Viele Jahre
hindurch war Trotzki ein für Marxisten unmögliches
Sujet. Der Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei
in den 20er Jahren führte zu einer derart heftigen
Polarisierung des Trotzki-Bildes in der internationalen
Arbeiterbewegung, daß jede rationale Diskussion seiner
Person und seiner Werke aussetzte. Der Bannfluch, den
Stalin über ihn aussprach, machte seinen Namen für
Millionen Kämpfer in der ganzen Welt zum Symbol des
Verrats. Jenseits der Scheidelinie hob eine überzeugte
und isolierte Minderheit seine Erinnerung in den Himmel,
in dem Glauben, sein Denken sei der „Leninismus unserer
Zeit". Die normale Diskussion um Trotzki ist noch heute,
30 Jahre nach seinem Tod und ein Jahrzehnt nach dem Tod
Stalins, in der kommunistischen Bewegung tabuisiert.
Magische Verhaltensweisen ihm gegenüber dauern fort —
ein auffälliger Anachronismus in der heutigen Welt. Die
eine Ausnahme von dieser Regel ist natürlich die
dreibändige Biographie von Isaac Deutscher, selbst nur
Teil seines umfassenderen Werkes. Aber gerade die Größe
von Deutschers Leistung scheint paradoxerweise andere
von einer marxistischen Auseinandersetzung über Trotzkis
wahre historische Bedeutung abgeschreckt zu haben. Es
ist sicher kein Zufall, daß wir noch keine marxistische
Kritik zu Deutschers Werk besitzen, welche sich in der
Qualität nur annähernd mit diesem messen ließe.
Deutschers Werk ist den heute üblichen Einstellungen
soweit voraus, daß es bisher nicht richtig aufgenommen
und folglich auch nie in Frage gestellt wurde. Seine
Implikationen werden freilich nur durch eine
fortschreitende Diskussion verschiedener Aspekte der
sowjeti schen. Geschichte aufgedeckt werden — auch wenn
diese Diskussion abweichende Meinungen hervorbringt.
Dieser Aufsatz will dazu beitragen, sich einem dieser
Probleme zu nähern: Wie sollen wir Trotzki als Marxisten
beurteilen? Das heißt Trotzki mit Lenin (eher als mit
Stalin) vergleichen und das Augenmerk auf die
spezifische Einheit seiner theoretischen Schriften und
seiner politischen Praxis richten. Von dieser
Fragestellung aus gliedert sich Trotzkis Leben in vier
deutlich abgrenzbare Perioden: 1879—1917; 1917—1921;
1921—1929 und 1929—1940. Die Hauptthese dieses Aufsatzes
lautet: Alle vier Phasen werden am ehesten verständlich
im Rahmen eines einzigen Problems und seiner latenten
theoretischen Hintergründe — nämlich Trotzkis Verhältnis
zur Partei als der revolutionären Organisation des
Proletariats. Dieser Brennpunkt — so wird argumentiert
werden — beleuchtet alle Grundzüge von Trotzkis
politischem Denken und erklärt zugleich die Wechselfälle
seiner politischen Laufbahn. 1879—1917: Von „Lenins
Keule" zum Gründungsmitglied der Menschewiki
Bis zur Oktoberrevolution war Trotzki nie
diszipliniertes Mitglied irgendeiner Fraktion der
Sozialdemokratischen Partei Rußlands, weder Bolschewik
noch Menschewik. Diese Tatsache mag teilweise aus den
politischen Differenzen zu erklären sein, die Trotzki
bei verschiedenen Anlässen mit den Bolschewik! und den
Menschewiki hatte. Sie weist jedoch zweifellos auch auf
eine tiefergehende theoretische Vorentscheidung hin, die
für Trotzkis Handeln in dieser Phase bestimmend war.
Eine seiner frühesten überlieferten Schriften war, nach
Deutscher, ein in Sibirien geschriebener Aufsatz zur
Frage der Parteiorganisation. Hier setzte sich Trotzki
für eine rigorose disziplinarische Kontrolle der
revolutionären Bewegung durch ein starkes Zentralkomitee
ein: „Das Zentralkomitee wird seine Beziehungen mit (der
undisziplinierten Organisation) abbrechen und damit jene
Organisation von der gesamten Weltrevolution
isolieren."(1) Dieser Ansicht entsprach es durchaus, daß
Trotzki, nach seiner Flucht aus Rußland im Jahre 1902,
anläßlich der Auseinandersetzung zwischen Iskra
und den Ökonomisten auf dem
III.
Parteitag der SDAPR 1903 in Brüssel für
ein eisernes Diszipli-narsystem eintrat. Das
Parteistatut sollte seiner Meinung nach das
„organisierte Mißtrauen der Führung" gegen die
Mitglieder ausdrücken, ein Mißtrauen, das sich in der
wachsenden, hierarchischen Kontrolle über die Partei
kundtut. Der Sinn dieser Formulierung ist merklich
verschieden von allem, was in „Was Tun?" zu finden ist.
Der Trotzki dieser
Phase — wieder zurück aus dem sibirischen Exil und ein
Neuling in der nationalen revolutionären Bewegung — war
als „Lenins Keule" bekannt; aber ein Vergleich der
Schriften beider Männer aus dieser Zeit zeigt, wie wir
sehen werden, ganz klar, daß Trotzkis
„Proto-Bolschewik"-Phase bloß die äußerlichen und
formalen Aspekte der leninschen Theorie der
Parteiorganisation reproduzierte — ohne deren
soziologischen Inhalt. Was dabei notwendigerweise
herauskam, war eine Karikatur von Lenins Theorie, eine
militarisierte Befehlshierarchie, die der leninschen
Konzeption völlig fremd gewesen war. Da Trotzkis
Vorstellungen nicht auf einer organischen Theorie der
revolutionären Partei aufgebaut sind, überrascht es denn
auch nicht, daß er noch auf demselben Parteitag
plötzlich zum anderen Extrem überwechselte, wobei er
schließlich Lenin als „Partei-Desorganisator"
denunzierte und ihm vorwarf, hinter einem Plan zu
stehen, der die SDAPR von einer Organisation der
russischen Arbeiterklasse in eine Verschwörerbande
verwandeln würde. So wurde aus „Lenins Keule" Ende 1903
ein Gründungsmitglied der Menschewiki. Im April 1904
veröffentlichte Trotzki in Genf „Unsere politischen
Aufgaben", einen Aufsatz, den er dem Menschewik Axelrod
widmete. In diesem Aufsatz verwarf er die ganze
leninsche Theorie der revolutionären Partei und
verneinte ausdrücklich Lenins grundlegende These, daß
die Theorie des Sozialismus an die Arbeiterklasse von
außen herangetragen werden müsse — von einer Partei, die
auch die revolutionäre Intelligenz umfaßt. Trotzki
verwarf diese Theorie als „Substitutionalismus" und
malte ihre Folgen in den düstersten Farben aus: „Lenins
Methoden führen zu folgenden Ergebnissen: zuerst tritt
die Parteiorganisation (das Wahlkomitee) an die Stelle
der ganzen Partei; dann nimmt das Zentralkomitee die
Stelle der Organisation ein und schließlich ersetzt ein
einziger ,Diktator' das Zentralkomitee..." Er ging so
weit, Lenins „bösartiges und moralisch abstoßendes
Mißtrauen"(2) anzuprangern.
Partei und Klasse
Sein eigenes Modell einer Sozialdemokratischen Partei
entlehnte er der deutschen Partei, was bedeutete, daß
die Partei neben der Arbeiterklasse bestehen sollte.
Hier erhebt sich aus marxistischer Sicht sofort der
Einwand, daß die wahren Probleme einer revolutionären
Theorie und das Verhältnis zwischen Partei und Klasse
nicht mit Begriffen wie „Substitution" und dem
inbegriffenen Gegensatz „Identität" wissenschaftlich
gelöst werden können. Partei und Klasse beziehen sich
auf verschiedene Ebenen der Gesellschaftsstruktur, ihr
Verhältnis ist immer eines der Artikulation. Zwischen
ihnen ist Austausch („Substitution") genausowenig
möglich wie Identität — sie sind notwendigerweise
verschiedene Instanzen eines gegliederten
gesellschaftlichen Ganzen, weder vergleichbare noch
gleichbedeutende Ausdrücke einer bestimmten Ebene. Die
spekulativen Begriffe „Substitution" und „Identität"
verhindern von vornherein jedes genaue Verständnis der
spezifischen Natur der Praxis gegenüber der
revolutionären Partei in und zu der Arbeiterklasse, so
wie es von Lenin theoretisch bestimmt worden war. Ihre
Verwendung läuft hinaus auf den grundlegenden Fehler,
die unvermeidlich autonome Rolle politischer
Institutionen im allgemeinen und der revolutionären
Partei im besonderen zu begreifen als autonom gegenüber
den Massenkräften in einem gesellschaftlichen Ganzen,
das letztenendes natürlich durch die Ökonomie
determiniert ist.
Diese Unfähigkeit, die Spezifik politischer
Organisationen und die Rolle der revolutionären Partei
zu begreifen — d. h. das Fehlen einer Theorie der Partei
—, erklärt die plötzlichen und willkürlichen
Schwankungen, denen Trotzkis Einstellung zur Partei in
diesen Jahren unterworfen war. Ihre Bedeutung war bloß
psychologisch, Ausdruck eines ambivalenten Schwankens
zwischen „autoritären" und „anti-autoritären" Haltungen,
was sich auch später wiederholen sollte — von der Frage
der Haltung Trotzkis zum Kriegskommunismus bis hin zu
seiner Rolle als Gegner der „Bürokratie". Die abstrakte
Gegenüberstellung solcher Haltungen weist an sich schon
auf eine vormarxistische Problemstellung hin. Sie haben
keinen eigenen theoretischen Stellenwert, sie zeigen
nur, von dieser Unfähigkeit abgesehen, auf einen
Leerraum in Trotzkis Denken. Diese Unfähigkeit war
jedoch verbunden mit einem ungewöhnlich intensiven und
unmittelbaren Verständnis der gesellschaftlichen
Massenkräfte selbst. Ende 1904 trat Trotzki aus der
Menschewik-Fraktion aus und ging ein geistiges Bündnis
mit Parvus ein, einem russischen Emigranten in der
deutschen SPD. Damit wurde die außerordentliche
Unbeständigkeit seiner Bindungen zu politischen
Gruppierungen rasch bestätigt. Doch war es gerade diese
wenig verankerte Position, die paradoxerweise seinen
blitzartigen Aufstieg während der Revolution von 1905
ermöglichte — einem spontanen Durchbrach, bei dem es
keiner revolutionären Organisation gelingen konnte,
rechtzeitig und effektiv die Bewegung in die Hand zu
bekommen, bevor sie zerbröckelte und ihre Stärke verlor.
Die Revolution überraschte Bolschewiki und Menschewiki
gleichermaßen, und ihre Führer kamen mit einiger
Verzögerung in Rußland an. Trotzki, der von Anfang an in
Petersburg war, stellte sich viel schneller auf die
Massenerhebung vom Oktober ein — die ja von keiner
politisch führenden Partei beeinflußt war. Er übernahm
bald die Führung des Petersburger Sowjet.
Deutscher beobachtete richtig, daß Trotzki gerade mit
diesem Erfolg „die Unreife der Bewegung verkörperte". Es
war eben diese Unreife, die fünf Monate später die
rasche und vollständige Niederlage der Revolution
herbeiführte — die Grablegung der Spontaneität in der
Geschichte der Bewegung der russischen Arbeiterklasse.
