Die Hoffnung stirbt zuletzt – Eindrücke aus Griechenland

von k&genoss_innen

09-2012

trend
onlinezeitung

Unregelmäßige Updates zur Situation in Griechenland
http://blog.occupiedlondon.org/

in englisch

Wir alle schauten die letzten Jahre gebannt nach Griechenland. Zuerst waren es die Anarchist_innen, die den kommenden Aufstand schon ganz nah sahen: Nach Alexis' Tod 2008, und in den immer größer werdenden, militant begleiteten Massendemonstrationen im Zuge der aufkeimenden Krise. Es folgte verspätet eine deutsche Linke, die bereits vor den Wahlen von einem Linksbündnis im Parlament zu träumen wagte und schwindelerregende Zahlenspiele veranstaltete, in denen sie Prognosen für KKE, Syriza und DIMAR zusammen rechneten.1

Jetzt hat auch die „antiautoritäre Bewegung“ das Thema für sich entdeckt: Sowohl bei M31 als auch dem, leider misslungenen, Blocupy-Event, schielte sie nach Griechenland, erklärte sich solidarisch mit den Genoss_innen vor Ort. Während man bei M31 auf einen europaweiten Aktionstag setzte, der jenseits von Frankfurt am Main bescheiden begangen wurde, wurde von der Interventionistischen Linke (IL) „international“ mobilisiert. Doch sowohl das dezentrale Konzept als auch die Variante des Massenprotests fielen eher bescheiden aus was die internationale Beteiligung betrifft.

Um darauf einzugehen, wie viel Zukunft in der Hoffnung auf eine europaweite antikapitalistische Bewegung steckt,sollen an dieser Stelle einige Eindrücke geschildert werden, die in den letzten Jahren unter engem Kontakt mit antiautoritären und anarchistischen Genoss_innen vor Ort, aber auch in zahlreichen Griechenlandreisen mit offenen Augen entstehen konnten.

Athen, Griechenland, 2012

Bullen an jeder Ecke. Jung, vielleicht 20 Jahre, Deltas2. Fast stündlich gibt es Kontrollen zu beobachten, maßgeblich werden migrantisch aussehende Jugendliche kontrolliert und wir beobachten an einem Nachmittag zwei Verhaftungen.

Schon auf dem Weg von Patras nach Athen prangen immer wieder große Graffitis. Es sind erstaunlich viele Hakenkreuze und der Schriftzug der Chrysi Avgi.3 Auch in Athen rund ums Stadium rechte Sprühereien.

Beinahe jede Nacht gibt es Angriffe auf Migrant_innen in der Hauptstadt. Erst vor 3 Wochen wurde ein junger Pakistani durch Messerstiche getötet und eine Woche darauf zündeten Faschisten mehrere migrantische Wohnhäuser in Neo Kosmos, einem Stadtteil Athens, an. Reaktionen, auch in Form direkter Aktionen, gibt es nicht zu knapp. An einer Demonstration, die von einer pakistanischen Organisation gemeinsam mit Synaspismos (Teil von Syriza) organisiert wurde, nahmen mehrere tausend Menschen, auch mit migrantischem Hintergrund, teil. Am Wochenende drauf konnten 2000 Antifas und Anarchist_innen zwar nicht die Chrysi Avgi-Kundgebung am Syntagma-Platz verhindern, aber ein kraftvolles Zeichen gegen die Faschisten setzen.

Es ging ums Ganze...

