Bier mögen sie keines. Und auch sonst mögen sie Einiges nicht: Die Salafisten versuchen, Teile Nordafrikas umzupflügen

von
Bernard Schmid

09-2012

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Dieser Artikel hat die Aktivitäten der salafistischen Strömung, einer als besonders „radikal“ geltenden Variante des politischen Islamismus, in den Ländern Nordafrikas zum Gegenstand. Er wurde am Abend des Dienstag, 11. September 12 abgeschlossen – wenige Stunden, bevor im libyschen Benghazi und in der ägyptischen Hauptstadt Kairo heftige Unruhen (insbesondere) von Salafisten und anderen eher „radikalen“ Islamisten ausbrachen. Diese antworteten auf einen bewusst als Provokation gegen Moslems konzipierten Film („Die Unschuld der Muslime“), der von ägyptischstämmigen christlichen (koptischen) Ultras in den USA mit starken Verbindungen zur nordamerikanischen Rechten lanciert worden war. Da die im Zusammenhang damit stehende Mobilisierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen, sondern die Sache stark „im Fluss“ ist, wird auf diese Ereignisse seit dem 11./12. September d.J. in nächster Zukunft eingegangen werden. In den folgenden Abschnitten wird es hingegen um die Umtriebe der Salafisten, mit Schwerpunkt Tunesien, in den anderthalb Jahren seit der tunesischen Revolution vom 14. Januar 2011 und bis zum Anfang dieser Woche (Abschluss: 10.09.2012) gehen. Anm. d. Verf.

Am Anfang ging es ähnlich zu wie bei einer ordentlichen Wirtshausschlägerei, nur Bier gab es keines. Auch Schweinshaxen dürften nicht auf dem Menü gestanden haben, als das Essen auf den Tisch respektive auf den Boden kam und kurz darauf die Massenkeilerei einsetzte. Am Abend des 6. August fielen zwei Gruppen von jungen Männern in Béja nordwestlich von Tunis übereinander her. Allerdings nicht an einem Stammtisch, sondern in einer Moschee. Den Auslöser dafür bildete der Streit um die richtige Uhrzeit für das Fastenbrechen, denn eine der beiden Gruppen hatte ein paar Minuten früher zu essen begonnen, während die meisten anderen Zeitgenossen noch das – im Fastenmonat Ramadhan geltende – Speiseverbot vor Sonnenuntergang einhielten. Ihr Imam hatte die vermeintlich richtige Uhrzeit festgelegt.

Klingt der Vorfall bis dahin noch relativ witzig, so hörte der Spaß kurz darauf definitiv auf, denn die Angelegenheit wurde in der Folge unter Zuhilfenahme von Messern und unter Einsatz von Tränengas ausdiskutiert. Die Teilnehmer an dem eifrigen theologischen Disput in der Moschee Al-Hidaya waren Anhänger zweier unterschiedlicher Gruppen des salafistischen Spektrums, das derzeit in Tunesien auch sonst viel von sich reden macht.

Der Vorfall zeigte unter anderem auch anschaulich, in welchem Ausmaß zumindest viele Anhänger dieser neofundamentalistischen Richtung des politischen Islam dazu neigen, eigenmächtig den Inhalt vorgeblicher Glaubensvorschriften, von Ge- und Verboten aus- und festzulegen und dann autoritär durchzusetzen. Notfalls auch mit Gewalt, so jedenfalls der Standpunkt einiger Unterströmungen des Salafismus. Diese Spielart des Islamismus ist allerdings selbst wiederum in unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen aufgefächert, und das Spektrum reicht dabei von gewaltlos missionarisch tätigen Pietisten bis zu terroristisch agierenden Djihadisten. Insgesamt wird die Anzahl der mobilisierbaren Anhänger und Aktivisten des salafistischen Spektrums in Tunesien derzeit im Allgemeinen auf annähernd 10.000 geschätzt.

