Dieser Artikel
hat die Aktivitäten der salafistischen Strömung, einer
als besonders „radikal“ geltenden Variante des
politischen Islamismus, in den Ländern Nordafrikas zum
Gegenstand. Er wurde am Abend des Dienstag, 11.
September 12 abgeschlossen – wenige Stunden, bevor im
libyschen Benghazi und in der ägyptischen Hauptstadt
Kairo heftige Unruhen (insbesondere) von Salafisten und
anderen eher „radikalen“ Islamisten ausbrachen. Diese
antworteten auf einen bewusst als Provokation gegen
Moslems konzipierten Film („Die Unschuld der Muslime“),
der von ägyptischstämmigen christlichen (koptischen)
Ultras in den USA mit starken Verbindungen zur
nordamerikanischen Rechten lanciert worden war. Da die
im Zusammenhang damit stehende Mobilisierung zum
gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abgeschlossen, sondern die
Sache stark „im Fluss“ ist, wird auf diese Ereignisse
seit dem 11./12. September d.J. in nächster Zukunft
eingegangen werden. In den folgenden Abschnitten wird es
hingegen um die Umtriebe der Salafisten, mit Schwerpunkt
Tunesien, in den anderthalb Jahren seit der tunesischen
Revolution vom 14. Januar 2011 und bis zum Anfang dieser
Woche (Abschluss: 10.09.2012) gehen. Anm. d. Verf.
Am Anfang ging es ähnlich zu wie bei
einer ordentlichen Wirtshausschlägerei, nur Bier gab es
keines. Auch Schweinshaxen dürften nicht auf dem Menü
gestanden haben, als das Essen auf den Tisch respektive
auf den Boden kam und kurz darauf die Massenkeilerei
einsetzte. Am Abend des 6. August fielen zwei Gruppen
von jungen Männern in Béja nordwestlich von Tunis
übereinander her. Allerdings nicht an einem Stammtisch,
sondern in einer Moschee. Den Auslöser dafür bildete der
Streit um die richtige Uhrzeit für das Fastenbrechen,
denn eine der beiden Gruppen hatte ein paar Minuten
früher zu essen begonnen, während die meisten anderen
Zeitgenossen noch das – im Fastenmonat Ramadhan geltende
– Speiseverbot vor Sonnenuntergang einhielten. Ihr Imam
hatte die vermeintlich richtige Uhrzeit festgelegt.
Klingt
der
Vorfall
bis
dahin
noch
relativ
witzig,
so
hörte
der
Spaß
kurz
darauf
definitiv
auf,
denn
die
Angelegenheit
wurde
in
der
Folge
unter
Zuhilfenahme
von
Messern
und
unter
Einsatz
von
Tränengas
ausdiskutiert.
Die
Teilnehmer
an
dem
eifrigen
theologischen
Disput
in
der
Moschee
Al-Hidaya
waren
Anhänger
zweier
unterschiedlicher
Gruppen
des
salafistischen
Spektrums,
das
derzeit
in
Tunesien
auch
sonst
viel
von
sich
reden
macht.
Der
Vorfall
zeigte
unter
anderem
auch
anschaulich,
in
welchem
Ausmaß
zumindest
viele
Anhänger
dieser
neofundamentalistischen
Richtung
des
politischen
Islam
dazu
neigen,
eigenmächtig
den
Inhalt
vorgeblicher
Glaubensvorschriften,
von
Ge-
und
Verboten
aus-
und
festzulegen
und
dann
autoritär
durchzusetzen.
Notfalls
auch
mit
Gewalt,
so
jedenfalls
der
Standpunkt
einiger
Unterströmungen
des
Salafismus.
Diese
Spielart
des
Islamismus
ist
allerdings
selbst
wiederum
in
unterschiedlich
ausgerichtete
Gruppierungen
aufgefächert,
und
das
Spektrum
reicht
dabei
von
gewaltlos
missionarisch
tätigen
Pietisten
bis
zu
terroristisch
agierenden
Djihadisten.
Insgesamt
wird
die
Anzahl
der
mobilisierbaren
Anhänger
und
Aktivisten
des
salafistischen
Spektrums
in
Tunesien
derzeit
im
Allgemeinen
auf
annähernd
10.000
geschätzt.
Salafistische
Gruppen
sind
derzeit
besonders
in
Marokko,
Algerien,
Tunesien
aktiv,
sie
verfügen
über
Parlamentsparteien
in
Ägypten,
Prediger
im
Libanon
und
schalten
sich
derzeit
in
den
syrischen
Bürgerkrieg
ein.