Dennoch: Das Vernachlässigen der Bearbeitung von „Nebenwidersprüchen“ zeigt in den letzten Monaten in Athen seine volle Kraft: Jahrelang ging es in Griechenland ums Ganze. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus waren kaum Thema in der griechischen Linken.4 Eine antifaschistische Bewegung steckt heute in den Kinderschuhen und muss sich finden. Die antieuropäische Stimmung, die nicht zuletzt auch von linken Parteien getragen wurde, trägt ihren Teil dazu bei und entlud sich bei der Besetzung des Syntagma-Platzes vergangenen Jahres, bei der fleißig Griechenlandfahnen geschwenkt wurden und auch den Rechten Raum und Redezeit eingeräumt wurde.5 Es war und ist nicht unsere Aufgabe, aus einer privilegierten Position heraus Kritik zu üben an der Taktik linker Gruppen in Griechenland. Zu wenig haben wir Einblick in Geschichte, Tradition und Grabenkämpfe der linken Bewegung des Landes. Aber es kann unsere Aufgabe sein, in Texten und Gesprächen Denkanstöße zu geben, die antinationale und antirassistische Politik beschreiben, Erfahrungen weitertragen und die theoretische und praktische Notwendigkeit solcher Teilkämpfe verdeutlichen.

Lernen, lernen, immer lernen...

Der Aufbau von Basisgruppen und das Intensivieren von Selbstorganisierung als Ergebnis des A.K.-Kongresses6 ist ein nobler Appell an Genoss_innen weltweit. Jahrelang bewunderten wir in Griechenland die Dynamik und das Aufständische, die kurzfristige Mobilisierung mit minimalem Aufwand und oft für uns unvorstellbarem maximalen Erfolg. Wir bewunderten die Wut und Entschlossenheit von Streikenden und Demonstrierenden jeden Alters. Irgendwann warteten wir auf den nächsten Schritt: Warum wird massenhaft gestreikt, aber Fabriken nicht besetzt und vergesellschaftet? Warum stehen Leute in Suppenküchen Schlange, anstatt in Kollektiven die Selbsthilfe zu organisieren? Warum ist die Verweigerung von Steuerzahlungen oder Wasserrechnungen so individuell, warum kann sie nicht gemeinsam und entschlossen propagiert werden? Warum können rechte Aufmärsche nicht blockiert werden, ja warum gelingt nicht einmal eine gemeinsame, kraftvolle Demonstration als Antwort?

In unserer privilegierten Position können wir unmittelbar Antworten aus dem Ärmel schütteln. Unsere spektrenübergreifende Zusammenarbeit der letzten Jahre hat Früchte getragen. Bündnisse von Parteien, Gewerkschaften und linksradikalen Gruppen sind zumindest im Kampf gegen neonazistische Umtriebe nur noch eine technische Frage; Kampagnenarbeit haben wir beinahe mechanisch verinnerlicht. Es fällt uns schwer, in Anbetracht dieser Tatsache zu begreifen, dass dies einen jahrzehntelangen Prozess erforderte.

Dabei verkennen wir auch, dass der letzte große Streik im Stahlwerk von Athen und Volos durchaus ein wilder Streik war, der nicht geprägt war von gewerkschaftlichen Forderungen, und der massiv von anarchistischen Genoss_innen unterstützt werden konnte, bis er im Wahlkampf von Parteien instrumentalisiert wurde.

Viele von uns wissen nicht, dass nicht nur in Athen Stadtteilorganisierung seit der Syntagma-Besetzung im Aufbau ist. Dabei wird häufig auch außer acht gelassen, wie langwierig und schwierig die Zusammenarbeit mit „Bürger_innen“ ist, die keine Erfahrungen in politischen Entscheidungsprozessen oder Organisationsformen haben.

Wir verstehen erst nach und nach die Grabenkämpfe innerhalb der griechischen Linken, die tief sind und eine lange Tradition haben. Jegliche Annäherung und jeglicher Versuch der Organisierung findet zudem unter Bedingungen statt, in denen man tagtäglich von den Ereignissen überrollt wird (wie Übergriffen und Brandstiftungen, neuen Einsparungen in Form von Lohnkürzungen oder verrückten Steuern, oder Angriffen auf Strukturen wie der gestrigen Räumung des Delta-Squats) und in denen Existenzängste und Angst vor der willkürlichen polizeilichen und justiziellen Repression den Alltag prägen. Zur Verhinderung von Naziaufmäschen wie in Dresden schüttelten einige Genoss_innen nur den Kopf: Unmöglich die Vorstellung, 20.000 Menschen ließen sich blind durch die Stadt dirigieren. Abgesehen davon, dass die technischen Möglichkeiten dazu nicht gegeben sind.

