Probleme der Klassenanalyse
Die »mittleren Schichten« der Erwerbsbevölkerung

von Harry Braverman

09-2014

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In der bisherigen Diskussion haben wir uns auf jenen Teil der Bevölkerung beschränkt, der - wie wir gesehen haben - zwei Drittel oder drei Viertel der Gesamtbevölkerung umfaßt und ohne weiteres mit der besitzlosen Situation eines Proletariats vereinbar zu sein scheint. Doch das System des Monopolkapitalismus hat eine weitere Beschäftigungsmenge hervorgebracht, die ihrer Größe nach nicht unbeträchtlich ist und nicht ganz selbstverständlich einer solchen Definition entspricht. Wiedas Kleinbürgertum des vormonopolistischen Kapitalismus (die Kleineigentümer in der Landwirtschaft, im Handel, den Dienstleistungsbetrieben, den freien Berufen und im Kunsthandwerk) paßt sie nicht ohne weiteres in die antagonistische Auffassung von Wirtschaft und Gesellschaft. Aber im Gegensatz zu jener früheren Mittelklasse, die so weitgehend verschwunden ist, stimmt sie zunehmend mit der formalen Definition einer Arbeiterklasse übercin. Das heißt: wie die Arbeiterklasse besitzt sie keine wirtschaftliche oder berufliche Unabhängigkeit, wird vom Kapital und seinen Verzweigungen beschäftigt, hat außer jener Beschäftigung keinen Zugang zum Arbeitsprozeß oder zu den Produktionsmitteln und muß, um sich ernähren zu können, unaufhörlich immer neu für das Kapital arbeiten. Zu diesem Teil der Erwerbsbevölkerung gehören die Ingenieure, die technischen und wissenschaftlichen Kader, die unteren Ränge des Aufsichtspersonals und des Managements, die beträchtliche Zahl der spezialisierten und akademisch gebildeten Beschäftigten im Marketing, in der finanziellen und organisatorischen Verwaltung und dergleichen sowie, außerhalb der eigentlichen kapitalistischen Industrie, in'Krankenhäusern, Schulen, in der öffentlichen Verwaltung und so weiter. Relativ gesehen, ist die Gruppe nirgendwo auch nur annähernd so groß wie das alte Kleinbürgertum, das im vormonopolistischen Stadium des Kapitalismus auf der Grundlage des unabhängigen Unternehmertums nicht weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachte oder sogar noch mehr. Sie umfaßt in den Vereinigten Staaten heute vielleicht mehr als 15 Prozent, aber weniger als 20 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung. Ihr rasches Wachstum als partieller Ersatz für die alte Mittelklasse macht jedoch ihre Bestimmung zu einer Frage von besonderem Interesse; dies um so mehr, als ihr rein formaler Charakter dem der deutlich proletarischen Arbeiterklasse ähnlich ist.

Die Kompliziertheit der Klassenstruktur des vormonopolistischen Kapitalismus entsprang der Tatsache, daß ein derart großer Teil der Arbeiterbevölkerung aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit herausfiel dadurch, daß er weder vom Kapital beschäftigt wurde noch selbst in irgendeinem bedeutenden Ausmaß Arbeit beschäftigte. Die Komplexität der Klassenstruktur des modernen Monopolkapitalismus erwächst aus dem genau entgegengesetzten Grund: daß nämlich fast die gesamte Bevölkerung zu Beschäftigten des Kapitals umgeformt worden ist. Fast jede Verbindung der Arbeit mit dem modernen Großunternehmen oder seinen ihm nachgebildeten Ablegern in der staatlichen Verwaltung oder den sogenannten gemeinnützigen Organisationen nimmt die Form des Kaufs und Verkaufs von Arbeitskraft an.