„Ergebnisse und Perspektiven"
Aber diese Erfahrung kristallisierte sich zur ersten
und wichtigsten Schrift Trotzkis: „Ergebnisse und
Perspektiven", 1909 im Gefängnis geschrieben. Dieses
Werk enthält bereits alle Elemente der 1928 in der
polemischen Schrift „Die Permanente Revolution"
niedergelegten Ansichten — aber es ist noch mehr als
das. Es ist ohne Frage eine brilliante Vorformulierung
der wichtigsten Klassenmerkmale der Oktoberrevolution
von 1917. „Es ist möglich, daß das Proletariat in einem
ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt
als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land...
Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die
Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände
des Proletariats übergehen kann . . . bevor die
Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit
erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten
... Das Proletariat, das sich an der Macht befindet,
wird vor die Bauernschaft als die sie befreiende Klasse
treten."(3)
Permanente Revolution
Trotzki sagte richtig voraus, daß die Atomisierung
der Bauernschaft und die Schwäche der Bourgeoisie in
Rußland es dem Proletariat ermöglichen würden, noch als
Minderheit die Macht zu ergreifen. Einmal an die Macht
gelangt, müßte das Proletariat um jeden Preis die
Unterstützung der Bauernschaft gewinnen und wäre so
gezwungen, „bürgerliche" Maßnahmen sofort in
„sozialistische" zu überführen. Diesen Prozeß nannte er
„permanente Revolution" — eine unpassende Bezeichnung,
welche den Mangel wissenschaftlicher Präzision sogar
seiner tiefsten Gedanken erkennen läßt. Durch die
Heraufbeschwörung einer Vorstellung unaufhörlicher
Umwälzungen überall und zu allen Zeiten — einer
metaphysischen Feier des Aufstandes — begünstigte diese
Formulierung Verdrehungen in der Polemik sowohl der
Anhänger als auch der Gegner Trotzkis. In Trotzkis
eigenem Denken zog die Formel, mit ihrem
romantisch-idealistischen Gepräge, schon zum Zeitpunkt
ihres Entstehens unweigerlich bedenkliche Fehler nach
sich. Die Formel von der „permanenten Revolution"
verwischte vor allem die zwei ganz verschiedenen
Probleme des Klassencharakters der kommenden Revolution
in Rußland (ununterbrochenes Fortschreiten von
demokratischen zu sozialistischen Forderungen) und der
Fähigkeit der russischen Revolution, sich international
zu behaupten. Denn in diesem Aufsatz behauptete Trotzki
wiederholt, die Revolution in Rußland könne unmöglich
den konterrevolutionären Angriffen standhalten, wenn sie
nicht durch gleichzeitige Revolutionen in Westeuropa
Unterstützung bekäme. Die „Logik" dieser Annahme leitet
sich aus der konfusen Begrifflichkeit der „permanenten
Revolution" ab — einer Formel, die es Trotzki
ermöglichte, von dem nationalen Charakter der Revolution
in Rußland zu den internationalen Voraussetzungen ihres
Überlebens überzugehen, als seien dies Stufen einer
Rolltreppe, die sich „permanent" aufwärts bewegt. Das
allzu offensichtlich Unzulässige dieses Vorgehens hat
Trotzkis Thesen grundlegend geschwächt. Dies
beeinträchtigt nicht die Größe seiner Leistung, die
darin lag, schon 11 Jahre vor der Oktoberrevolution ihre
Natur im wesentlichen vorauszusehen, zu einem Zeitpunkt,
da kein anderer russischer Führer die klassischen
Voraussagen Plechanows zurückgewiesen hatte. Es rückt
diese Leistung lediglich an ihren Platz innerhalb der
spezifischen Koordinaten von Trotzkis Marxismus.
Das Fehlen der Partei
„Ergebnisse und Perspektiven" ist ein außerordentlich
bedeutender Versuch einer Klassenanalyse. Nicht weniger
außerordentlich ist jedoch das Fehlen jeglicher Analyse
zur Rolle politischer Organisationen im sozialistischen
Kampf. In Trotzkis Szenarium von der künftigen
Revolution glänzt die Partei wieder durch ihre völlige
Abwesenheit. Wo er die ,Requisiten' des Sozialismus
diskutiert (Planwirtschaft, Vorherrschaft der
Großbetriebe, Diktatur des Proletariats), erwähnt er an
keiner Stelle die Partei oder ihre Rolle. Er attackiert
die Blanquisten und Anarchisten, aber meint dann
lediglich: „die Sozialdemokratie versteht unter der
Eroberung der Macht eine bewußte Aktion der
revolutionären Klasse"(4). Ihre Avantgarde ist in
Vergessenheit geraten.
Die einzige Diskussion über Parteien in den über
hundert Seiten des Aufsatzes ist eine vereinzelte, aber
richtige Kritik an den sozialdemokratischen Parteien des
Westens — ein durchaus richtiger Kommentar zu diesen
Organisationen, dessen Verallgemeinerung aber eine
feindliche Einstellung gegenüber der Existenz einer
revolutionären Partei überhaupt impliziert.(5) Wenn
Trotzki über den politischen Kampf in Rußland schreibt,
kommt er niemals auf die Rolle revolutionärer
Organisationen zu sprechen — er redet nur von
gesellschaftlichen Kräften.
Ein weiterer Kommentar zu diesem vorausweisenden Werk
sollte hier noch gegeben werden. Der Aufsatz zeigt ein
offensichtlich mangelndes Bewußtsein von der Parteifrage
— aber gleichzeitig ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein des
Staates, als eines bürokratischen und
militärischen Apparates. Er enthält eine lange und
anschauliche Beschreibung der Rolle des russischen
Staates beim Aufbau der modernen russischen
Gesellschaft. Trotzki hat nun zwar einen Großteil dieser
Analyse von dem liberalen Historiker Miljukow und von
seinem Mitarbeiter Parvus übernommen, aber die
Beredsamkeit seiner Ausführungen steht in scharfem
Gegensatz zu seinem gleichzeitigen Schweigen über die
Partei. Diese Polarisierung war nicht zufällig, sie
tauchte zu einem späteren Zeitpunkt in einem
entscheidenden praktischen Kontext wieder auf. Die
unmittelbaren Folgen dieses zentralen Mangels in
Trotzkis Denken wurden jedoch bereits nach seiner
Entlassung aus dem Gefängnis deutlich. Von 1907 bis 1914
bestanden Trotzkis politische Anstrengungen in
gelegentlichen und erfolglosen Versuchen, die sich
gegenseitig bekämpfenden sozialdemokratischen Fraktionen
zusammenzubringen. Zu diesem Zweck bildete er
schließlich den prinzipienlosen und kurzlebigen
Augustblock. An der wichtigen Arbeit des Aufbaus der
Bolschewistischen Partei, die in diesen Jahren von Lenin
in Angriff genommen wurde, beteiligte er sich überhaupt
nicht. Auf diese Weise ist ihm die Erfahrung des
Parteilebens, die seine Altersgenossen Stalin, Sinowjew
und Bucharin in dieser wichtigen Entwicklungsphase
sammelten, entgangen. Wie Deutscher richtig bemerkt,
„bilden die Jahre zwischen 1907 und 1914 in seinem Leben
einen Abschnitt, der auffällig arm an politischen
Leistungen ist ... Unter seinen Schriften . . . befinden
sich glänzend geschriebene journalistische Arbeiten und
literarische Kritiken, aber nicht eine einzige
bemerkenswerte Arbeit über die politische Theorie ... In
diesen Jahren schuf freilich Lenin mit Hilfe seiner
Anhänger eine Partei, und Männer wie Sinowjew, Kamenew,
Bucharin und später Stalin errangen eine Bedeutung, die
sie im Jahre 1917 befähigte, innerhalb der Partei
führende Rollen zu spielen. Zu der Bedeutung, die
Trotzki zwischen 1904—6 errungen hatte, trug die
gegenwärtige Periode wenig oder nichts bei."(6)
„Die Intelligenz und der Sozialismus"
Es wäre jedoch falsch zu glauben, Trotzki habe
während dieses langen Zeitraums keine wichtigen
Schriften hervorgebracht. Er schrieb vor allem einen
sehr wichtigen Aufsatz, der die latenten Grundlagen
seines politischen Denkens mit besonderer Klarheit
beleuchtet: „Die Intelligenz und der Sozialismus", im
Jahre 1910' geschrieben. In diesem Aufsatz zeigt Trotzki
eine erbitterte Feindschaft gegenüber den
Intellektuellen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der
sozialistischen Bewegung. Diese Feindseligkeit war ein
Reflex seiner Vorstellung von der Intelligenz. Aus
Trotzkis Schriften geht hervor, daß er die
Intellektuellen in einem gänzlich vor-leninschen Licht
gesehen hat — als Individuen bürgerlicher Herkunft, die
sich mit „Ideen" oder „Literatur" beschäftigen und ihrem
Wesen nach vom Proletariat und dem politischen Kampf
getrennt sind. Das Urbild des Intellektuellen ist in
seinen Werken immer das des Salonliteraten. Nun ist
dieses Bild identisch mit der Vorstellung, die die
Bourgeoisie von sich selbst hegt — die ja „Kunst" und
„Denken" erst von „weltlichen" Angelegenheiten (wie
Ökonomie und Politik) trennt, um dann das Idealbild des
Intellektuellen als eines Liebhabers solch ferner,
esoterischer Beschäftigungen zu verbreiten. Der vulgäre
Anti-Intellektualismus einer ouvrieristischen oder
labouristischen Arbeiterklasse ist ferner das genaue
Spiegelbild dieser bourgeoisen Vorstellung: der
„Intellektuelle" wird zu einer abwertenden Kategorie,
gleichbedeutend mit Dilettant, Parasit, Renegat. Dieser
Begriffszusammenhang hat mit Marxismus natürlich
überhaupt nichts zu tun. Er erklärt jedoch, warum
Trotzkis scheinbare Annäherung an Lenins Position in der
Parteifrage 1903 so formal und äußerlidi geblieben war.
Denn Lenins Theorie der Parteiorganisation, die er in
„Was tun?" darlegte, war untrennbar verbunden mit seiner
Theorie der Rolle und der Natur der Intellektuellen in
einer revolutionären Partei. Diese Theorie lautete im
wesentlichen: 1. Intellektuelle bürgerlichen Ursprungs
sind beim Aufbau einer revolutionären Partei
unentbehrlich — sie sind die einzigen, die der
Arbeiterklasse zum Verständnis des wissenschaftlichen
Sozialismus verhelfen können; 2. Die Arbeit der
revolutionären Partei hebt den Unterschied zwischen
„Intellektuellen" und „Arbeitern" in ihren Reihen auf.
Diese Theorie Lenins sollte Gramsci bekanntlich in
seiner berühmten Analyse der revolutionären Partei als
eines „modernen Prinzen" weiterentwickeln — alle
Mitglieder werden zu Intellektuellen eines neuen Typs.