Der Communismos-Kongress in Thessaloniki im Juli war ein Vernetzungstreffen antiautoritärer Gruppen aus Griechenland, bei dem im besetzen Ifanet ebenfalls wie vor 2 Wochen beim AK-Kongress 150 Menschen zusammen kamen, um Strategien und Ideen auszutauschen. Dabei setzte man in diesem Jahr nicht primär auf die Teilnahme internationaler Gäste, da die Organisation innerhalb Griechenlands bereits prekär ist – abgesehen von der Annäherung linker Gruppen aneinander.

Der Bedrohung von Rechts wurde bei beiden Versammlungen wenig Platz eingeräumt. Die Gründe können wir nur vermuten. Erstens ist die rassistische Gewalt in Athen präsenter und alltäglicher als in Thessaloniki. Zweitens haben Faschisten in Griechenland gemerkt, dass Migrant_innen leichte Ziele darstellen. Sie können weder zur Polizei gehen, noch haben sie im meisten Fall eine Lobby, um Übergriffe öffentlich zu machen oder zu beantworten, weswegen linke Parteien und Projekte momentan von Übergriffen verschont werden – so makaber es auch klingen mag. Drittens befindet man sich in der Tradition sozialer Kämpfe. Antifaschismus muss von einigen Gruppen erst noch entdeckt werden. Dabei bietet gerade dieses Feld Anknüpfungspunkte in der Zusammenarbeit, die über eine informelle hinaus geht.

Dein Nachbar, der Nazi

Die Nazis sind eine massive Bedrohung. Sie agieren im Parlament und auf der Straße. Es gibt Überschneidungen zur Polizei, zur Mafia und Unterstützung durch die Kirche. Sie sind skrupellos und tragen ihre Gewalttätigkeit offen zur Schau – spätestens seit den letzten Parlamentswahlen brauchen sie sich nicht zu verstecken. Neben den bereits erwähnten Übergriffen scheinen die Faschisten nach einem SA-Lehrbuch zu agieren. Sie verteilen Kärtchen, auf denen sie Sicherheitsmaßnahmen für Ladenbesitzer_innen anbieten oder helfen ganz klassisch alten Menschen beim Einkauf. Erst vor anderthalb Wochen brüstete sich Chrysi Avgi offen auf ihrer Homepage damit, auf einem Markt in einer Kleinstadt unweit von Athen migrantisch aussehende Personen auf Papiere überprüft zu haben, andernorts verteilen sie unter Vorlage eines griechischen Ausweises Essen an Bedürftige.

Seit den Parlamentswahlen sind sie trotz – oder wegen – des Skandals um die Pressekonferenz nach der Wahl sowie die öffentliche Ohrfeige eines Chrysi Avgi-Abgeordneten gegenüber einer Frau der KKE Teil der politischen Öffentlichkeit. Sie sind Gäste in Talkshows und ihre Position ist in Nachrichtensendungen vertreten. Obwohl – oder weil – sie offen erklären, den „Kampf auf der Straße“ weiterführen zu wollen, werden sie als etablierte politische Akteure wahrgenommen.

Chrysi Avgi ist nur die Spitze des Eisbergs. Zusammen mit LAOS und ANEL, die ebenso der extremen Rechten zuzuordnen sind, kamen sie bei der Wahl auf 20,47% der Stimmen.

Muss solch eine Bedrohung nicht zwangsläufig linke Gruppen zusammenrücken lassen, die eine klassenkämpferische oder anarchistische Perspektive verfolgen? Der antifaschistische Selbstschutz scheitert häufig an der Unerfahrenheit der Akteur in puncto Recherche und Vernetzung, aber auch an den festgefahrenen Grabenkämpfen sowie dem spärlichen Kontakt zu migrantischen Gruppen und Einzelpersonen.