Ihre
Abgrenzung
von
anderen
politischen
Formen
des
Islamismus
fällt,
sofern
die
Selbstbezeichnung
nicht
weiterhilft,
nicht
immer
ganz
leicht.
Ursprünglich
wurde
der
Begriff
des
„Salafismus“
im
Übrigen
auch
durch
sehr
unterschiedliche
Gruppierungen
benutzt:
Im
frühen
20.
Jahrhundert
stand
er
zunächst
–
im
deutlichen
Unterschied
zu
heute
–
nicht
für
besonders
rigoros
autoritäre
und
aufklärungsfeindliche
Strömungen,
sondern
im
Gegenteil
für
eine
modernisierungsfreundliche
und
an
Reformen
im
Islam
orientierte
Strömung.
Schon
damals
gab
es
an
angeblich
„buchstabengetreuer
Auslegung“
orientierte,
jegliche
Abstriche
und
Kompromisse
mit
der
modernen
Wirklichkeit
verwerfende
Vordenker,
die
sich
etwa
an
Schriften
des
islamischen
Theologen
Ibn
Thaymia
aus
dem
13.
Jahrhundert
christlicher
Zeitrechnung
orientierten.
Mangels
eines
besseren
Begriffs
nannte
man
sie
noch
vor
wenigen
Jahren
oft
„Wahhabiten“
und
identifizierte
sie
dadurch
mit
der
in
Saudi-Arabien
vorherrschenden
Staatsideologie.
Tatsächlich
verfügen
auch
die
jetzigen
Salafisten
bis
heute
zu
guten
Verbindungen
in
Teile
der
Ulema,
also
der
islamischen
Geistlichkeit,
Saudi-Arabiens
hinein.
In
jüngerer
Zeit
verwerfen
sie
allerdings
den
Begriff
des
Wahhabismus
explizit,
da
er
ihnen
zufolge
eine
Art
von
Personenkult
darstellt,
weil
das
Wort
vom
Eigennamen
des
Gründers
dieser
fundamentalistischen
Strömung
im
18.
Jahrhundert
des
christlichen
Kalenders
–
Ibn
Wahhab
–
abgeleitet
ist.
In
den
letzten
zehn
bis
zwölf
Jahren
kam
deswegen
der
Begriff
des
Salafismus
in
Mode,
der
vom
Wort
as-Salaf
für die „Vorfahren“ stammt, gemeint sind die
zeitgenössischen „Weggefährten des Propheten Mohammed“.
Noch in den
1990er Jahren bestand keine klar erkennbare Trennung
zwischen diesen Strömungen. Die stärkste islamistische
Partei im Algerien der frühen neunziger Jahre, die
„Islamische Rettungsfront“ (FIS), etwa war eine aus
unterschiedlichen ideologischen Komponenten
zusammengesetzte Sammelbewegung. An ihrer Spitze stand
jedoch als Chefideologe Ali Belhadj, eine Art Mischung
aus Savonarola und Goebbels. Er bildete formal die
Nummer Zwei in der Parteihierarchie hinter dem - seit
2003 im qatarischen Exil lebenden – Parteichef Abassi
Madani, übte jedoch in Wirklichkeit den mit Abstand
stärksten Einfluss auf die radikalisierten Teile der
Parteibasis aus. Nicht zuletzt an ihm scheiterte der
ansonsten vielleicht denkbare Versuch, einen Kompromiss
zwischen den Staat beherrschenden Militärs und
islamistischer Opposition einzufädeln, der zu einer
Machtteilung geführt und der Armee ihre Pfründe
gesichert hätte. Der absolut kompromisslose Ideologe,
der den Gedanken von Demokratie grundsätzlich als
„kulturellen Fremdkörper im Lande des Islam“ verdammte
und als Erfindung von Juden und Freimaurern hinstellte,
war Salafist. Die Bezeichnung war damals noch nicht
üblich, und diese Unterströmung vermischte sich mit
anderen Erscheinungsformen des politischen Islam. Später
trennten sie sich aufgrund strategischer und
ideologischer Differenzen voneinander. Ali Belhadjs Sohn
Abdelkader, der die politischen Ideen seines Vaters
teilte, schloss sich 2006 der bewaffnet agierenden
„Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) –
die sich später in „Al-Qaida im islamischen Maghreb“
(AQMI) umbenannte – und wurde im Juli 2011 im Kampf
getötet.
