Bedürfnis empfand, von den Wissenschaften vom Menschen Rezepte zu verlangen, um den Ertrag der Arbeitsleistung des Arbeiters zu verbessern. So wurde, mit Taylor, die Psychotechnik geboren.

Ein schon etwas entfernterer Einfluss ist der, den zu verschiedenen Zeiten die seitens gewisser Wissenschaftszweige erprobten Techniken auf die philosophischen Studien ausgeübt haben, die darunter litten, dass sie einer sicheren Methode entbehrten. Man könnte bis zu Spinoza zurückgehen, zu seiner Anwendung der mathematischen Technik auf die Ethik « more geometrico demonstrata ». Man kann, uns schon näher gerückt, die mathematische politische Oekonomie und die aus den Fortschritten der Biologie geborene organi-zistische Soziologie hier anführen. Man kann, mit Wallon, auch die experimentelle Psychologie von Ribot nennen.

Auf indirektere, aber tiefere Weise wandelt die Technik die Lebensbedingungen der Menschen um und damit den Aspekt der Welt, in der wir leben. Die Philosophen werden dann wohl oder übel dazu geführt, dieses Bild der Welt in ihre Lehren umzusetzen. Insbesondere wenn sie versuchen, das geistige Leben, diese Stetsfort fliehende und gegen die Analyse so rebellische Realität zum Ausdruck zu bringen, tun sie damit im allgemeinen nichts anderes, als in Form von Allegorien die der materiellen Welt entlehnten Bilder zu reproduzieren. Man könnte beinahe mittels der Werke der traditionellen Psychologen die Techniken ihrer Epochen rekonstruieren.

Die Bedeutung der Wagenrennen im griechischen Altertum spiegelt sich im Mythos von Piatons « Phaidros » wider. Die Seele ist darin der Kutscher zweier Pferde, eines weissen und eines schwarzen. Im Mythos von der Höhle, im siebenten Buch der « Republik », denkt derselbe Piaton an die Vorführer von Marionettenspielen: «Diesem Weg entlang steU' dir eine Mauer vor, ähnlich jenen Zwischenwänden, die die Gaukler zwischen sich und die Zuschauer stellen, um ihren Blicken das Spiel und die geheimen Triebfedern der Wunder zu entziehen, die sie ihnen zeigen.» Die Metaphern des Leibniz entsprechen einer vervollkommneteren Technik: so wird die prästabilierte Harmonie der Monaden dem Lager eines peinlich exakten Uhrmachers verglichen. Die Statue des Condillac im « Traite des sensations » entspricht der gros-sen Mode der Automaten des Vaucanson. Schon im Werk des Descartes kann man die Bilder gar nicht mehr zählen, die mechanischen Konstruktionen entliehen sind: Automaten (Theorie der Maschinentiere, im fünften Teil des «Discours de la Methode») oder Uhrmacherei («Traite des passions », Artikel 16). Die Erfindung der Photographie ist von den Psychologen unverzüglich benützt worden, um den Geist mit einer Dunkelkammer zu vergleichen und empiristische Theorien über die Verallgemeinerung zu konstruieren: daher die zusammengesetzten Bilder des Galton. Die psycho-physio-logischen Theorien des Gedächtnisses und der Gewohnheit haben sich zur gleichen Zeit entwickelt wie die Mittel der Nachrichtenübermittlung. Mit Descartes und seinen Tier-Geistern ist man in der Epoche, in der reitende Boten über die Strassen jagend die Botschaften austrugen; mit Ribot und James in der Epoche der Telegraphendrähte — in Erwartung eines nächsten, dem Radio entlehnten Mythos. Die Bücher von Bergson (der jedoch seine ganze Lehre auf der nicht weiter zu erklärenden Entgegensetzung von Denken und Materie aufbaut) sind voll von Allegorien, die den zeitgenössischen Techniken entnommen sind: so wird zum Beispiel die Metapher vom Telegraphisten, der eine Depesche an den Ursprungsort zurücksendet, um sie zu kontrollieren, dazu verwendet, die Rolle der Wahrnehmung im « effort intellectuel» der Aufmerksamkeit zu erklären.

Auch ausserhalb der Psychologie würde man Beispiele dieser Uebertragung finden. So organisiert Auguste Comte, indem er eine Philosophie der Wissenschaften konstruiert, die Arbeitsteilung zwischen Gelehrten und Philosophen nach dem Vorbild der Arbeitsteilung zwischen Arbeitern und Ingenieuren in der damals aufkommenden grossen Industrie.

An vierter Stelle, und in weitergefasstem Sinne, wird man begreifen, dass die Entwicklung der Technik Probleme gebiert, zu deren Studium die Philosophen geführt werden; das ist besonders ins Auge fallend bei der Moral und der Soziologie, kann aber auch für die Psychologie als wahr gelten. So wird die Platonsche Einteilung der Fähigkeiten in grobe Lüste (den Bauch), edle Leidenschaften (das Herz) und die Intelligenz (den Kopf) durch die Einteilung der Klassen der griechischen Stadt in Arbeiter, Soldaten und Intellektuelle inspiriert. Desgleichen entspricht bei Aristoteles die Moral der Ungleichheit der Menschen einer Zivilisation, in der die Sklavenarbeit eine technische Notwendigkeit ist. Man könnte als Beispiele ebensogut nehmen: die gleichzeitige Geburt der grossen Industrie und der politischen Oekonomie im England des XVIII. Jahrhunderts, oder den «Industrialismus » von Saint-Simon und das Aufblühen der sozialistischen Lehren im XIX. Jahrhundert.

Endlich scheint mir der indirekteste Einfluss der Technik auf die Philosophie der zu sein, dass die Technik den Menschen selbst und die Formen des menschlichen Denkens verändert, die den wesentlichen Stoff des philosophischen Studiums ausmachen. Von diesem Gedanken gibt Wallon weiter oben packende Beispiele, indem er zeigt, dass der Mensch und das Kind von heute von der Gegenwart, von der Bewegung, vom Gleichgewicht Vorstellungen besitzen, die nicht die unserer Vorfahren sind. Noch allgemeiner gesagt, entwickelt sich die Auffassung der Vernunft selbst mit dem Fortschritt der Zivilisation. Die « prälogische » Vernunft der Wilden unterscheidet sich von der logischen, wie sie Aristoteles definiert, und die dialektische Vernunft von Hegel und Marx ist im Begriff, die aristotelische Vernunft zu verdrängen. Was von der theoretischen Vernunft gilt, gilt noch mehr von der praktischen, die sich rascher verändert. Die Vernunft des Aristoteles verlangt eine Moral der Ungleichheit (Moral gibt es nur für die Freien); die Vernunft des Kant (die jedoch für die Logik dieselbe ist wie die des Aristoteles) heischt eine Moral der Gleichheit (alle Menschen werden als Freie und Gleichberechtigte geboren), in dem Zeitpunkt, in dem der technische Fortschritt eine gewisse Ausgleichung der Lebensbedingungen und der Kulturen erlaubt und erfordert.

Es versteht sich von selbst, dass die Beziehungen zwischen Philosophie und Technik auf Gegenseitigkeit beruhen; wenn die Philosophie in weitem Masse die Bewusstwerdung des Menschen von seinen ökonomischen Bedingungen und technischen Bedürfnissen ist, so findet diese Bewusstwerdung ihrerseits ihren Widerhall im materiellen Leben des Menschen, das sie nach einem Ideal umgestaltet.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Die Wissenschaft im Lichte des Marxismus, hrg. v. Henri Wallon, Zürich 1937, Nachdruck o.O. 1971, S. 154-156