Erst seit Kurzem sieht man in Athen mehrsprachige Poster, die die Situation beschreiben und analysieren oder zu Organisation und Widerstand aufrufen. Antifagruppen verteilen Broschüren an Schulen, nicht zuletzt um den Zustrom junger Leute zu den Faschisten einzudämmen.

Das Skandalisieren von neonazistischen Aktivitäten in der Öffentlichkeit durch Outings und Veröffentlichungen erweist sich als sinnloses Unterfangen und kann sogar ins Gegenteil umschlagen. Wenn der Nachbar als Nazi geoutet wird, wird ihm dafür vielleicht am nächsten Tag sogar öffentlich gratuliert. Eine Stigmatisierung von Faschisten ist spätestens seit der Wahl Vergangenheit.

Was tun?

Nichtsdestotrotz brauchen griechische Genoss_innen unsere Unterstützung. Hilfe kann materiell und finanziell an bestimmte Gruppen und politische Projekte erfolgen. Unterstützend ist sicherlich auch, Erfahrungen auszutauschen und dabei im Hinterkopf zu behalten, dass die Ausgangsposition eine völlig andere – und zwar keine positivere – ist als in Deutschland. Die Vermittlung von Konzepten und Erfahrungen zur Organisation oder zum Aufbau von Gruppen, aber auch technischer Möglichkeiten der sicheren Vernetzung kann Teil dessen sein. Ebenso ist das Übersetzen von Texten notwendig, um eine Debatte außerhalb Griechenlands zu ermöglichen und natürlich der kontinuierliche Austausch mit Leuten vor Ort.

Eine europaweite Koalition gegen die Krise kann umso fruchtbarer sein, wenn sie die Spaltungen der linken Gruppen in den jeweiligen Ländern nicht übernimmt, sondern ein vereinendes Moment stiftet. Dabei sollten wir Abstand nehmen sowohl von einer Romantisierung der Riots sowie dem Herbeiphantasieren Griechenlands im Vorhof der Revolution. Die Erklärung des M31-Netzwerks klingt verlockend, da sie nicht versucht, Lösungen zu präsentieren, sondern auch eingesteht, am Anfang einer Zusammenarbeit zu stehen, deren Verlauf und Ausgang offen ist. Dabei können und sollten wir auch auf bestehende Netzwerke und Analysen anarchistischer Gruppen zurück greifen, die sich seit mehreren Jahren mit dem Thema beschäftigen.

Let's get things started!

Hintergrund:
AIB Nr. 95, Sommer 2012: Denk ich an Griechenland in der Nacht...
Bericht zum AK-Kongress in Thessaloniki: http://de.indymedia.org/2012/09/334640.shtml
Resolution von M31 zum AK-Kongress: http://de.indymedia.org/2012/09/334640.shtml
Texte von Anarchist_innen aus Frankreich zu den Aufständen in Griechenland: http://de.indymedia.org/2012/05/329800.shtml
Revolt and Crisis in Greece: http://www.scribd.com/doc/92827843/Occupied-London-Revolt-and-Crisis-in-Greece

Unregelmäßige Updates zur Situation in Griechenland: http://blog.occupiedlondon.org/

Anmerkungen

1Die DIMAR ist eine Abspaltung des Syriza-Bündnisses und Teil der jetzigen Regierung mit N.D. und Pasok.

2Cops auf Rollern, immer zu zweit

3„Goldene Morgenröte“, faschistische Partei

4Während in Griechenland unter „links“ nur die parlamentarische Linke fällt und sich andere Gruppen als antiautoritär oder anarchistisch, selten kommunistisch begreifen, wird der Ausdruck hier verwendet, um linksradikale Gruppen bis hin zu linken Parteien zu bezeichnen

5Eine Genossin beschreibt den Zustand folgendermaßen: „Everyone could participate, as long as he/she was greek.“

6Kongress initiiert von A.K., einer antiautoritären Gruppe aus Griechenland

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel von den AutorInnen.