Salafistische Gruppen sind derzeit besonders in Marokko, Algerien, Tunesien aktiv, sie verfügen über Parlamentsparteien in Ägypten, Prediger im Libanon und schalten sich derzeit in den syrischen Bürgerkrieg ein. Ihre Abgrenzung von anderen politischen Formen des Islamismus fällt, sofern die Selbstbezeichnung nicht weiterhilft, nicht immer ganz leicht. Ursprünglich wurde der Begriff desSalafismusim Übrigen auch durch sehr unterschiedliche Gruppierungen benutzt: Im frühen 20. Jahrhundert stand er zunächst im deutlichen Unterschied zu heute nicht für besonders rigoros autoritäre und aufklärungsfeindliche Strömungen, sondern im Gegenteil für eine modernisierungsfreundliche und an Reformen im Islam orientierte Strömung. Schon damals gab es an angeblichbuchstabengetreuer Auslegung orientierte, jegliche Abstriche und Kompromisse mit der modernen Wirklichkeit verwerfende Vordenker, die sich etwa an Schriften des islamischen Theologen Ibn Thaymia aus dem 13. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung orientierten. Mangels eines besseren Begriffs nannte man sie noch vor wenigen Jahren oftWahhabiten und identifizierte sie dadurch mit der in Saudi-Arabien vorherrschenden Staatsideologie. Tatsächlich verfügen auch die jetzigen Salafisten bis heute zu guten Verbindungen in Teile der Ulema, also der islamischen Geistlichkeit, Saudi-Arabiens hinein. In jüngerer Zeit verwerfen sie allerdings den Begriff des Wahhabismus explizit, da er ihnen zufolge eine Art von Personenkult darstellt, weil das Wort vom Eigennamen des Gründers dieser fundamentalistischen Strömung im 18. Jahrhundert des christlichen Kalenders Ibn Wahhab abgeleitet ist. In den letzten zehn bis zwölf Jahren kam deswegen der Begriff des Salafismus in Mode, der vom Wort as-Salaf für die „Vorfahren“ stammt, gemeint sind die zeitgenössischen „Weggefährten des Propheten Mohammed“.

Noch in den 1990er Jahren bestand keine klar erkennbare Trennung zwischen diesen Strömungen. Die stärkste islamistische Partei im Algerien der frühen neunziger Jahre, die „Islamische Rettungsfront“ (FIS), etwa war eine aus unterschiedlichen ideologischen Komponenten zusammengesetzte Sammelbewegung. An ihrer Spitze stand jedoch als Chefideologe Ali Belhadj, eine Art Mischung aus Savonarola und Goebbels. Er bildete formal die Nummer Zwei in der Parteihierarchie hinter dem - seit 2003 im qatarischen Exil lebenden – Parteichef Abassi Madani, übte jedoch in Wirklichkeit den mit Abstand stärksten Einfluss auf die radikalisierten Teile der Parteibasis aus. Nicht zuletzt an ihm scheiterte der ansonsten vielleicht denkbare Versuch, einen Kompromiss zwischen den Staat beherrschenden Militärs und islamistischer Opposition einzufädeln, der zu einer Machtteilung geführt und der Armee ihre Pfründe gesichert hätte. Der absolut kompromisslose Ideologe, der den Gedanken von Demokratie grundsätzlich als „kulturellen Fremdkörper im Lande des Islam“ verdammte und als Erfindung von Juden und Freimaurern hinstellte, war Salafist. Die Bezeichnung war damals noch nicht üblich, und diese Unterströmung vermischte sich mit anderen Erscheinungsformen des politischen Islam. Später trennten sie sich aufgrund strategischer und ideologischer Differenzen voneinander. Ali Belhadjs Sohn Abdelkader, der die politischen Ideen seines Vaters teilte, schloss sich 2006 der bewaffnet agierenden „Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) – die sich später in „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQMI) umbenannte – und wurde im Juli 2011 im Kampf getötet.