Schwerpunkt Tunesien
Tunesien
ist
das
Land,
wo
salafistische
Aktivisten
derzeit
am
stärksten
in
direkte
Konfrontation
mit
anderen
Teilen
der
Gesellschaft
getreten
sind
und
Menschen,
die
von
den
ihren
abweichende
Standpunkte
vertreten,
offen
attackieren.
Eine
der
letzten
Episoden
dabei
ist
der
Angriff
von
rund
fünfzig
ihrer
Anhänger
am
Montag,
den
03.
September
12
auf
ein
Hotel
in
Sidi
Bouzid,
das
den
letzten
Ort
in
der
zentraltunesischen
Stadt
mit
rund
40.000
Einwohnern
darstellte,
wo
noch
offen
Alkohol
verkauft
wurde.
Zahlreiche
Flaschen
wurden
von
den
Salafisten
zerschlagen.
Ein
Augenzeuge,
der
gegen
den
Angriff
protestierte,
wurde
von
ihnen
festgehalten
und
für
einige
Stunden
seiner
Freiheit
beraubt.
Sidi
Bouzid
gilt
als
„Wiege
der
tunesischen
Revolution“,
weil
dort
im
Dezember
2010
die
Selbstverbrennung
des
jungen
Prekären
Mohamed
Bouazizi
stattfand,
die
die
damaligen
Ereignisse
auslöste.
Es
gibt
dort
etwa
im
sozialen
Milieu
des
Gewerkschaftsbunds
UGTT
eine
linke
politische
Tradition.
Gleichzeitig
haben
es
die
Salafisten
in
den
letzten
Monaten
vermocht,
sich
in
einem
der
ärmeren
Viertel
der
Stadt
zu
verankern,
von
wo
sie
Andersdenkende
zu
terrorisieren
versuchen.
Bereits
in
der
vorletzten
Augustwoche
kam
es
in
derselben
Stadt
zu
heftigen
Auseinandersetzungen.
Mehrere
hundert
Salafisten
griffen
am
Mittwoch,
den
22.
August
d.J.
das
Stadtviertel
Aouled
Belhedi
an
und
attackierten
die
Einwohner
von
15
Häusern,
von
denen
mehrere
mit
Messerstichen
verletzt
wurden.
Am
vorausgehenden
Montag
hatten
Salafisten
einen
Mann
zusammengeschlagen,
der
Alkohol
getrunken
hatte,
woraufhin
48
Stunden
später
drei
Salafisten
von
Freunden
des
Opfers
verprügelt
wurden.
Als
Racheakt
kam
es
zu
der
regelrechten
Strafexpedition.
Die
Polizei,
obwohl
alarmiert,
griff
nicht
ein.
Anwohner
schlossen
sich
allerdings
spontan
in
Selbstverteidigungsgruppen
zusammen
und
konnten
die
Attacke
schließlich
zurückschlagen.
Auch
in
anderen
Staaten
der
Region
sind
Salafisten
mal
eher
mahnend
predigend,
mal
mit
Gewalt
vorgehend
aktiv.
In
Ägypten
etwa
traten
sie
soeben
eine
Kampagne
gegen
angebliche
„satanistische
Umtriebe“
los,
nachdem
am
31.
August
12
ein
Heavy
Metal-Konzert
in
einem
Club
im
Kairoer
Stadtteil
Zamalek
stattgefunden
hatte.
Doch
die
ägyptischen
Salafisten,
die
über
mehrere
zugelassene
Parteien
verfügen
-
ihre
wichtigste
ist
AL-Nur (Das
Licht) – und im Parlament sitzen sowie einen der Berater
von Präsident Mohamed Morsi stellen (Emad Abdel
Gharfour; gleichzeitig erhob Präsident Morsi allerdings
Ende August d.J. neben ihm auch eine Frau und einen
koptischen Christen zu BeraterInnen), attackieren nicht
offen gewalttätig breite Schichten der Gesellschaft. Wie
etwa Biertrinker inmitten der Normalbevölkerung oder die
Einwohner ganzer Stadtteile.
Einer
der
Gründe
dürfte
darin
liegen,
dass
die
Hauptpartei
der
Islamisten,
die
Muslimbrüder,
über
wesentlich
festere
Strukturen
verfügt
als
die
tunesische
Regierungspartei
En-Nahdha
(Wiedergeburt),
obwohl
die
Ideologie
beider
Kräfte
sich
nur
in
Nuancen
unterscheidet.