Im Gegensatz zu dieser komplexen Konzeption bestand
Trotzkis Position in einer Übernahme traditioneller
Kategorien und der dazugehörigen Vorurteile. Wo er auf
die Intellektuellen zu sprechen kam, dachte er an jene
esoterischen Literatenkreise in Moskau, die er später in
„Literatur und Revolution" attackieren sollte — nie an
die neuen Intellektuellen, die als Mitglieder der
Bolschewistischen Partei in dieser Partei und durch sie
geschaffen würden. Mit einem Wort, er verfügte über
keine marxistische Theorie der Intellektuellen und deren
Verhältnis zur revolutionären Bewegung, und vertrat
daher bloße Meinungen. In seinem Aufsatz aus dem Jahre
1910 erklärte er rundweg, das Wachstum der
sozialistischen Bewegung in Europa würde zur Folge
haben, daß immer weniger Intellektuelle sich ihr
anschließen würden. Dieses Gesetz sollte auch für
Studenten gelten: „Während ihrer ganzen Geschichte . . .
sind die Studenten Europas lediglich das empfindliche
Barometer der bürgerlichen Klasse gewesen."(7)
Im Zentrum seiner Analyse der Beziehung zwischen den
Intellektuellen und der Arbeiterklasse steht seine
pauschale Ablehnung der ersteren — was das ganze Ausmaß
seiner Unfähigkeit, „Was tun?" zu verarbeiten, klar
erkennen läßt.(8) Er schreibt: „Wenn die gegenwärtige
Eroberung des gesellschaftlichen Apparates vom
vorherigen Überlaufen der Intelligenz zur Partei des
europäischen Proletariats abhinge, dann wären die
Aussichten des Kollektivismus allerdings sehr
schlecht."(9) Diese allgemeine Einstellung, einmal klar
erkannt, erklärt, warum Trotzkis vorübergehender
„Zentralismus" im Jahre 1903 mechanisch und zerbrechlich
war. Er war eine Parodie auf den Leninismus — eine
militarisierte Mimikry seiner Disziplin ohne den
dazugehörigen Inhalt —, eine Umformung der „Arbeiter"
und „Intellektuellen" in Revolutionäre durch eine
einheitliche politische Praxis. Die einzige Funktion,
die Trotzki den Intellektuellen überhaupt zuschrieb, war
die des „Substitutionalismus" — und zwar in einem
Aufsatz, der speziell die russische Intelligenz
behandelt.(10) Dezembristen, Narodniki und Marxisten
werden undifferenziert verdammt, als Gruppen, die sich
an die Stelle der gesellschaftlichen Klassen setzen, die
sie zu vertreten vorgeben — eine „düstere Übersicht" der
russischen Geschichte, um mit Deutscher zu reden. Wieder
einmal verleitet das Fehlen einer Theorie von den
differenzierten Ebenen oder Instanzen der
Gesellschaftsstruktur zur Annahme eines horizontalen
Austausches von „Intellektuellen" und „Klassen", wobei
die eine Gruppe an die Stelle der anderen treten kann.
So wird jedes politische Handeln von Intellektuellen
notwendig zur Usurpation — und das auf Kosten des
Proletariats. Was hier fehlt, ist wiederum die Idee der
Partei als einer autonomen politischen Struktur, welche
zwei verschiedene Phänomene verbindet und umformt — die
Intelligenz und die Arbeiterklasse. Innerhalb dieser
Konzeption ist es sinnlos, von „Substitution" zu reden,
denn ihre Elemente sind nicht vergleichbar oder
austauschbar. Sie sind modifizierbar — durch eine
neue politische Praxis, d. i. durch eine revolutionäre
Partei.
Trotzkis Geschichte vor 1917 läßt sich also
folgendermaßen zusammenfassen. Er war immer ein
Freischärler außerhalb der Reihen der organisierten
Arbeiterbewegung. Er zeichnete sich durch eine einmalige
intuitive Einsicht in den Klassencharakter der vor der
russischen Revolution sich sammelnden Kräfte aus. Dies
war jedoch gekoppelt mit einer tiefen und zählebigen
Unfähigkeit, die Natur und Funktion einer revolutionären
Partei zu begreifen — einer Unfähigkeit, die theoretisch
und organisatorisch an sein vormarxistisches Konzept
gebunden war. Noch 1915 ist in seinen Schriften die
Überzeugung klar zu erkennen, die Partei sei ein
willkürliches Randphänomen des Klassenkampfes: „Zwischen
der Stellung einer Partei und den Interessen der
gesellschaftlichen Schicht, auf die sie sich stützt,
kann eine gewisse Übereinstimmung fehlen, was sich
später in einen grundlegenden Widerspruch verwandeln
kann. Das Verhalten einer Partei kann sich unter dem
Einfluß der Launen der Massen ändern. Das ist
unbestreitbar. Das ist ein Grund mehr, uns in unseren
Überlegungen weniger auf solch unstabile und wenig
vertrauenerweckenden Dinge wie die Parolen und Praktiken
einer Partei zu verlassen und uns mehr auf
durchgängige historische Faktoren zu stützen: die
gesellschaftliche Struktur einer Nation, die Beziehung
zwischen den Klassen und die Tendenzen der
Entwicklung."(11) Dieses mangelnde Verständnis der
Funktion der leninistischen Partei erklärt Trotzkis
Enthaltung während der entscheidenden Phase des Aufbaus
der Bolschewistischen Partei ab 1907. Später beschrieb
er selber seine Haltung während dieser Phase mit großer
Ehrlichkeit und Genauigkeit: „Schließlich hatte ich
niemals versucht, auf der Basis der Theorie der
permanenten Revolution eine Gruppierung zu scharfen.
Meine innerparteiliche Stellung war eine
versöhnlichere, und wenn ich in gewissen
Augenblicken Gruppierungen anstrebte, so eben auf dieser
Basis. Mein Versöhnlertum entstammte einem gewissen
Sozialrevolutionären Fatalismus. Ich glaubte, die
Logik des Klassenkampfes werde beide Fraktionen zwingen,
die gleiche revolutionäre Linie zu verfolgen. Mir war
damals der große historische Sinn der Haltung Lenins
noch unklar, seiner Politik der unversöhnlichen
geistigen Abgrenzung und, wenn nötig, Spaltung zum
Zwecke der Vereinigung und Stählung des Rückgrates der
wahrhaft proletarischen Partei . . . Fast in allen
Fällen, jedenfalls in allen wichtigen Fällen, wo ich
mich taktisch oder organisatorisch in Widerspruch zu
Lenin gestellt hatte, war das Recht auf seiner
Seite."(12)
Wir sind nun in der Lage, die spezifisch theoretische
Abweichung in Trotzkis Denken auszumachen. Der Marxismus
ist während seiner ganzen Geschichte immer einer
Deformation ausgesetzt gewesen, die man Ökonomismus
nennt. Ökonomismus ist die Reduzierung sämtlicher
Ebenen einer Gesellschaftsformation auf die Bewegung der
Wirtschaft, die zu einer idealistischen „Wesenheit"
wird, während gesellschaftliche Gruppen, politische
Institutionen und kulturelle Produkte zu deren bloßen
„Erscheinungen" degradiert werden. Diese Abweichung, mit
allen daraus erwachsenden praktisch-politischen
Konsequenzen, war in der Zweiten Internationale weit
verbreitet. Sie war charakteristisch für die Rechte, die
in der Internationale dominierend war. Was dabei viel
seltener bemerkt wurde, ist die Tatsache, daß die Linke
innerhalb der Internationalen oft eine analoge
Abweichung aufwies, die wir der Bequemlichkeit halber
Soziologismus nennen möchten. Nicht die Wirtschaft,
sondern die Gesellschaftsklassen werden hier aus der
komplexen historischen Totalität herausgerissen und in
idealistischer Weise zu Demiurgen in jeder beliebigen
politischen Situation verselbständigt. Der Klassenkampf
wird zur unmittelbaren, inneren „Wahrheit" jeglichen
politischen Geschehens, die Massenkräfte werden zu den
ausschließlichen historischen Handlungsträgern.
Ökonomismus führt seiner Natur nach zur Passivität und
Nachtrabpolitik. Soziologismus führt im Gegenteil
tendenziell zum Voluntarismus. Luxemburg verkörpert mit
ihrer ausdrücklichen Verherrlichung der Spontaneität das
logische Extrem dieser Tendenz in der Zweiten
Internationale. Trotzki vertritt eine andere Variante
dieser Strömung, aber die Grundüberzeugung ist durchaus
ähnlich. Die Massenbewegungen werden in seinen Schriften
als die beständig dominierenden Kräfte der Gesellschaft
dargestellt, ohne daß irgendwelche politischen
Organisationen oder Institutionen als notwendige und
dauerhafte Ebenen der Gesellschaftsformation eine
Vermittlerrolle wahrnehmen. Im Gegensatz dazu ist Lenins
Marxismus durch die Idee einer komplexen Totalität
gekennzeichnet, in der sämtliche Ebenen — ökonomische,
soziale, politische, ideologische — ständig in Bewegung
sind, so daß der Ort der Widersprüche zwischen ihnen
ständig wechselt. Trotzkis Überbewertung der
Massenkräfte in dieser vielschichtigen Totalität war die
ursprüngliche Quelle seiner theoretischen Irrtümer,
sowohl vor als auch nach der Revolution.
1917—1921: Staatsmann
Der Ausbruch der Februarrevolution veränderte die
politischen Verhältnisse innerhalb der
sozialdemokratischen Bewegung in Rußland. Die neue
Situation befreite Trotzki mit einem Schlag von seiner
Vergangenheit. In wenigen Monaten hatte er seine
Menschewik-Genossen verlassen und richtete sich nach den
Positionen der Bolschewiki. Nun trat er als ein großer
Revolutionär hervor. Dies war die heroische Phase seines
Lebens, in der er als Architekt des Oktoberaufstandes
und militärischer Befehlshaber im Bürgerkrieg die
Vorstellungskraft der ganzen Welt auf sich lenkte. Nicht
nur das — er war zugleich der größte Redner der
Revolution. Er war Danton und Carnot in einer Person —
der große Volkstribun und der große militärische Führer
der russischen Revolution. So entsprach Trotzki genau
der Vorstellung, die sich die meisten Beobachter im
Ausland — ob freundlich oder feindlich gesinnt — von
einem Revolutionär machten. Er schien die Kontinuität
der französischen und russischen Revolution zu
verkörpern. Im Vergleich zu Trotzki war Lenin ein
scheinbar prosaischer Mensch -gänzlich anders als die
deklamatorischen Helden von 1789. Lenin verkörperte
einen neuen Typus des Revolutionärs. Der Unterschied der
beiden Männer war grundlegend und lag auch während der
Zeit, in der sie so eng zusammenarbeiteten, klar zu
Tage, Trotzki hat sich nie ganz in der Bolschewistischen
Partei akklimatisiert. Im Juli 1917 wurde er in die
Spitze der Parteiorganisation — das Zentralkomitee —
katapultiert, ohne jegliche Erfahrung des Lebens oder
der Praxis in der Partei. Infolgedessen wurde er
innerhalb der Partei immer anders beurteilt als
außerhalb ihrer Reihen. Sein internationales Image traf
nie mit seiner Einschätzung innerhalb der Partei
überein; er wurde immer in bestimmtem Maße als
Nachzügler und Eindringling verdächtigt. Es ist
bedeutsam, daß sein Genösse und Verbündeter
Preobrashenski noch 1928 während einer innerparteilichen
Auseinandersetzung von „uns alten Bolschewiki" reden
konnte, um seine Position von der Trotzkis abzusetzen.
Sicher wurde Trotzki von den Alten Bolschewiki nie ganz
als ihresgleichen anerkannt. Diese isolierte Rolle blieb
während der Revolution und selbst noch während des
Bürgerkriegs bestehen. Trotzki war der Motor des
militarisierten bolschewistischen Staates während der
Zeit der Mobilisierung. Er war kein Parteimann, noch
trug er während dieser Jahre irgendeine Verantwortung
für die Erhaltung und Mobilisierung der
Parteiorganisation. In der Tat wurde er von vielen
Bolschewisten wegen einer Politik kritisiert, die
innerhalb der Armee tatsächlich parteifeindlich war. So
war Trotzki z. B. entschlossen, die Macht der
Berufsoffiziere mit zaristischer Vergangenheit in der
Roten Armee zu stärken, und er kämpfte gegen die
Errichtung einer politischen Kontrollinstanz aus von der
Partei eingesetzten Polit-Kommissaren. Die
Auseinandersetzung über diesen Punkt — bei dem Trotzki
bereits mit Stalin und Woro-schilow in Konflikt geraten
war — war eine Hauptkontroverse des
VIII.