Schwerpunkt Tunesien

Tunesien ist das Land, wo salafistische Aktivisten derzeit am stärksten in direkte Konfrontation mit anderen Teilen der Gesellschaft getreten sind und Menschen, die von den ihren abweichende Standpunkte vertreten, offen attackieren. Eine der letzten Episoden dabei ist der Angriff von rund fünfzig ihrer Anhänger am Montag, den 03. September 12 auf ein Hotel in Sidi Bouzid, das den letzten Ort in der zentraltunesischen Stadt mit rund 40.000 Einwohnern darstellte, wo noch offen Alkohol verkauft wurde. Zahlreiche Flaschen wurden von den Salafisten zerschlagen. Ein Augenzeuge, der gegen den Angriff protestierte, wurde von ihnen festgehalten und für einige Stunden seiner Freiheit beraubt. Sidi Bouzid gilt alsWiege der tunesischen Revolution“, weil dort im Dezember 2010 die Selbstverbrennung des jungen Prekären Mohamed Bouazizi stattfand, die die damaligen Ereignisse auslöste. Es gibt dort etwa im sozialen Milieu des Gewerkschaftsbunds UGTT eine linke politische Tradition. Gleichzeitig haben es die Salafisten in den letzten Monaten vermocht, sich in einem der ärmeren Viertel der Stadt zu verankern, von wo sie Andersdenkende zu terrorisieren versuchen.

Bereits in der vorletzten Augustwoche kam es in derselben Stadt zu heftigen Auseinandersetzungen. Mehrere hundert Salafisten griffen am Mittwoch, den 22. August d.J. das Stadtviertel Aouled Belhedi an und attackierten die Einwohner von 15 Häusern, von denen mehrere mit Messerstichen verletzt wurden. Am vorausgehenden Montag hatten Salafisten einen Mann zusammengeschlagen, der Alkohol getrunken hatte, woraufhin 48 Stunden später drei Salafisten von Freunden des Opfers verprügelt wurden. Als Racheakt kam es zu der regelrechten Strafexpedition. Die Polizei, obwohl alarmiert, griff nicht ein. Anwohner schlossen sich allerdings spontan in Selbstverteidigungsgruppen zusammen und konnten die Attacke schließlich zurückschlagen.

Auch in anderen Staaten der Region sind Salafisten mal eher mahnend predigend, mal mit Gewalt vorgehend aktiv. In Ägypten etwa traten sie soeben eine Kampagne gegen angeblichesatanistische Umtriebe los, nachdem am 31. August 12 ein Heavy Metal-Konzert in einem Club im Kairoer Stadtteil Zamalek stattgefunden hatte. Doch die ägyptischen Salafisten, die über mehrere zugelassene Parteien verfügen - ihre wichtigste ist AL-Nur (Das Licht) – und im Parlament sitzen sowie einen der Berater von Präsident Mohamed Morsi stellen (Emad Abdel Gharfour; gleichzeitig erhob Präsident Morsi allerdings Ende August d.J. neben ihm auch eine Frau und einen koptischen Christen zu BeraterInnen), attackieren nicht offen gewalttätig breite Schichten der Gesellschaft. Wie etwa Biertrinker inmitten der Normalbevölkerung oder die Einwohner ganzer Stadtteile.

Einer der Gründe dürfte darin liegen, dass die Hauptpartei der Islamisten, die Muslimbrüder, über wesentlich festere Strukturen verfügt als die tunesische Regierungspartei En-Nahdha (Wiedergeburt), obwohl die Ideologie beider Kräfte sich nur in Nuancen unterscheidet. Die schon seit 1928 existierende Muslimbrüderschaft war vor 2011 in Ägypten manchmal verfolgt und oft toleriert, konnte aber nie in ihren organisatorischen Strukturen destabilisiert werden. Hingegen wurde in Tunesien die islamistische Hauptpartei En-Nahdha, nachdem ein Kompromissversuch zwischen ihr und dem Ben Ali-Regime in den Jahren 1987 bis 89 aus verschiedenen Gründen gescheitert war, ab 1991 nicht nur unbarmherzig verfolgt. Auch konnten ihre Strukturen weitgehend zerschlagen werden. Noch bei einem Exilkongress von En-Nahdha im Jahr 2010, wenige Monate vor der Revolution, konnte vor allem eine drastische Überalterung der Partei und die Schwäche ihrer Strukturen beobachtet werden. Nach dem Umbruch gründete En-Nahdha sich auf tunesischem Staatsgebiet neu, und ihre Parteigliederungen erlebten ein unkontrolliertes, chaotisches Wachstum.