Die
schon
seit
1928
existierende
Muslimbrüderschaft
war
vor
2011
in
Ägypten
manchmal
verfolgt
und
oft
toleriert,
konnte
aber
nie
in
ihren
organisatorischen
Strukturen
destabilisiert
werden.
Hingegen
wurde
in
Tunesien
die
islamistische
Hauptpartei
En-Nahdha,
nachdem
ein
Kompromissversuch
zwischen
ihr
und
dem
Ben
Ali-Regime
in
den
Jahren
1987
bis
89
aus
verschiedenen
Gründen
gescheitert
war,
ab
1991
nicht
nur
unbarmherzig
verfolgt.
Auch
konnten
ihre
Strukturen
weitgehend
zerschlagen
werden.
Noch
bei
einem
Exilkongress
von
En-Nahdha
im
Jahr
2010,
wenige
Monate
vor
der
Revolution,
konnte
vor
allem
eine
drastische
Überalterung
der
Partei
und
die
Schwäche
ihrer
Strukturen
beobachtet
werden.
Nach
dem
Umbruch
gründete
En-Nahdha
sich
auf
tunesischem
Staatsgebiet
neu,
und
ihre
Parteigliederungen
erlebten
ein
unkontrolliertes,
chaotisches
Wachstum.
Bis heute ist die Partei zerrissen
und zerklüftet und hat erhebliche Mühe damit, die
Auswirkungen des „Realitätstests“ ihrer
Regierungsbeteiligung zu bewältigen. Dabei zogen
unterschiedliche Teile der Partei zwei unterschiedliche
Schlussfolgerungen aus der Phase ihrer Illegalität. Ein
starker Block, der die Führung beherrscht, hält an der
seit Ende 2005 praktizierten Politik der Allianzbildung
mit liberalen und linken Kräften, die damals zur
Erringung demokratischer Spielräume gegen das
polizeistaatliche Regime verfolgt wurde, fest. Aus
seiner Sicht muss En-Nahdha bei einer demokratischen
Positionierung bleiben, um weiterhin von den Sympathien
zu profitieren, die sie als Hauptopfer der Repression
unter dem alten Regime genießt. Doch es gibt einen
anderen Flügel, der die Auffassung vertritt, jetzt sei
die Stunde der Revanche gekommen, um - mit eben jenem
Märtyrerbonus ausgestattet – die eigene Ideologie
endlich kompromisslos durchzusetzen. Zu dem
Parteiflügel, der den Salafisten relativ nahe steht,
zählt etwa der Abgeordnete Sadok Chourou. Er unternahm
soeben einen Vorstoß, um dafür zu sorgen, dass den
Teilnehmern an Raubüberfällen die Hand abgetrennt werde.
Zudem verfügen die Salafisten
ihrerseits (die in Tunesien inzwischen auch über drei,
kleinere, Parteien verfügen wie die „Reformfront“ –
Dschaba al-Islah) in manchen Kreisen
ihrerseits über eine Art Märtyrerbonus. Die letzte
Generation von politischen Gefangenen unter dem alten
Regime, seit Anfang der 2000er Jahren, bestand bereits
überwiegend aus Salafisten. Die bisherigen Generationen
von politischen Gefängnissen wurden eher von En-Nahdha
gestellt, doch deren Anhänger kamen in die Jahre, und
ihre Haftstrafen wurden alljährlich in Hausarrest
umgewandelt. Die Salafisten begannen ab Anfang der
2000er Jahre mit überwiegend rein außenpolitischen
Themen zu mobilisieren. Vor allem rekrutierten sie
Kämpfer für den Einsatz im besetzten Iraq ab 2003. Zu
innergesellschaftlichen Themen hatten sie damals zwar
wenig zu sagen, doch genügten die Projektionsflächen
Iraq und Palästina, um ihnen den Zulauf von
radikalisierten Heranwachsenden zu ermöglichen.