Parteitages im Jahr 1919. Lenin
unterstützte Trotzki, doch das Ressentiment gegen diesen
bleibt in den geheimen Anweisungen, die vom Parteitag
verabschiedet wurden, spürbar. Mikojans Ausruf während
des XII.
Parteitags war eine getreue Widerspiegelung der Einschätzung
Trotzkis durch den ständigen Parteistab: „Trotzki ist
ein Mann des Staates, aber nicht der Partei !"(13)
Dem Talent Trotzkis als militärischer Befehlshaber
entspricht audi sein Talent als Volksredner. Beide
Fähigkeiten entbehrten gleichermaßen einer spezifisch
parteipolitischen Praxis. Ein Organisator innerhalb
einer politischen Partei muß Individuen oder Gruppen für
seine Politik gewinnen, muß sie, um diese Politik
durchzusetzen, von seiner Autorität überzeugen. Das
erfordert viel Geduld und die Fähigkeit, sich klug zu
verhalten innerhalb eines komplexen politischen Kampfes,
dessen Teilnehmer alle gleichermaßen diskussions- und
entscheidungsberechtigt sind. Beides unterscheidet sich
völlig von den Fähigkeiten eines Volksredners. Trotzkis
Begabung für die Kommunikation mit den Massen war
außerordentlich. Doch seine Aufrufe an die Menge waren
notwendigerweise emotional — eine großartige Übertragung
von Dringlichkeit und Militanz. Als Volksredner war sein
Verhältnis zu den Massen ganz einseitig; er redete mit
vorbestimmtem Ziel auf sie ein, um sie für den Kampf
gegen die Konterrevolution zu mobilisieren. Auch seine
militärische Begabung war ähnlicher Art. Er gehörte
nicht zu den Organisatoren der Partei — denn er hatte
keine Erfahrung des tatsächlichen Funktionierens einer
Partei und schien sich für solche Fragen auch nicht
besonders zu interessieren. Seine große Leistung war es,
innerhalb von zwei Jahren buchstäblich aus dem Nichts
eine Rote Armee von 5 000 000 Mann auf die Beine zu
stellen und sie dann gegen die Weißen Armeen und deren
ausländische Verbündete zum Sieg zu führen. Sein
Organisationstalent war also wesentlich voluntaristisch.
Er besaß von vornherein die Autorität, um die Armee zu
organisieren — als Volkskommissar für den Krieg hatte er
das ganze Prestige Lenins und des Sowjetstaates hinter
sich. Diese Autorität mußte er sich nicht erst in der
politischen Arena erkämpfen. Es war eine
Autorität des militärischen Befehls und der Macht,
absoluten Gehorsam zu erzwingen. So gesehen, ist die
Affinität des militärischen Befehlshabers mit dem
Volkstribunen durchaus erklärlich. In beiden Fällen war
Trotzkis Rolle ausdrücklich voluntaristisch. Als
Volksredner mußte er die Menge für genau festgelegte
Zwecke emotional gewinnen; als Stütze des Sowjetstaates
mußte er seine Untergebenen zu genau festgelegten
Zwecken kommandieren. Seine Aufgabe war es in beiden
Fällen, die Mittel für einen bestimmten Zweck zu sichern
— eine Aufgabe, die sich klar untersdieidet von der
Anstrengung, unter zahlreichen konkurrierenden Meinungen
einer politischen Organisation einem neuartigen Zweck
zum Durchbruch zu verhelfen. Der Voluntarist ist in
seinem Element, wenn er Massen anspricht oder Truppen
verabschiedet — doch diese Funktionen dürfen nicht
verwechselt werden mit der Fähigkeit, eine revolutionäre
Partei zu führen.
Von militärischen zu ökonomischen Problemen
1921 war der Bürgerkrieg gewonnen. Mit dem Sieg mußte
die Bolschewistische Partei sich neu orientieren, sich
weniger auf militärische, mehr auf ökonomische Probleme
konzentrieren. Wiederaufbau und Reorganisierung der
Sowjetökonomie waren nun ihre primären strategischen
Ziele. Trotzkis Anpassung an diese neue Situation
läßt das vereinheitlichende Prinzip seiner gesamten
politischen Praxis in dieser Phase erkennen: er
befürwortete einfach die Übertragung militärischer
Lösungen auf ökonomische Probleme, wobei er einen
intensiveren Kriegskommunismus und die Einführung der
Zwangsarbeit verlangte. Diese bemerkenswerte Episode war
keine bloße beiläufige Verirrung in seiner Laufbahn,
sondern hatte tiefgreifende theoretische und praktische
Ursachen in seiner Vergangenheit. Seine Rolle als
Volkskommissar im Krieg disponierte ihn zu einer
ökonomischen Politik, die als einfache militärische
Mobilisierung konzipiert war: er verlängerte lediglich
seine früher geübte Praxis. Aber seine Neigung zur
„Befehls"-Lösung läßt zweifellos auch auf sein
mangelndes Verständnis der spezifischen Rolle der Partei
schließen, auf seine beharrliche Tendenz, politische
Lösungen auf der Ebene des Staates zu suchen.
Seine Losung bei der Gewerkschaftsdiskussion von 1921
lautete ausdrücklich: „Verstaatlichung" der
Gewerkschaften. Trotzki redete auch einer kompetenten,
fest verankerten Bürokratie mit einigen materiellen
Privilegien das Wort: Stalin sollte ihn dafür später
eine „Koryphäe der Bürokraten" nennen.
Hinzu kommt, daß Trotzki die Zwangsarbeit nicht als
eine von der politischen Lage erzwungene, bedauerliche
Notwendigkeit, als temporäres Ergebnis einer
Notsituation rechtfertigte. Er • versuchte sie vielmehr
sub specie aeternitatis zu legitimieren, mit der
Erklärung, daß allen Gesellschaften die Arbeit
auferzwungen sei — nur die Formen dieses Zwanges
änderten sich. Diese offene Parteinahme für die
Zwangsherrschaft wurde verbunden mit einem
mystifizierten Lob sozialistischer Hingabe —
Arbeitsbrigaden wurden angehalten, während der Arbeit
sozialistische Hymnen zu singen. „Entfaltet eine
unermüdliche Energie bei Eurer Arbeit, als ob Ihr
marschiert oder in der Schlacht kämpft ... Ein Deserteur
der Arbeit ist genauso verächtlich und verabscheuenswert
wie ein Deserteur auf dem Schlachtfeld. Strenge
Bestrafung für beide! .. . Beginnt und beendet Euere
Arbeit, wo immer möglich zum Klang sozialistischer
Hymnen und Lieder. Euere Arbeit ist keine Sklavenarbeit,
sondern ein hoher Dienst für das sozialistische
Vaterland."(14)
Diese widersprüchliche Mischung wurde natürlich
zusammengehalten durch den Voluntarismus, der beide
Ideen charakterisiert: Wirtschaft als Zwangsherrschaft
oder mystischer Dienst. Anfänglich konnte Trotzki für
seine Pläne, die Arbeit zu militarisieren, Lenins
Unterstützung gewinnen. Doch nach der großen Debatte
über die Gewerkschaften 1921 und nach Beendigung des
polnischen Krieges hat Lenin Trotzkis Vorschlag, die
Gewerkschaften im großen Maßstab von ihrer gewählten
Führung zu säubern, aufs entschiedenste zurückgewiesen.
Das Zentralkomitee der Partei denunzierte öffentlich
„militarisierte und bürokratische" Arbeitsformen.
Trotzkis Politik wurde also inmitten einer allgemeinen
Empörung über den Ideologen des Kriegskommunismus von
den Bolschewiken abgelehnt. Der Ausgang der ökonomischen
Debatte markierte den Abstand zwischen Lenins Idee einer
streng disziplinierten Partei und Trotzkis Parteinahme
für einen militärisch organisierten Staat.
1921—1929: Oppositioneller
Der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre war
offensichtlich die wichtigste Phase in Trotzkis Leben.
Innerhalb weniger Jahre geschahen Dinge, die den Lauf
der Weltgeschichte jahrzehntelang bestimmen sollten. Die
Entscheidungen wurden von einigen wenigen Menschen
getroffen. Was war Trotzkis Rolle in den schicksalhaften
20er Jahren?
Der Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der
Bolschewistischen Partei muß bis zu einem gewissen Punkt
von den politischen Fragen, die den Kampf auslösten,
getrennt betrachtet werden. Denn häufig ging es beim
Kampf innerhalb der Partei um die Ausübung der Macht an
sich — natürlich innerhalb ideologischer
Auseinandersetzungen zwischen den streitenden Gruppen.
Es wird sich in der Tat zeigen, daß eine allzu
ideologische Interpretation der innerparteilichen
Situation einer der schwersten theoretischen und
politischen Fehler Trotzkis war. Es bietet sich daher
an, bei der Betrachtung der 20er Jahre zwei getrennte
Ebenen zu untersuchen: zunächst den
politisch-takti-schen Kampf selbst; dann die
ideologisch-strategische Debatte über die Bestimmung der
Revolution.
Der politisch-taktische Kampf
Trotzki stand ab 1921 isoliert in der Spitze der
Bolschewistischen Partei. Es muß betont werden, daß der
Kampf gegen Trotzki mit dem Widerstand der gesamten
Alten Garde der Bolschewik! begann, angesichts der
Möglichkeit, Trotzki könne der Nachfolger Lenins werden.
Diese Tatsache erklärt die Einmütigkeit, mit der alle
anderen Führer im Politbüro — Sinowjew, Kamenew, Stalin,
Kalinin und Tomski — bereits zu Lenins Lebzeiten Trotzki
bekämpften. Es hatte den Anschein, als sei Trotzki nach
Lenin der hervorragendste revolutionäre Führer — aber er
war kein langjähriges Mitglied der Partei und wurde in
ihren Reihen mit viel Mißtrauen betrachtet. Seine
militärische Bedeutung und seine Rolle bei der
Gewerkschaftsdebatte warfen den Schatten eines
potentiellen Bonapartismus über die politische
Landschaft. Lenin selbst zeigte kein besonderes
Vertrauen zu ihm. Das war die Situation, die es Stalin
1923, im letzten Lebensjahr Lenins, erlaubte, die
Kontrolle über die Parteimaschinerie und damit die
politische Macht in der UdSSR zu erlangen.
Trotzki hat offensichtlich nicht gesehen, was in
diesen Jahren vor sich ging. Er hielt Sinowjew und
Kamenew für wichtiger als Stalin, und er übersah die
Wichtigkeit der neuen Funktion des Generalsekretärs. Man
vergleiche nur diesen erstaunlichen Mangel an Einsicht
mit der Hellsichtigkeit Lenins, dem trotz seiner
Krankheit der Lauf der Dinge klar vor Augen stand. Im
Dezember 1922 entwarf er seine Notizen über die
Nationalitäten, in denen er Stalin und Dserschinski
wegen ihrer Unterdrückung Georgiens mit beispielloser
Heftigkeit angriff. Diese Notizen sandte Lenin an
Trotzki mit der ausdrücklichen Weisung, die Sache im ZK
durch einen entschiedenen Beschluß zu forcieren. Trotzki
ignorierte diese Bitte; er meinte, Lenin habe die
Angelegenheit überbewertet. Einen Monat später schrieb
Lenin sein berühmtes „Testament", aus dem ganz klar
hervorgeht, daß er die Bedeutung des Aufstiegs Stalins
erkannt hatte und eine mögliche Spaltung der Partei
zwischen den „beiden begabtesten Mitgliedern" des ZK —
Trotzki und Stalin — voraussah. Trotzki selbst entging
dies alles. Als Lenin ein Jahr später starb, setzte er
sich für die Veröffentlichung des Testaments nicht ein.