Der Kauf und Verkauf von Arbeitskraft ist die klassische Form der Schaffung und fortgesetzten Existenz der Arbeiterklasse. Soweit es die Arbeiterklasse betrifft, verkörpert diese Form gesellschaftliche Produktionsverhältnisse, die Verhältnisse der Unterwerfung unter Herrschaft und Ausbeutung. Wir müssen nun die Möglichkeit untersuchen, daß dieselbe Form dazu benutzt wird, andere Produktionsverhältnisse zu verbergen, zu verkörpern und auszudrücken. Nehmen wir ein höchst extremes Beispiel: die Tatsache, daß die Betriebsleiter eines riesigen Unternehmens Angestellte dieses Unternehmens und in dieser Eigenschaft nicht Eigentümer seiner Werke und Bankkonten sind, stellt lediglich die Form dar, die die kapitalistische Herrschaft in der modernen Gesellschaft angenommen hat. Diese Unternehmensleiter sind dank ihrer hohen Managerpositionen, ihrer persönlichen Investitionsportefeuilles, ihrer unabhängigen Entscheidungsgewalt, ihres Platzes in der Hierarchie des Arbeitsprozesses, ihrer Position in der Gemeinschaft der Kapitalisten insgesamt usw. usw. die Herrscher der Industrie, handeln »professionell« für das Kapital und sind selbst Teil der Klasse, die das Kapital verkörpert und Arbeit beschäftigt. Ihr formales Attribut, Teil derselben Lohnliste zu sein wie die Produktionsarbeiter, Büroangestellten und Pförtner des Unternehmens beraubt sie ebenso wenig ihrer Entscheidungsgewalt und ihrer Befehlgewalt über andere im Unternehmen wie die Tatsache, daß der General wie der gemeine Soldat Uniform trägt, den General, oder die Tatsache, daß der Papst und der Kardinal dieselbe Liturgie singen wie der Dorfpfarrer, diese ihrer privilegierten Stellung beraubt. Die Form der gekauften Arbeitskraft verleiht zwei völlig verschiedenen Wirklichkeiten Ausdruck: im einen Fall kauft das Kapital eine »Arbeitskraft«, deren Pflicht es ist, unter fremder Anleitung für die Vermehrung des Kapitals zu arbeiten; im anderen wählt das Kapital durch einen Selektionsprozeß innerhalb der kapitalistischen Klasse und hauptsächlich aus seinen eigenen Reihen Managemcntperso-nal aus, das es an Ort und Stelle vertreten soll und dabei die Verrichtungen der Arbeiterschaft zu überwachen und zu organisieren hat.

So weit ist der Unterschied klar, doch innerhalb dieser beiden Extreme gibt es eine Reihe dazwischenliegender Kategorien, die - wenn auch in unterschiedlichen Graden - die Merkmale einerseits von Arbeitern und andererseits von Managern besitzen. Die Abstufungen der Stellung im Bereich des Managements können vor allem aus den Entscheidungsbefugnissen ersehen werden, während die Abstufungen in den Stabpositionen durch das Niveau der technischen Sachkenntnis gegeben sind. Da die Autorität und Sachkenntnis der mittleren Ränge im kapitalistischen Großunternehmen eine unvermeidbare Delegierung von Verantwortung darstellen, läßt sich die Position solcher Angestellten vielleicht am besten beurteilen anhand ihrer Beziehung zu der Macht und dem Reichtum derjenigen über ihnen, von denen sie ihre Befehle entgegennehmen, und zu der Masse der Arbeitnehmer unter ihnen, die sie ihrerseits zu kontrollieren, anzuweisen und zu organisieren helfen. Die Höhe ihres Gehalts ist wichtig, da sie über einen bestimmten Punkt hinaus, wie die Bezahlung der Befehlshaber des Unternehmens, eindeutig nicht mehr nur den Austausch ihrer Arbeitskraft gegen Geld - also einen Warenaustausch - verkörpert, sondern einen Anteil an dem in dem Unternehmen produzierten Mehrwert, und da die Bezahlung daher darauf abzielt, sie mit dem Erfolg oder Mißerfolg des Unternehmens zu verknüpfen und ihnen einen, wenn auch nur kleinen »Managementanteil« zuzugestehen. Das gleiche gilt insofern, als sie eine anerkannte Beschäftigungsgarantie, eine relative Unabhängigkeit ihrer Arbeitsweise innerhalb des Arbeitsprozesses, Macht über die Arbeit anderer, Recht, Personen einzustellen und zu entlassen, und andere Herrschaftsprivilegien genießen.