Bis heute ist die Partei zerrissen und zerklüftet und hat erhebliche Mühe damit, die Auswirkungen des „Realitätstests“ ihrer Regierungsbeteiligung zu bewältigen. Dabei zogen unterschiedliche Teile der Partei zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen aus der Phase ihrer Illegalität. Ein starker Block, der die Führung beherrscht, hält an der seit Ende 2005 praktizierten Politik der Allianzbildung mit liberalen und linken Kräften, die damals zur Erringung demokratischer Spielräume gegen das polizeistaatliche Regime verfolgt wurde, fest. Aus seiner Sicht muss En-Nahdha bei einer demokratischen Positionierung bleiben, um weiterhin von den Sympathien zu profitieren, die sie als Hauptopfer der Repression unter dem alten Regime genießt. Doch es gibt einen anderen Flügel, der die Auffassung vertritt, jetzt sei die Stunde der Revanche gekommen, um - mit eben jenem Märtyrerbonus ausgestattet – die eigene Ideologie endlich kompromisslos durchzusetzen. Zu dem Parteiflügel, der den Salafisten relativ nahe steht, zählt etwa der Abgeordnete Sadok Chourou. Er unternahm soeben einen Vorstoß, um dafür zu sorgen, dass den Teilnehmern an Raubüberfällen die Hand abgetrennt werde.

Zudem verfügen die Salafisten ihrerseits (die in Tunesien inzwischen auch über drei, kleinere, Parteien verfügen wie die „Reformfront“ – Dschaba al-Islah) in manchen Kreisen ihrerseits über eine Art Märtyrerbonus. Die letzte Generation von politischen Gefangenen unter dem alten Regime, seit Anfang der 2000er Jahren, bestand bereits überwiegend aus Salafisten. Die bisherigen Generationen von politischen Gefängnissen wurden eher von En-Nahdha gestellt, doch deren Anhänger kamen in die Jahre, und ihre Haftstrafen wurden alljährlich in Hausarrest umgewandelt. Die Salafisten begannen ab Anfang der 2000er Jahre mit überwiegend rein außenpolitischen Themen zu mobilisieren. Vor allem rekrutierten sie Kämpfer für den Einsatz im besetzten Iraq ab 2003. Zu innergesellschaftlichen Themen hatten sie damals zwar wenig zu sagen, doch genügten die Projektionsflächen Iraq und Palästina, um ihnen den Zulauf von radikalisierten Heranwachsenden zu ermöglichen.

Heute rekrutieren die Salafisten übrigens wiederum Freiwillige für den Einsatz gegen das – von ihnen als alawitisch, also einer Art Ketzertum verhaftet, dargerstellte – Regime in Syrien. Allerdings sorgt dies in jüngster Zeit für die bisher massivste ideologische Gegenmobilisierung gegen ihre Strömung. Vor allem von arabischen Nationalisten, die direkt oder indirekt das syrische Regime verteidigen, kommt nun nämlich der Vorwurf, die Salafisten seien in Wahrheit eine fünfte Kolonne der US-Amerikaner, da sie gemeinsam mit den USA und als pro-westlich geltenden Staaten wie Saudi-Arabien und Qatar das syrische Regime zu stürzen versuchen. Unter Anspielung auf den gemeinsamen antisowjetischen Krieg von Djihahisten und westlichen Staaten in Afghanistan von 1980 bis 1988 versucht man nun, die Salafisten als in Wahrheit mit den westlichen Mächten im Bunde stehende Marionetten zu denunzieren. Bei säkular-nationalistischen oder auch islamo-nationalistischen Strömungen geht dies mittlerweile auch einher mit einer Betonung der hässlichen Seiten des radikalen Islamismus – Intoleranz, Inquisitionsgebaren, Körperstrafen -, die nun bequemerweise allesamt allein den Salafisten angelastet werden. Während letztere dadurch stärker isoliert werden, sollen sie es zugleich auf sich nehmen, allein die hässlich Seite des radikalen politischen Islam zu verkörpern und dadurch andere Kräfte in einem reineren Licht erscheinen zu lassen – während sie zugleich als fünfte Kolonne äußerer Feinde hingestellt werden. Einen solchen Diskurs über die Salafisten findet man inzwischen auch in Europa, etwa bei Freunden des syrischen und des iranischen Regimes wie manchen Antiimperialisten, aber auch Rechten wie dem französischen Nationalrevolutionär Alain Soral oder dem deutschen rot-braunen Journalisten Jürgen Elsässer. – OB DIESE NEUE FRONTENSTELLUNG, DIE IN DEN LETZTEN MONATEN ZU BEOBACHTEN WAR, INFOLGE DER ANGRIFFE AUF DIE US-BOTSCHFTEN IN LIBYEN UND ÄGYPTEN VOM 11. UND 12. SEPTEMBER 2012 ANHÄLT ODER ABER OBSOLET WIRD, BLEIBT NUNMEHR ABZUWARTEN. DIESE FRAGESTELLUNG WIRD DEN GEGENSTAND EINES ANDEREN ARTIKELS IN BÄLDE DARSTELLEN MÜSSEN.