Die Gründe für diese Haltung sind unklar. Freilich war
das Testament für die gesamte Führung der
Bolschewistischen Partei wenig schmeichelhaft. Stalin
wurde scharf kritisiert, Trotzki wurde nicht gerade
respektvoll behandelt („bürokratische Methoden");
Bucharin kam nicht besser weg („kein Verständnis der
Dialektik"). Niemand im Politbüro hatte einen zwingenden
Grund, dieses düstere Dokument mit seiner Vorahnung
künftiger Katastrophen zu veröffentlichen. Lenin,
Architekt und Führer der Bolschewistischen Partei, war
also mit ihrer Entwicklung innigst vertraut; ein Jahr
vor seinem Tod zeigte er sein tiefes Verständnis der
innerparteilichen Situation. Dagegen war Trotzki, im
Parteileben wenig erfahren und ohne Einsicht in die
spezifische Natur der Partei, ahnungslos.
Nach Lenins Tod fand sich Trotzki allein im
Politbüro. Er machte von nun an einen Fehler nach dem
anderen. Von 1923 bis 1925 konzentrierte er seine
Angriffe auf Sinowjew und Kamenew. Durch seine
Hervorhebung ihrer Rolle im Oktober 1917 half er Stalin,
sie später zu isolieren. Dann hielt er Bucharin für
seinen Hauptfeind und setzte seine ganze Kraft gegen
diesen ein. Noch im Jahre 1927 erwog er ein Bündnis mit
Stalin gegen Bucharin. Dabei ist ihm völlig entgangen,
daß Stalin entschlossen war, ihn aus der Partei
auszuschließen, und daß dies nur durch einen Block des
linken und rechten Flügels gegen die Mitte verhindert
werden konnte. Bucharin erkannte dies 1927 und sagte zu
Kamenew: „Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Stalin
sind weit, weit ernster als jene, die wir mit Ihnen
hatten."(15) In Wirklichkeit hatte Stalin die Partei
bereits 1923 organisatorisch in seinem Griff. Vieles,
was sich innerhalb der Partei abspielte, war daher nur
Schattenboxen. Nur eines hätte Stalin noch schlagen
können: ein Bündnis der anderen Alten Bolschewiki gegen
ihn. Sinowjew, Kamenew und Bucharin sahen dies zu spät
ein. Trotzki, seinerseits, wurde durch den theoretischen
Charakter seines Marxismus daran gehindert, die wahre
Situation jemals zu begreifen. Er scheiterte an seiner
konstanten Unterbewertung der autonomen Macht
politischer Institutionen und an seiner Tendenz, diese
verkürzt auf die Massenkräfte zurückzuführen, die
angeblich ihre „gesellschaftliche Basis" bildeten.
Während der ganzen Dauer der innerparteilichen Kämpfe
interpretierte Trotzki die politischen Positionen, die
von einzelnen Teilnehmern vertreten wurden, als bloße
sichtbare Zeichen irgendwelcher verborgener
soziologischer Trends in der sowjetischen Gesellschaft.
So wurden in Trotzkis Schriften Rechts, Mitte und Links
zu idealistischen Kategorien, die von der Politik selbst
— dem konkreten Kampfplatz von Mächten und Institutionen
— weit entfernt waren. Trotz Lenins Warnungen über die
Wichtigkeit der Person Stalins und die alarmierende
politische Macht, die dieser akkumulierte, fuhr Trotzki
fort, Kamenew und Sinowjew als seine Hauptgegner in der
Partei zu betrachten — denn diese waren die Ideologen
des Triumvirats und redeten die konventionelle Sprache
der Ideen. Die ständige Korrelation von Ideen und
gesellschaftlichen Kräften — ohne jede vermittelnde
Theorie der politischen Ebene — führte Trotzki zu
katastrophalen praktischen Fehlern bei der Führung
seines eigenen politischen Kampfes.
Ein besonders auffälliges Beispiel ist eine
Veröffentlichung der Artikelreihe „Der neue Kurs"
(1923). Ausdrücklich erklärt er: „Die verschiedenen
Bedürfnisse der Arbeiterklasse, der Bauern, des
Staatsapparates und seiner Mitglieder wirken sich auf
unsere Partei aus, durch sie finden sie ihren
politischen Ausdruck. Die Schwierigkeiten und
Widersprüche in unserer Epoche, die zeitweilige
Uneinigkeit zwischen verschiedenen Schichten des
Proletariats oder zwischen dem ganzen Proletariat und
den Bauern, all das wirkt sich in unserer Partei über
die Zellen der Arbeiter und Bauern, den Staatsapparat
und die studentische Jugend aus. Sogar episodische
Differenzen nuancierter Ansichten können Ausdruck des
entfernten Druckes bestimmter Klasseninteressen sein."(16)
Hier ist die Kehrseite der Idee des
„Substitutionalismus" erkennbar — die Annahme einer
möglichen „Identität" zwischen Parteien und Klassen. Die
Anwendung dieses Begriffspaares mußte notwendigerweise
die einfache Tatsache verschleiern, daß die Beziehung
zwischen Partei und Klasse sich nie auf einen dieser
beiden Pole zurückführen läßt. Einerseits ist die Partei
immer „Substitut" für eine Klasse, insofern sie nicht
damit identisch sein kann — damit wäre die Partei ja
überflüssig —, und doch handelt sie im Namen dieser
Klasse. Andererseits ist sie es niemals, denn sie kann
die objektive Natur des Proletariats und die globale
Relation der Klassenkräfte nicht aufheben, welche auch
dann noch weiterbestehen, wenn das Proletariat zerstreut
und geschwächt ist — wie nach dem Bürgerkrieg — oder
wenn die Partei gegen die unmittelbaren Interessen der
Arbeiterklasse handelt — z. B. zur Zeit der Neuen
ökonomischen Politik. Die Beziehungen zwischen Partei
und Klasse bilden ein breites Spektrum komplexer und
veränderbarer Möglichkeiten, welche durch bipolare
Beschreibungen nicht erfaßt werden. Es ist also
augenfällig, daß Trotzkis Idee des „Substitutionalismus"
ihn nicht zu einer richtigen Führung des
innerparteilichen Kampfes befähigte — gerade in einer
Phase, in der die relative Wichtigkeit des politischen
Apparats, d. h. der Partei, gegenüber den
Massenbewegungen ungeheuer gewachsen war (ohne diese
jedoch abzuschaffen). Ungeachtet seines polemischen
Ansatzes erkannte er als letzter, wie die Dinge wirklich
standen. Da der implizite Gegensatz zum
„Substitutionalismus" — die „Identität" — für ihn die
positive Norm darstellte, wurde er sogar jedesmal, wenn
er in dieser Phase das Verhältnis zwischen Klasse und
Partei beurteilen wollte, zu entscheidenden politischen
Fehlern verleitet. „Der neue Kurs" bietet selbst ein
besonders einleuchtendes Beispiel dafür. Das
obengenannte soziologistische Credo wird hier von einem
unüberhörbaren Ruf begleitet, die Zusammensetzung der
Partei zu proletarisieren, sie durch einen Zustrom der
Jugend zu verjüngen. Dieses Zurückgreifen auf
soziologische, ihrem Wesen nach idealistische
Kategorien, hatte eine ironische Konsequenz: genau diese
von Trotzki verfochtene Politik, die die Partei erneuern
und entbürokratisieren sollte, wurde von Stalin
verwirklicht — mit genau entgegengesetztem Resultat. Das
„Lenin-Aufgebot" des Jahres 1924 hat Stalin endgültig
die Kontrolle über die Partei gesichert, indem es die
erfahrenen bolschewistischen Kader mit einer riesigen
Masse politisch ungebildeter und manipulierbarer
Arbeiter überflutete. Die Vorstellung, man könne
gesellschaftliche Kräfte unmittelbar in politische
Organisationen überführen, war natürlich innerhalb der
leninistischen Parteikonzeption undenkbar. Aber Trotzki
hat während dieser ganzen Zeit nie davon ablassen
wollen. 1925 blieb er bei der Spaltung der Troika
unbeteiligt — er sah in dem Kampf zwischen Stalin und
Sinowjew nur eine vulgäre Streiterei, bei der kein
Prinzip auf dem Spiel stände. Während Sinowjew und
Stalin mittels der jeweiligen Parteiapparate in
Leningard und Moskau sich wüste Attacken lieferten,
schrieb er sarkastisch an Kamenew: „Wo ist die
gesellschaftliche Basis dafür, daß sich zwei
Arbeiterorganisationen mit Schmähungen überhäufen?" Die
Politik der Enthaltung, die sich in dieser Äußerung
offenbart, war natürlich selbstmörderisch. Trotzki
kämpfte überhaupt nicht auf der politischen Ebene — im
Gegensatz etwa zu Sinowjew. Seine gesamte theoretische
Ausbildung hatte ihn nicht dazu befähigt. Sein Verhalten
bei den innerparteilichen Kämpfen schwankte zwischen
aggressiver Großhuberei (ein großer daffke im
jüdischen Sinn) und einer abgründigen Passivität (die
einzige Rettung Rußlands sei die Möglichkeit
ausländischer Revolutionen).(17) Diese Elemente hat er
nie zu einer politisch-taktischen Einheit schmieden
können. Das Ergebnis war, daß er Stalin ständig in die
Hände spielte. Er stellte eine Bedrohung dar, die jeder
festen institutionellen oder politischen Grundlage
entbehrte, zugleich aber die ganze Skala öffentlicher
Gesten ausspielte. Das war genau das, was der Apparat
und dessen hervorragendster Repräsentant Stalin
brauchten, um die Partei in eine autoritäre und
bürokratische Maschine zu verwandeln. Ja, man könnte
fast sagen, wenn es Trotzki nicht gegeben hätte, hätte
ihn Stalin erfinden müssen (und in einem gewissen Sinn
hat Stalin ihn auch erfunden).
Der ideologische und strategische Kampf
Soweit der politisch-taktische Kampf innerhalb der
Bolschewistischen Partei. Nun müssen wir uns der Frage
zuwenden, inwieweit die großen ideologischen
Auseinandersetzungen über die strategischen
Möglichkeiten, die vor der Revolution bestanden, von
eben dieser theoretischen Konstellation in Trotz-kis
Denken geprägt waren. Es wird sich zeigen, daß die
Ähnlichkeit in der Tat sehr groß ist. Das wird
offensichtlich in den beiden wichtigsten
Auseinandersetzungen dieser Jahre.
Sozialismus in einem Land oder permanente
Revolution
Diese Frage beherrschte die ideologischen
Auseinandersetzungen der 20er Jahre. Lenin hatte in der
Zeit von Brest-Litowsk eine zweifellos richtige Position
eingenommen. Er erklärte, die Bolschewiki müßten statt
falscher Gewißheiten immer verschiedene Möglichkeiten im
Auge behalten. Es war naiv, auf westliche Revolutionen
zu spekulieren. Die bolschewistische Strategie solle
sich nicht auf mögliche europäische Revolutionen
gründen, noch dürfen sie außer acht gelassen werden.