An diesen und ähnlichen Maßstäben gemessen, gibt es auf diesen mittleren Stufen der Beschäftigung in Verwaltung und Technik zweifellos ein breites Spektrum. Die Chefingenieure, welche den Produktionsprozeß entwerfen, gehen auf im Spitzenmanagement, und die Hierarchie unter ihnen endet in großen Zeichen- und Entwurfsbüros, die in vielen Fällen nach denselben Grundsätzen organisiert wurden wie die Fertigungsstraße in der Fabrik oder im Büro, und die mit dichten Reihen von Detailarbeitern besetzt sind, deren Gehälter, wenn sie auch besser sein mögen als die der Fabrikarbeiter oder Büroangestellten, doch vielleicht nicht so gut sind wie die von Facharbeitern, und die wenig mehr Unabhängigkeit und Autorität in ihrer Arbeit besitzen als der Produktionsarbeiter. Dazwischen stehen die Unteroffiziere der Industriearmee, die Vorarbeiter, die kleinen »Manager« aller Art, die technischen Spezialisten, die sich in ihrer Arbeit, wenn auch keine Autorität mehr, so doch zumindest noch eine hartnäckige Unabhängigkeit bewahrt haben. Und außerhalb der eigentlichen Großunternehmen, in Regierungs-, Erziehungs- und Gesundheitsinstitutionen, werden diese Abstufungen in Formen reproduziert, die den in all diesen Bereichen jeweils durchgeführten Arbeitsprozessen eigen sind.

Auf diese dazwischengeschalteten Gruppierungen sind die »Scheibchen« spezialisierter Kenntnisse und delegierter Entscheidungsgewalt verteilt, ohne welche die Maschinerie der Produktion, Verteilung und Verwaltung aufhören würde zu funktionieren. Jede dieser Gruppierungen dient als Rekrutierungsfeld für die darüberliegenden Gruppen, bis hinauf zum Spitzenmanagement. Ihre Beschäftigungsbedingungen werden bestimmt von dem Bedarf des Spitzenmanagements an Pufferschichten in seinemMachtbereich, an verantwortlichen und »loyalen« Untergebenen, an Transmissionsstationen für die Ausübung der Kontrolle und das Zusammentragen von Information, damit das Management nicht hilflos einer feindlichen oder gleichgültigen Masse gegenübersteht. Diese Bedingungen werden darüber hinaus von der privilegierten Marktposition beeinflußt, die spezialisierte und technisch ausgebildete Arbeit in den früheren Phasen ihrer Entwicklung besitzt, zu einer Zeit also, in der das Angebot an solcher Arbeit die Bedürfnisse der Kapitalakkumulation noch nicht erreicht hat. Alles in allem genießen die Personen in diesem Bereich der kapitalistischen Beschäftigung daher - je nach ihrem spezifischen Platz in der Hierarchie in stärkerem oder geringerem Maße - das Privileg, von den schlimmsten Merkmalen der proletarischen Situation verschont zu bleiben, was in der Regel eine signifikant höhere Bezahlung einschließt.

Wenn wir dies jedoch eine »neue Mittelklasse« nennen wollen, wie viele dies getan haben, so müssen wir dies mit gewissen Vorbehalten tun. Die alte Mittelklasse nahm jene Stellung kraft ihres Platzes außerhalb der polaren Klassenstruktur ein; sie besaß die Eigenschaften weder des Kapitalisten noch des Arbeiters; sie spielte keine direkte Rolle im Kapitalakkumulationsprozeß, weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Diese »neue Mittelklasse« dagegen nimmt ihre vermittelnde Stellung nicht deshalb ein, weil sie außerhalb des Prozesses der Kapitalvermehrung steht, sondern deshalb, weil sie - als Teil dieses Prozesses - ihre Merkmale von beiden Seiten bezieht. Nicht nur, daß sie ihren winzigen Anteil an den Vorrechten und Entgelten des Kapitals erhält, sie trägt auch den Stempel der proletarischen Situation. Für die Beschäftigten macht sich die gesellschaftliche Form ihrer Arbeit, ihr wahrer Platz in den Produktionsverhältnissen, ihre Grundsituation der Unterordnung als so und so viel gekaufte Arbeit, zunehmend bemerkbar, insbesondere bei den in dieser Schicht enthaltenen Massenberufen. Wir können hier vor allem die Massenberufe der Zeichner und Techniker, Ingenieure und Buchhalter, Krankenschwestern und Lehrer und die sich vervielfachenden Ränge von Aufsehern, Werkmeistern und kleinen Managern nennen. Diese werden zuerst zu einem Teil eines Massenarbeitsmarktes, der die Merkmale aller Arbeitsmärkte annimmt, einschließlich der notwendigen Existenz einer Reservearmee von Arbeitslosen, die einen Druck auf die Höhe der Bezahlung ausüben.(1) Und zweitens unterwirft das Kapital, sobald es in irgendeinem speziellen Zweig über eine Masse von Arbeit verfügt, diesen Bereich irgendeiner der Formen der für die kapitalistische Produktionsweise charakteristischen »Rationalisierung«. Eine »Masse von Arbeit« bedeutet in diesem Zusammenhang eine Menge, die so groß ist, daß es sich auszahlt, die kapitalistischen Grundsätze der technischen Arbeitsteilung und hierarchischen Kontrolle über die Ausführung zur Anwendung zu bringen, und zwar dadurch, daß man die für die Konzeption verantwortlichen Glieder fest in der Hand hat.