Tunesien: innenpolitische Frontverläufe

Mit ideologischen Vorstößen etwa zum Händeabhacken werden Angehörige der Regierungspartei En-Nahdha auf keinen Fall durchkommen. Aber manche von ihnen sind der Meinung, die Salafisten hielten den nötigen Druck aufrecht, um zugleich selbst als vergleichsweise moderat zu erscheinen. Diese strategische Spaltung von En-Nahdha sorgt dafür, dass die Polizei oftmals die Salafisten gewähren lässt, während in den Reihen der Ordnungskräfte wiederum viele Sympathien des alten Regimes von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali sitzen. Diese sind der Auffassung, ein steigendes Chaos sei wünschenswert, um Teile der Gesellschaft die Rückkehr nach „geordneten Verhältnissen“ fordern zu lassen. Dabei hat sich die soziale und politische Gesamtsituation im Land noch nicht stabilisiert, da viele Menschen aufgrund ihrer sozialen Situation bislang mit den Ergebnissen der Revolution eher unzufrieden sind. Im August kam es zu einer massiven Attacke auf eine Polizeistation in Sfax, nachdem zuvor ein Handgemenge zwischen Einwohnern und Parteifunktionären von En-Nahdha entstanden war. Am Montag dieser Woche kam es zu Unruhen in Tunis und der Hafenstadt EL-Fahs, weil viele Menschen dagegen protestierten, dass die Behörden viel zu lange gebraucht hätten, um Rettungsversuche für schiffbrüchige „illegale Auswanderer“ zu unternehmen. Vergangene Wochen kamen mehrere Dutzend Tunesier auf dem Weg zur italienischen Lampedusa ums Leben.

Unterdessen betrachten aber auch wachsende Teile der Regierungspartei En-Nahdha es als Dilemma, dass vor allem die Salafisten als ihr aktivistischer, militanter Arm erscheinen und ihnen scheinbar das dynamische Auftreten vorbehalten bleibt, während die Regierungsislamisten im Alltag der „Realpolitik“ feststecken. Als Partei mit breiter Wählerbasis und, trotz bislang fragil bleibender Strukturen, relativ guter gesellschaftlicher Verankerung ist En-Nahdha für Schwingungen und Signale aus der Gesellschaft durchaus empfindlich. So entgeht es den Parteiführern natürlich nicht, dass die Auftritte und die Gewalt der Salafisten zu breiter Ablehnung und zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führt. Auf der einen Seite kommt ihnen diese Form von Polarisierung durchaus recht, da sie zu Fragen der Sittenstrenge und zu den auch den Regierungsislamisten wichtigen ideologischen Themen – wie Alkoholverbot oder Bekleidungsmodus für Frauen – erfolgt. Dadurch vermeiden sie es, dass Auseinandersetzungen sich eher an den ungelösten sozialen Fragen entzünden und um materielle Konflikte herum kristallisieren, für welche En-Nahdha keinerlei Antwort anzubieten hätte.