Nach Lenins Tod zerfiel jedoch diese dialektische
Position innerhalb der Partei in ihre polaren
Gegensätze. Stalin hat die Möglichkeit internationaler
Revolutionen praktisch abgeschrieben und den Aufbau des
Sozialismus in einem Land zur ausschließlichen — sowohl
notwendigen als auch möglichen — Aufgabe der
Bolschewistischen Partei erklärt. Trotzki behauptete,
daß die Oktoberrevolution ohne die Unterstützung durch
internationale Revolutionen dem Untergang geweiht sei
und sagte diese Revolutionen als sicher voraus. In
beiden Fällen ist die Verfälschung der Position Lenins
offenkundig. Es läßt sich argumentieren, Stalin habe
durch seine Nichtbeachtung der Möglichkeit erfolgreicher
europäischer Revolutionen in der Tat zu deren Niederlage
beigetragen — dieser Vorwurf ist vor allem in Bezug auf
seine Politik gegenüber Deutschland und Spanien gemacht
worden. Tatsächlich ähnelte seine Politik des
Sozialismus in einem Land jenen Prophe-zeihungen, die
sich selbst erfüllen. Wenn wir jedoch dieser Kritik
stattgeben — die darin besteht, daß Stalins Politik eine
Verschlechterung der leninschen Strategie darstellt —,
so müssen wir doch die unzweifelhafte Überlegenheit der
Perspektive Stalins gegenüber der Trotzkis erkennen. Sie
bestimmte den ganzen historischen und praktischen
Kontext, in dem die oben beschriebenen Machtkämpfe
stattfanden. Gleichgültig, wie stark Stalins Position im
Machtapparat gewesen sein mag — sie hätte ihm wenig
genützt, wenn seine strategische Hauptlinie sich durch
den Verlauf der politischen Ereignisse als falsch
erwiesen hätte. Aber die Geschichte hat sie vielmehr
bestätigt. Hierin lag der tiefste Grund für die
unerschütterliche Machtstellung Stalins in den 20er
Jahren.
Trotzkis Vorstellung
Was war dagegen Trotzkis strategische Konzeption? Was
meinte er mit der „permanenten Revolution"? Die Schrift
aus dem Jahr 1928, die diesen Titel trägt, enthält drei
ganz verschiedene Bestimmungen der Formel: „Permanente
Revolution" bedeutet 1. die unmittelbare Kontinuität
zwischen den demokratischen und sozialistischen Stadien
der Revolution in einem Land; 2. die ständige Umformung
der siegreichen sozialistischen Revolution; 3. die
unvermeidliche Verkettung des Schicksals der Revolution
in einem Land mit dem Schicksal der Weltrevolution. Die
erste Bestimmung war eine Verallgemeinerung seiner oben
dargestellten Sicht der Oktoberrevolution, die nun zum
Gesetz erhoben wird, das für alle kolonialisierten
Länder gilt. Die zweite war banal und unbestritten —
niemand leugnete, der Sowjetstaat würde ständigen
Veränderungen unterworfen sein. Entscheidend ist jedoch
die dritte Bestimmung, die behauptet, das Überleben der
Sowjetrevolution sei vom Sieg ausländischer Revolutionen
abhängig. Die Argumente, die Trotzki zur Stützung dieser
Behauptung anführt — die Grundlage seiner ganzen
politischen Linie — sind erstaunlich schwach.
Tatsächlich nennt er nur zwei Gründe, warum der
Sozialismus in einem Land nicht möglich sei. Beide sind
äußerst verschwommen. Der erste scheint zu sein, daß
Rußlands An-schluß an die Weltwirtschaft es einer
kapitalistischen Wirtschaftsblockade oder Subversion
hilflos ausliefern würde. Die „harten Zügel des
Weltmarkts" werden beschworen, ohne deren genaue Wirkung
auf den entstehenden Sowjetstaat auch nur ansatzweise zu
beschreiben.(18) Trotzkis Argument scheint zweitens zu
sein, daß die UdSSR militärisch nicht verteidigt werden
könne und bei einer auswärtigen Invasion zusammenbrechen
müsse, wenn ihr nicht europäische Revolutionen zu Hilfe
kämen. Es ist ganz offensichtlich, daß keines dieser
Argumente zu diesem Zeitpunkt gerechtfertig war und daß
beide tatsächlich durch spätere Ereignisse widerlegt
wurden. Der sowjetische Außenhandel war ein Motor der
ökonomischen Entwicklung, keineswegs der Regression und
Kapitulation -ein fortschrittlicher Faktor bei der
raschen Akkumulation der 20er und 30er Jahre. Die
Weltbourgeoisie hat auch keineswegs mit vereinten
Kräften auf die Sowjetunion eingeschlagen oder
supranationale Armeen nach Moskau marschieren lassen. Im
Gegenteil, die Widersprüche zwischen den
kapitalistischen Mächten waren so stark, daß sie den
imperialistischen Angriff auf die UdSSR auf zwanzig
Jahre nach dem Bürgerkrieg hinauszögerten. Als
Deutschland schließlich in Rußland einmarschierte,
konnte der durch Stalin industrialisierte und bewaffnete
und durch bürgerliche Alliierte unterstützte Sowjetstaat
den Angreifer im Triumph zurückschlagen.(19) Es gab also
keine Grundlage für Trotzkis These, daß der Sozialismus
in einem Land der Vernichtung preisgegeben wäre.
Theoretischer Irrtum
An dieser Stelle ist es wichtig, den theoretischen
Irrtum hervorzuheben, der hinter der Idee der
permanenten Revolution steckt. Wiederum ist Trotzki von
einem Schema (verselbständigter) gesellschaftlicher
Massenkräfte in einem Land ausgegangen — Bourgeoisie
gegen Proletariat und arme Bauernschaft —, um dann diese
Formel in einer direkten Übertragung auf den Weltmaßstab
zu verallgemeinern — „internationale" Bourgeoisie gegen
„internationales" Proletariat. Dieser ungeheure Sprung
wird von der bloßen Formel der „permanenten Revolution"
gedeckt, die freilich die politische Institution
der Nation und somit die gesamte formale Struktur
der internationalen Beziehungen und Systeme auch
übersprang. Eine „pure" politische Institution —
obendrein noch eine bürgerliche — löste sich wie ein
Irrlicht auf vor dem monumentalen, durch unausweichliche
soziologische Gesetze diktierten Zusammenstoß der
Klassen. Trotzkis Weigerung, die Autonomie der
politischen Ebene zu respektieren, die zum früheren
Zeitpunkt die idealistische Vorstellung einer
Klassenbewegung ohne jegliche Parteiorganisation
hervorgebracht hatte, brachte nun eine globale
Gleichschaltung hervor — eine Art planetarische
Gesellschaftsstruktur, die über allen Erscheinungen
jedes konkreten internationalen Systems schwebte. Die
vermittelnde Ebene — Partei oder Nation — wird in beiden
Fällen einfach weggelassen.
Dieser Idealismus hat mit Marxismus absolut nichts zu
tun. Die Idee der „permanenten Revolution" hatte keinen
wirklichen Inhalt, sie war ein ideologischer Begriff,
der dazu diente, verschiedene disparate Probleme unter
einen Hut zu bringen -was freilich durch den Verzicht
auf eine genaue Wiedergabe der Probleme im einzelnen
erkauft wurde. Die Erwartung, daß in Europa erfolgreiche
Revolutionen vor der Tür ständen, war die
voluntaristische Konsequenz aus diesem Monismus. Trotzki
verstand die grundlegenden Unterschiede zwischen den
Gesellschaftsstrukturen Rußlands und Westeuropas nicht.
Für ihn war der Kapitalismus eins und unteilbar, war der
Fahrplan der Revolution eins und unteilbar, ob östlich
oder westlich der Weichsel. Dieser formale
Internationalismus (der an Luxemburg erinnert) negierte
de facto die konkreten internationalen Unterschiede
zwischen den europäischen Ländern.(20) Stalins
instinktives Mißtrauen gegenüber dem westeuropäischen
Proletariat, sein Vertrauen auf den russischen
Partikularismus, zeigten ein richtigeres — wenn auch
enges und unkritisches — Bewußtsein des zersplitterten
Europas in den 20er Jahren. Die Ereignisse sollten
seinem Glauben an die fortdauernde Wichtigkeit der
Nation, als der abgrenzenden Einheit der
Gesellschaftsformen untereinander, Recht geben.(21)
Politische Zeitpläne konnten im Europa des Versailler
Vertrags nicht einfach über die nationalen Grenzen
hinweg ausgetauscht werden. Die Geschichte lief in
Paris, Rom, London oder Moskau nach einem anderen
Zeitplan ab.
Kollektivierung und Industrialisierung
Die zweite — und weniger wichtige — strittige Frage,
die die ideologischen Auseinandersetzungen der 20er
Jahre beherrschte, betraf die ökonomische Politik
Rußlands. Hier entzündete sich die Debatte vor allem an
der Agrarpolitik. Lenin hatte eine allgemeine
strategische Linie für den Agrarsektor in der
Sowjetunion festgelegt. Er hielt die Kollektivierung für
auf die Dauer unvermeidlich, meinte allerdings, daß sie
nur dann sinnvoll wäre, wenn sie mit der Produktion von
modernen landwirtschaftlichen Geräten und mit einer
Kulturrevolution auf dem Lande Hand in Hand ginge. Er
hielt ökonomischen Wettbewerb zwischen dem
kollektivierten und dem privaten Sektor für notwendig,
nicht nur, um die Bauern nicht vor den Kopf zu stoßen,
sondern auch, um die Leistungsfähigkeit der
kollektivierten Landwirtschaft sicherzustellen. Er
befürwortete Experimente mit verschiedenen Formen der
kollektivierten Landwirtschaft. Diese Modellprojekte
waren natürlich die absolute Antithese der
stalinistischen Kollektivierung — bei der für die
Kollektivierung bestimmter Provinzen feste Termine
erlassen wurden und der „sozialistische Wettkampf" um
die Planerfüllung unter den Parteiorganisationen der
verschiedenen Gebiete vom Zaun gebrochen wurde. Wiederum
zerfiel jedoch nach Lenins Tod die dialektische
Strategie in ihre polaren Gegensätze. Bucharin trat für
eine ultra-rechte Politik der privaten Bereicherung der
Bauern auf Kosten der Städte ein: „Wir werden mit
winzigen Schritten vorangehen und unseren großen
Bauernkarren nach uns ziehen." Preobraschenski plädierte
für die Ausbeutung (im technisch-ökonomischen Sinn) der
Bauern, um einen Uberschuß für eine rasche
Industrialisierung zu akkumulieren.
Die heftige Gegensätzlichkeit dieser Formeln täuschte
über ihre notwendige gegenseitige Ergänzung hinweg,
welche Lenins Politik gerade hätte verbürgen sollen.
Denn je ärmer die Bauernschaft war, desto weniger
Uberschuß hatte sie nach der eigenen notwendigen
Konsumption, desto weniger „ausbeutbar" war sie für die
Industrialisierung. Bucharins Konzilianz gegenüber den
Bauern und Preobraschenskis Aufstellung eines
Interessengegensatzes zwischen Bauern und Proletariern
waren Verfälschungen von Lenins Politik, die gerade
darin bestand, die Bauernschaft zu kollektivieren, ohne
sie zu erdrücken oder zu bekämpfen. Beide Protagonisten
vertraten einen vulgären Marxismus, der bei einem großen
Teil der Alten Garde die Regel war. Preobraschenski
bestand darauf, daß die ursprüngliche sozialistische
Akkumulation ein eisernes, unausweichliches „Gesetz" der
Sowjetgesellschaft sei. Er warf Bucharin „Luka-cismus"
vor, als dieser behauptete, die ökonomische Politik der
UdSSR sei dem politischen Entscheidungsprozeß
übergeordnet. Bucharin, seinerseits, behauptete um diese
Zeit in seiner „Einführung in den historischen
Materialismus", daß der Marxismus sich mit der
Naturwissenschaft vergleichen ließe, die es ermögliche,
künftige Ereignisse mit der Genauigkeit der Physik
vorauszusagen. Die enorme Distanz zwischen derartigen
Formulierungen und dem leninschen Marxismus ist
offensichtlich. (Lenin war allerdings der einzige
führende Bolschewik, der — in der Schweiz während des
Kriegs — vom Standpunkt des Kapitals Hegel,
Feuerbach und den jungen Marx studiert hatte.)