In derartigen Beschäftigungen beginnt sich die proletarische Form durchzusetzen und dem Bewußtsein der dort Beschäftigten einzuprägen. Sie fühlen die Unsicherheit ihrer Rolle als Verkäufer von Arbeitskraft und die Frustrationen eines kontrollierten und mechanisierten Arbeitsplatzes und beginnen, ungeachtet der ihnen verbleibenden Privilegien, jene Symptome der Dissoziation kennenzulernen, die allgemein als »Entfremdung« bezeichnet werden, und mit denen die Arbeiterklasse schon seit so langer Zeit lebt, daß sie zu ihrer zweiten Natur geworden sind.

In dem Kapitel über die Angestelltenarbeit haben wir bereits beschrieben, auf welche Art und Weise eine Zwischenschicht zu einer Massenbeschäftigung erweitert und dabei aller ihrer Privilegien und Merkmale als Zwischenschicht beraubt wurde. Es ist überflüssig, hier eine ähnliche Entwicklung der spezialisierten und unteren leitenden Angestellten in irgendeiner nahen Zukunft vorauszusagen. Man sollte sich jedoch darüber klarwerden, daß die Schwierigkeiten derjenigen, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu einer »Definition« der Klassenlage der Büroangestellten zu gelangen vesuchten, ungefähr die gleichen waren wie die, mit denen man sich heute beim Definieren der Zwischenschichten der modernen Erwerbsbevölkerung auseinanderzusetzen hat. Diese Schwierigkeiten ergeben sich letzten Endes aus der Tatsache, daß Klassen, Klassenstruktur und Gesellschaftsstruktur als Ganze keine festen Einheiten, sondern vielmehr in Bewegung befindliche Prozesse sind, reich an Veränderungen, Übergängen und Abweichungen, und daß sie nicht in Formeln eingeschlossen werden können, so analytisch richtig solche Formeln auch sein mögen.(2) Die Analyse dieses Prozesses setzt ein Verständnis der inneren Beziehungen und Zusammenhänge voraus, die die treibende Kraft des Prozesses darstellen, damit seine Richtung verständlich wird. Erst an sekundärer Stelle ergibt sich das Problem, den Platz besonderer Elemente in dem Vorgang zu »definieren«, und dieses Problem läßt sich nicht immer sauber und definitiv lösen, aber - das sollte man hinzufügen - für die Wissenschaft ist es auch gar nicht erforderlich, es so zu lösen.

Anmerkungen  

1) Das erste größere Beispiel dafür kam mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre, doch in dem raschen Aufschwung der Kapitalakkumulation und der Umgestaltung der Industrie, die mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, wurde diese Tendenz überwunden. Gegen Ende der Sechzigerjahre jedoch machte die steigende Arbeitslosigkeit unter den »Akademikern« der verschiedensten Art diesen erneut klar, daß sie nicht die freien Wirtschaf tssubjektc waren, für die sie sich hielten, die sich mit der einen oder anderen Gesellschaft »zu assoziieren geruhten«, sondern daß sie in Wirklichkeit Bestandteil eines Arbeitsmarktes sind, eingestellt und entlassen, wie ihre Untergebenen.

2) E.P. Thompson schreibt: »Es gibt heute eine überall gegenwärtige Versuchung, die Klasse für ein Ding zu halten. Dies war nicht die Auffassung, die Marx in seinen eigenen historischen Schriften vertrat, doch beeinträchtigt dieser Irrtum einen Großteil des Schrifttums späterer Marxisten. Man nimmt an, daß >sie<, die Arbeiterklasse, eine reale Existenz besitzt, die sich nahezu mathematisch definieren läßt - so und so viele Menschen, die in einem bestimmten Verhältnis zu den Produktionsmitteln stehen. . . »Wenn wir uns daran erinnern, daß Klasse ein Verhältnis ist und nicht ein Ding, so können wir nicht so denken.« (The Making of The English Working Class, 1964, 10 f.)

Editorische Hinweise

Der Text stammt aus: Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozess, New York 1974, Ffm 1985, S.306-310