Doch auf der anderen Seite würde die Lage für En-Nahdha nur schwer haltbar, erschiene die Partei in breiten Kreisen als Verbündete von En-Nahdha. In entscheidenden Momenten hat sie es doch immer wieder geschafft, sich von ihnen abzusetzen. So profitierte die Regierungspartei im März und April von den wochenlangen Ausschreitungen von Salafisten, die sich auch gegen Gewerkschaftsbüros richteten und dadurch Kritiker auch der Regierungspolitik attackierten. Doch als es ab dem 9. April 12 zu massenhaften Protesten dagegen kam, dass die Polizei die Salafisten hatte gewähren lassen, aber eine Arbeitslosendemonstration am 7. April zusammenprügelte, vollzog En-Nahdha einen Kursschwenk. Bei den Demonstrationen zum ersten Mai ging die Regierungspartei nicht nur auf die Straße, sondern schloss sich zumindest beim Umzug in der Hauptstadt Tunis mit den Gewerkschaftern des Dachverbands UGTT zum gemeinsamen Marschieren zusammen. Dadurch schaffte sie, den beginnenden harten Konflikt mit den Gewerkschaften als bedeutendster sozialer Gegenmacht herunter zu kochen. Doch die radikalisierten, nach Aktivität auf eigenen ideologischen Grundlagen dürstenden Teile ihrer Basis sind damit auf Dauer unzufrieden.

Am vergangenen Freitag nun versuchte En-Nahdha, dieses Dilemma zu durchbrechen, indem sie versuchte, eine eigene dynamisch wirkende Mobilisierung – unabhängig von den Salafisten, aber auch den säkularen politischen und sozialen Kräften – zu initiieren. In Tunis und anderen Städten mobilisierte eine neue und bisher unbekannte Bewegung unter dem Namen Ekbes (ungefähr: „Mach hin!“) zu Protestkundgebungen. Diese sollten offiziell die Regierung dahingehend unter Druck setzen, dass sie schneller die Säuberung der staatlichen Institutionen wie der Justiz von Angehörigen und Anhängern des alten Regimes von vor 2011 vollziehe. Real richteten sich die Parolen aber vor allem auch gegen die neue Partei Nida Tunis – „Aufruf Tunesiens“ oder „Appel Tunesiens“ – von Ex-Premierminister Béji Caïd Essebsi, die als „Appel der Schande“ gegeißelt wurde. Essebsi versucht, auf der Grundlage einer Verteidigung der säkularen Staatsgrundlagen gegen die Islamisten eine politische Allianz zu bilden, die tatsächlich auch viele ehemalige Begünstigte oder Funktionsträger des Ben Ali-Regimes mit umfasst. Er amtierte von März bis Dezember 2011 als Übergangspremier.

Die meisten Beobachter sind jedoch der Auffassung, die Mobilisierung sei eher ein erbärmlicher Misserfolg gewesen, wie etwa der Schriftsteller Gilbert Nacchache schreibt. In der Hauptstadt Tunis kamen rund eintausend Menschen zusammen. Insgesamt seien, so erklären Beobachter fast einhellig, wesentlich weniger Teilnehmer zusammengekommen als am 1. Mai oder auch am 13. August dieses Jahres, als über 30.000 Menschen für die Frauenrechte demonstrierten. Letzterer Protest hatte sich auch gegen das Ansinnen der Regierungspartei En-Nahdha gerichtet, im Artikel 28 des bisher vorliegenden Entwurfs für eine neue Verfassung statt der – bisher verfassungsgerichtlich garantierten – „Gleichheit“ von Männer und Frauen stattdessen ihren „gegenseitigen Schutz“ und ihre „Komplementarität“ festzuschreiben. Offenkundig hat die Regierungspartei es schwer, eine gesellschaftliche Hegemonie auch im außerparlamentarischen Raum zu behaupten.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom der Autor für diese Ausgabe.