Trotz des Zerfalls des Leninismus gibt es keinen
Zweifel, daß — wie bei der Auseinandersetzung um den
Sozialismus in einem Land — auch hier eine Position der
anderen vorzuziehen ist. Hier waren es Preobaschenski
und Trotzki, die Recht behielten mit ihrer Betonung der
Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Unterschiede auf
dem Lande einzudämmen und den Agrarüberschuß unter die
Kontrolle des Sowjets zu bringen. Die Erfordernisse
einer raschen Industrialisierung wurden von Trotzki und
Preobraschenski viel klarer und viel früher gesehen, als
von anderen Parteimitgliedern. Das war ihr großes
historisches Verdienst in diesen Jahren. Trotzkis
Forderung nach planmäßiger Industrialisierung und
ursprünglicher sozialistischer Akkumulation datierte
bereits vom
XII. Parteitag
1923. Die kühne
Voraussicht seiner Position kontrastiert mit Bucharins
Anpassung an reaktionäre ökonomische Tendenzen und
zugleich mit Stalins jahrelangem Zögern. Die
nachfolgenden Entwicklungen in der Sowjetunion sollten
die relative Richtigkeit der damals von ihm
befürworteten Politik bestätigen. Wie verhält sich nun
dieses Verdienst in der ökonomischen Debatte zu seinen
Fehlern in der Debatte über den Sozialismus in einem
Land? Stehen sie nur zufällig nebeneinander? Die Antwort
scheint darin zu liegen, daß die Debatte über den
Sozialismus in einem Land die internationalen
politischen Auswirkungen der Revolution betraf,
während es bei der ökonomischen Debatte um die
administrativen Handlungsmöglichkeiten des
Sowjetstaates ging. Hier konnte Trotzki die große
administrative Begabung, die schon Lenin bemerkt hatte,
und seine oben diskutierte besondere Sensibilität
gegenüber dem Staat zur Anwendung bringen. Seine
Hellsichtigkeit bei der ökonomischen Auseinandersetzung
entsprach durchaus dem Gepräge seines Marxismus. Ihm war
die wirtschaftliche Fähigkeit des Sowjetstaates
hochgradig bewußt, und zwar schon zu einem Zeitpunkt,
als die anderen Bolschewisten nur mit den Tagesproblemen
der Neuen ökonomischen Politik beschäftigt waren. Doch
die Aufstellung einer ökonomischen Strategie für die
UdSSR erforderte mehr als eine administrative
Entscheidung des Sowjetstaates. Ihre Durchsetzung
erforderte außerdem eine korrekte politische
Linie der Partei gegenüber den verschiedenen
Gesellschaftsklassen — das, was Mao später die
„Behandlung der Widersprüche im Volk" nennen sollte.
Hier
hatte Trotzki keine zusammenhängende Perspektive
anzubieten — eine geradezu unausweichliche Folge seines
mangelnden Verständnisses für Parteifragen. Das Ergebnis
war, daß die tatsächliche Durchführung seiner Politik —
und ihre Verfälschung — Stalin überlassen wurde. Nachdem
Stalin Trotzki und die Linke besiegt hatte, wandte er
sich gegen die Rechte, um die ökonomische Politik der
Opposition durchzuführen. Aber er tat dies mit einer
solchen Grobheit und Gewalt, daß er trotz der ungeheuren
Gewinne der Fünf-Jahres-Pläne eine permanente
ökonomische Krise heraufbeschwor.
Trotzki
hatte das Problem der Durchführung seiner ökonomischen
Politik nie konkret ins Auge gefaßt. Stalin bot eine
konkrete politische Lösung an — die Katastrophe der
Zwangskollektivierung. Trotzki reagierte auf die
Kollektivierungskampagnen natürlich mit Entsetzen. Er
warf Stalin vor, seine Politik in einer Weise
durchgeführt zu haben, die deren ursprünglicher
Konzeption völlig widersprach, obwohl die Ähnlichkeit
unverkennbar war. Diese Konstellation sollte sich bei
verschiedenen Anlässen wiederholen — z. B. beim oben
erwähnten Lenin-Aufgebot. Später scheint Stalin, wie
Deutscher bemerkt, Trotzkis ständige Warnung vor einer
bürgerlichen Restauration als Folge einer Bauernerhebung
oder eines bürokratisch-militärischen coups —
durchaus ernstgenommen zu haben. Seine Methode, mit
diesen Gefahren fertigzuwerden, waren die
Säuberungskampagnen. Es mochte in solchen Augenblicken
scheinen, als stünde Stalin zu Trotzki wie Smerdjakow zu
Iwan Karamasow. Nicht nur in dem Sinne, daß er die
ursprüngliche Idee in ihrer praktischen Durchführung
verfälschte, sondern auch darin, daß die Idee selbst von
vornherein die Fehler enthielt, die das ermöglichten.
Wir haben gesehen, um welche Fehler es sich handelt. In
den 20er Jahren ist in der Tat der Leninismus mit Lenins
Tod gestorben. Die Bolschewistische Partei wurde in der
Folge immer von der Logik der Ereignisse zwischen den
Extremen hin- und hergetrieben, einer Logik, die kein
politischer Führer und keine Gruppe mit dem ihnen zur
Verfügung stehenden theoretischen Verständnis meistern
konnte. Mit dem Zerfall der leninistischen Politik
wichen die beiden Flügel links und rechts ab; ihre
politischen Linien wurden nur durch die historischen
Notwendigkeiten selbst immer wieder zusammengeführt. So
wurde der Sozialismus in einem Land schließlich mit dem
Wirtschaftsprogramm der linken Opposition durchgeführt.
Aber dies stellte nur eine Kombination linker und
rechter politischer Strategien dar und keine
dialektische Einheit. Das Ergebnis war der grobe
ad-hoc-Pragmatismus Stalins und das ständige
kostspielige Hin und Her seiner Innen- und Außenpolitik.
Die Geschichte der Komintern ist besonders reich an
solchen plötzlichen Umschwüngen, bei denen der Versuch,
alte Fehler zu korrigieren, allzuhäufig nur neue Fehler
hervorrief. Die Partei überstand diese Jahre mit Hilfe
von Stalins elementarem politischem Pragmatismus, seiner
Fähigkeit, sich den veränderten Umständen früher oder
später anzupassen. Die Tatsache, daß dieser Pragmatismus
den Sieg davontrug, läßt den jähen Niedergang des
bolschewistischen Marxismus nach Lenins Tod nur umso
klarer erkennen. Die Tragödie dieses Niedergangs liegt
in seinen geschichtlichen Folgen. Nach der russischen
Revolution war eine historische Situation gegeben, in
der das theoretische Wissen einer kleinen Führungsgruppe
einen unabsehbaren Unterschied für die Zukunft der
Menschheit hätte bedeuten können. Jetzt, vier Jahrzehnte
später, können wir die Früchte der damaligen Entwicklung
kaum noch erkennen, ihre letzten Konsequenzen sind aber
immer noch sichtbar.
1927—1940: Mythos
Trotzki hatte seine politische Laufbahn als
Freischärler außerhalb der organisierten Reihen der
revolutionären Bewegung begonnen. Während der Revolution
tat er sich als großer Volkstribun und militärischer
Organisator hervor. In den 20er Jahren war er der
erfolglose Führer der Opposition in Rußland. Nach seiner
Niederlage und nach dem Exil wurde er zum Mythos. In
dieser letzten Periode seines Lebens dominierte sein
symbolisches Verhältnis zu den großen Geschehnissen des
vorangegangenen Jahrzehnts, die ihm zum Verhängnis
geworden waren. Seine Aktivitäten waren nun völlig
nutzlos. Er selbst war ohne jeden Einfluß — Führer einer
imaginären politischen Bewegung, hilflos, während Stalin
seine Verbündeten ausrottete, und wohin er sich auch
wandte, interniert. Seine wichtigste objektive Funktion
bestand in diesen traurigen Jahren darin, Stalin als
imaginäre negative Zielscheibe zu dienen, die dieser für
seine russische Politik benötigte. Als nach den
Säuberungswellen jede Opposition innerhalb der
Bolschewistischen Partei versiegt war, veröffentlichte
Trotzki immer noch seine Oppositionsbulletins. Er war
der Hauptangeklagte der Moskauer Prozesse. Stalin
richtete seine eiserne Diktatur mit Hilfe der
Mobilisierung des Parteiapparats gegen eine
„trotzki-stische" Bedrohung ein. Der Mythos seines
Namens war so stark, daß das Bürgertum der
westeuropäischen Länder in ständiger Angst davor lebte.
Im August 1939 erklärte der französische Botschafter
Coulondre Hitler gegenüber, daß im Falle eines
europäischen Kriegs Trotzki letzten Endes als Sieger
hervorgehen könnte. Hitler antwortete, daß dies ein
Grund sei, warum Frankreich und Großbritannien ihm nicht
den Krieg erklären dürften.
Diese Phase in Trotzkis Leben kann man von zwei
Ebenen her diskutieren. Seinen Versuchen, eine
politische Organisation — eine Vierte Internationale —
aufzubauen, war kein Erfolg beschieden. Seine mangelnde
Bekanntschaft mit den soziopoli-tischen Strukturen des
Westens — die bereits bei der Auseinandersetzung um die
permanente Revolution aufgefallen war — verleitete ihn
nun zu der Überzeugung, die russische Erfahrung des
ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ließe sich in
Westeuropa und den USA der 30er Jahre wiederholen. Dazu
kam natürlich noch sein mangelndes Verständnis der Natur
der revolutionären Partei. In seinen letzten Jahren war
Trotzki der Meinung, daß sein Fehler — so wie Lenin ihn
erkannte — darin bestanden hat, die Rolle der Partei zu
unterschätzen. Doch er hatte nicht von Lenin gelernt.
Wie schon beim ersten jugendlichen Versuch wurde
Trotzkis Nachahmung der-leninistischen Parteistruktur
wieder zu einer bloßen Karikatur. Das Ergebnis war eine
äußerliche Nachahmung der organisatorischen Formen, bar
jeder Einsicht in ihre innere Natur. Ohne sichere
Kenntnisse der neuen Gesellschaften, in denen er sich
befand, ohne das Bewußtsein der von Lenin theoretisch
erfaßten notwendigen Beziehung zwischen Partei und
Gesellschaft, mußten seine organisatorischen Ansätze in
einem wirkungslosen Voluntarismus versacken. Die
krönende Ironie war, daß er sein Lebensende mit genau
jenen Salonliteraten verbringen mußte — der Antithese
des leninschen Revolutionärs —, die er immer verabscheut
und verachtet hatte. Denn viele von ihnen hatten sich
freiwillig unter seinem politischen Banner gesammelt,
vor allem in den Vereinigten Staaten, die Burnhams,
Schachtmans und andere. Man kann es nur bedauern, daß
sich Trotzki überhaupt ernsthaft politisch
auseinandersetzen mußte mit solchen Figuren wie Burnham.
Schon die Tatsache seiner Verbindung mit ihnen zeigt
deutlich, wie sehr ihn die neue westliche Umgebung
isolierte und verwirrte. Trotzkis Schriften aus dem Exil
sind natürlich von viel größerer Bedeutung als diese
unglückseligen Unternehmen. Sie fügen zwar seinem schon
beschriebenen Gedankenbau nichts wesentliches hinzu.
Aber sie bestätigen Trotzkis Größe als klassischer
revolutionärer Denker, der in eine historische Sackgasse
geraten war. Seine charakteristische, wenn auch
sprunghafte Intuition für gesellschaftliche Massenkräfte
macht auch den Wert seiner späteren Schriften aus. Die
„Geschichte der russischen Revolution" ist — wie schon
oft bemerkt wurde — vor allem eine brilliante Studie in
Massenpsychologie und deren komplementärem Gegensatz,
dem individuellen Porträt. Das Werk ist nicht so sehr
eine Darstellung der Rolle der Bolschewistischen Partei
in der Oktoberrevolution, als vielmehr das Epos der
Massen, die diese Partei zum Sieg führte. Hier findet
Trotzkis Soziologismus seinen echtesten und gewaltigsten
Ausdruck. Der damit notwendig verbundene Idealismus
entspricht einer Sicht der Revolution, die die
entscheidende Rolle von politischen und Ökonomischen
Größen ausdrücklich leugnet. Die Psychologie der
Klassen, die ideale Verschmelzung des immer wieder
heraufbeschworenen Begriffspaares der Massenkräfte und
Ideen, wird zur entscheidenden Instanz der Revolution:
„In der von einer Revolution erfaßten Gesellschaft
kämpfen Klassen gegeneinander. Es ist indessen völlig
offenkundig, daß die zwischen Beginn der Revolution und
deren Ende vor sich gehenden Veränderungen in den
ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft und in deren
Klassensubstrat absolut nicht ausreichen zur Erklärung
des Verlaufs der Revolution selbst, die in kurzer
Zeitspanne jahrhundertealte Einrichtungen stürzt, neue
schafft und wieder stürzt. Die Dynamik der
revolutionären Ereignisse wird unmittelbar von den
schnellen, gespannten und stürmischen Veränderungen der
Psychologie der vor der Revolution herausgebildeten
Klassen bestimmt."(22)
Trotzkis Aufsätze über den deutschen Faschismus sind
eine Pathologie des Klassencharakters des enteigneten
Kleinbürgertums und dessen Paranoia. In ihrer ungeheuren
Hellsichtigkeit ragen diese Aufsätze als die einzige
marxistische Analyse dieser Jahre hervor, welche die
katastrophalen Folgen des Nazismus und die Torheit der
Politik der Komintern voraussagte. Trotzkis späteres
Werk über die Sowjetunion selbst war ernsthafter, als
der demagogische Titel, unter dem es lange bekannt
war.(23) Hier zeigte sich ein lebenslanger Soziologismus
von der günstigsten Seite.
Trotzkis Unterschätzung der besonderen Wirkungskraft
politischer Institutionen führte ihn im
praktisch-politischen Kampf vor und nach der Revolution
zu immer neuen Fehlern. Doch als er schließlich
versuchte, den Charakter der Sowjetgesellschaft unter
Stalin anzugreifen, bewahrte ihn diese Haltung davor,
Rußland nach den Maßstäben zu beurteilen, die später die
sogenannte „Kremologie" bestimmten. Zu einer Zeit, als
viele seiner Anhänger dabei waren, neue „herrschende
Klassen" und „kapitalistische Restaurationen" in
willkürlichster Weise zusammenzuphantasieren, betonte
Trotzki stets in seiner Analyse des Sowjetstaates und
des Parteiapparats, daß dieser keine gesellschaftliche
Klasse darstellte. Solcherart war Trotzkis Marxismus. Er
bildet eine konsequente und charakteristische Einheit,
von seiner frühen Jugend bis hin zu hohem Alter. Trotzki
sollte heute zusammen mit Plechanow, Kautsky, Luxemburg,
Bucharin und Stalin studiert werden, denn die Gesdiichte
des Marxismus ist im Westen noch nicht aufgearbeitet
worden. Erst wenn dies geschehen ist, werden wir der
Größe Lenins, des überragenden Marxisten jener Epoche,
gerecht werden können.
Anmerkungen
1) Isaac Deutscher, »Der bewaffnete Prophet
1879—1921«, Kohlhamrner, Stuttgart 1962, S. 54.
2) »ibid.«, S. 96 u. 98.
3) »Ergebnisse und Perspektiven«. Die Treibenden Kräfte
der Revolution, Neue Kritik, Frankfurt 1967, Archiv
sozialistischer Literatur 6, S. 65, 73.
4) »ibid.«, S. 101.
5) »ibid.«, S. 119.
6) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 174.
7) »Die Intelligenz und der Sozialismus«.
8) Lenins Theorie der revolutionären Partei wurde
natürlich nicht voll entwickelt in »Was tun?«. Seine
ausgereifte Theorie wurde erst nach der Revolution von
1905 durch die Praxis des Parteiaufbaus entwickelt.
9) »Die Intelligenz und der Sozialismus«.
10) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 184 ff.
11) »Der Kampf um die Macht« (Hervorhebung im Text vom
Autor.) Man kann Trotzkis Einstellung zur Partei in
diesen Jahren mit der Position Luxemburgs vergleichen.
Luxemburg war sich des Revisionismus in der deutsdien
Partei viel früher bewußt als Lenin, aber sie unterließ
es, die Partei zu spalten, was die Arbeit des Aufbaus
einer revolutionären Partei verzögerte. Die Folgen waren
tödlich — die Niederlage der Spartakisten 1918. Trotzki
verließ sich wie Luxemburg auf den revolutionären Elan
der Massen, ohne das Problem der Mobilisierung dieser
Massen in einer revolutionären Organisation zu
behandeln.
12) »Die Permanente Revolution«, Neue Kritik, Frankfurt
1965, Archiv sozialistischer Literatur, S. 54—55, 48
Anm.
13) Isaac Deutscher, »Der unbewaffnete Prophet
1921—1919«, Kohlhammer, Stuttgart 1962, S. 44.
14) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 464—465. Das
Bild erinnert an den Jesuitenstaat in Paraguay. Trotzki
sollte später schreiben, daß die bürgerlichen Philister
die Jesuiten aus dem Grunde so heftig verabscheuen, weil
diese die Soldaten der Kirche seien, die meisten anderen
Priester dagegen bloß ihre Krämer. Es gibt natürlich
keinen Grund, zwischen diesen beiden Gruppen einen
Unterschied zu machen. Trotzki scheint jedoch die
Jesuiten im Vergleich zu anderen Priestern vorgezogen zu
haben. Es ist klar, daß in einer revolutionären Epoche
ein sozialistischer Kämpfer in seinen Ansichten eher
einem Soldaten als einem Krämer gleichen wird — aber
sollte ein Sozialist wegen dieser temporären Situation
vergessen, daß eine militärische Haltung genauso, wie
eine merkantile Haltung, ein Produkt der
Klassengesellschaft ist?
15) Deutscher, »Der unbewaffnete Prophet«, S. 423.
16) Trotzki, »Der neue Kurs«, 1923. (Hervorhebung vom
Autor).
17) Trotzki selbst sprach in späteren Jahren häufig von
„revolutionärem Optimismus". Optimismus und Pessimismus
sind natürlich emotionale Haltungen, die mit dem
Marxismus wenig zu tun haben. Die bürgerlichen
Weltanschauungen sind traditionsgemäß von solchen
Kategorien überwuchert. Das adjektiv „revolutionär"
macht den „Optimismus" genausowenig zu einer bedeutsamen
Kategorie, wie das adjektiv „heroisch" den
„Pessimismus".
18) In einem erstaunlichen Passus behauptet Trotzki
tatsächlich, daß wenn der Sozialismus in Rußland möglich
sei, die Weltrevolution damit überflüssig würde, da
Rußland so groß sei, daß der erfolgreiche Aufbau des
Sozialismus in der UdSSR einem internationalen Sieg des
Weltproletariats gleichkäme. „Das Beispiel eines
rückständigen Landes, das im Verlauf einiger
Fünf-Jahres-Pläne fähig war, eine mächtige
sozialistische Gesellschaft mit eigenen Kräften
aufzubauen, würde dem Weltkapitalismus einen Todesstoß
versetzen und die Kosten der proletarischen
Weltrevolution auf ein Minimum senken, wenn nicht völlig
auflösen." Dies ist natürlich genau die Ansicht, die
Chruschtschow Anfang der 60er Jahre vertrat. Ihr
Auftauchen hier ist ein Zeichen der Schwäche der ganzen
Argumentation in der »Permanenten Revolution«. Gegen den
Sozialismus in einem Land lautete Trotzkis Einwand
nicht, daß in einem Land mit so niedrigem Stand der
Produktivkräfte und der kulturellen Akkumulation ein
echter Sozialismus unmöglich sei, sondern vielmehr, daß
der Sowjetstaat einem wirtschaftlichen oder
militärischen Angriff von außen nicht standhalten könne.
Die Qualität des sowjetischen Sozialismus war für ihn
hier nicht die entscheidende Frage. Der oben zitierte
Passus zeigt, daß Trotzki in der Debatte bereit war, die
pauschale Gleichsetzung von Sozialismus und sowjetischer
Wirtschaftsentwicklung zu akzeptieren.
19) Trotzkis Argument lautete immer: da der Widerspruch
zwischen Kapitalismus und Sozialismus fundamentaler ist
als der Widerspruch zwischen den kapitalistischen
Ländern, müssen diese sich zum Angriff auf die
Sowjetunion zusammentun. Dies ist ein klassisches
Beispiel für die typische Verwechslung des langfristig
»determinierenden« Widerspruchs mit dem jeweils
»dominierenden« Widerspruch.
20) Einige Jahre später gab Gramsci einen feinsinnigen
Kommentar des trotzkistischen Internationalismus: „Es
bleibt abzuwarten, ob die berühmte Theorie Trotzkis über
die Permanenz der Bewegung nicht der politische Reflex
der Theorie des Bewegungskrieges ist ... und somit
letztlich der Reflex der allgemeinen
ökonomisch-kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen
eines Landes, in dem das Gefüge des nationalen Lebens
embryonal und ungebändigt ist und nicht Graben oder
Festung werden kann. In diesem Falle könnte man sagen,
daß Trotzki, der offenbar ein .Westler' zu sein scheint,
eigentlich ein Kosmopolit war, das heißt oberflächlich
national und oberflächlich westlich oder europäisch.
Lenin dagegen war zutiefst national und zutiefst
europäisch." Gramsci, »Philosophie der Praxis«,
Frankfurt 1967, S. 346.
21) Dieses Problem wird von Lucio Magri diskutiert, in
»Valori e Limiti dclle Espcrienze Frontiste« (Critica
Marxiste, Mai/Juni 1965). Dazu ist zu sagen, daß Stalins
spätere Auffassung vom kalten Krieg als dem
„Klassenkampf auf internationaler Ebene" — eine
Gleichsetzung in der Tat von Staat und Klasse — den
entgegengesetzen aber identischen Fehler aufweist, wie
Trotzki in seiner Auffassung der 20er Jahre
22) »Geschichte der russischen Revolution«, Berlin 1960,
S. 12 f.
23) »Die verratene Revolution«.
Editorische Hinweise
Wir entnahmen den Text aus:Sozialistisches Jahrbuch
2, hrg. v. Wolfgang Dreßen, Westberlin 1970, S.
184-213, OCR-Scan red. trend
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