Heute rekrutieren die Salafisten
übrigens wiederum Freiwillige für den Einsatz gegen das
– von ihnen als alawitisch, also einer Art Ketzertum
verhaftet, dargerstellte – Regime in Syrien. Allerdings
sorgt dies in jüngster Zeit für die bisher massivste
ideologische Gegenmobilisierung gegen ihre Strömung. Vor
allem von arabischen Nationalisten, die direkt oder
indirekt das syrische Regime verteidigen, kommt nun
nämlich der Vorwurf, die Salafisten seien in Wahrheit
eine fünfte Kolonne der US-Amerikaner, da sie gemeinsam
mit den USA und als pro-westlich geltenden Staaten wie
Saudi-Arabien und Qatar das syrische Regime zu stürzen
versuchen. Unter Anspielung auf den gemeinsamen
antisowjetischen Krieg von Djihahisten und westlichen
Staaten in Afghanistan von 1980 bis 1988 versucht man
nun, die Salafisten als in Wahrheit mit den westlichen
Mächten im Bunde stehende Marionetten zu denunzieren.
Bei säkular-nationalistischen oder auch
islamo-nationalistischen Strömungen geht dies
mittlerweile auch einher mit einer Betonung der
hässlichen Seiten des radikalen Islamismus – Intoleranz,
Inquisitionsgebaren, Körperstrafen -, die nun
bequemerweise allesamt allein den Salafisten angelastet
werden. Während letztere dadurch stärker isoliert
werden, sollen sie es zugleich auf sich nehmen, allein
die hässlich Seite des radikalen politischen Islam zu
verkörpern und dadurch andere Kräfte in einem reineren
Licht erscheinen zu lassen – während sie zugleich als
fünfte Kolonne äußerer Feinde hingestellt werden.
Einen solchen Diskurs über die Salafisten findet man
inzwischen auch in Europa, etwa bei Freunden des
syrischen und des iranischen Regimes wie manchen
Antiimperialisten, aber auch Rechten wie dem
französischen Nationalrevolutionär Alain Soral oder dem
deutschen rot-braunen Journalisten Jürgen Elsässer. – OB
DIESE NEUE FRONTENSTELLUNG, DIE IN DEN LETZTEN MONATEN
ZU BEOBACHTEN WAR, INFOLGE DER ANGRIFFE AUF DIE
US-BOTSCHFTEN IN LIBYEN UND ÄGYPTEN VOM 11. UND 12.
SEPTEMBER 2012 ANHÄLT ODER ABER OBSOLET WIRD, BLEIBT
NUNMEHR ABZUWARTEN. DIESE FRAGESTELLUNG WIRD DEN
GEGENSTAND EINES ANDEREN ARTIKELS IN BÄLDE DARSTELLEN
MÜSSEN.
Tunesien:
innenpolitische Frontverläufe
Mit ideologischen Vorstößen
etwa zum Händeabhacken werden Angehörige der
Regierungspartei En-Nahdha auf keinen Fall durchkommen.
Aber manche von ihnen sind der Meinung, die Salafisten
hielten den nötigen Druck aufrecht, um zugleich selbst
als vergleichsweise moderat zu erscheinen. Diese
strategische Spaltung von En-Nahdha sorgt dafür, dass
die Polizei oftmals die Salafisten gewähren lässt,
während in den Reihen der Ordnungskräfte wiederum viele
Sympathien des alten Regimes von Präsident Zine
el-Abidine Ben Ali sitzen. Diese sind der Auffassung,
ein steigendes Chaos sei wünschenswert, um Teile der
Gesellschaft die Rückkehr nach „geordneten
Verhältnissen“ fordern zu lassen. Dabei hat sich die
soziale und politische Gesamtsituation im Land noch
nicht stabilisiert, da viele Menschen aufgrund ihrer
sozialen Situation bislang mit den Ergebnissen der
Revolution eher unzufrieden sind. Im August kam es zu
einer massiven Attacke auf eine Polizeistation in Sfax,
nachdem zuvor ein Handgemenge zwischen Einwohnern und
Parteifunktionären von En-Nahdha entstanden war. Am
Montag dieser Woche kam es zu Unruhen in Tunis und der
Hafenstadt EL-Fahs, weil viele Menschen dagegen
protestierten, dass die Behörden viel zu lange gebraucht
hätten, um Rettungsversuche für schiffbrüchige „illegale
Auswanderer“ zu unternehmen. Vergangene Wochen kamen
mehrere Dutzend Tunesier auf dem Weg zur italienischen
Lampedusa ums Leben.
Unterdessen
betrachten aber auch wachsende Teile der
Regierungspartei En-Nahdha es als Dilemma, dass vor
allem die Salafisten als ihr aktivistischer, militanter
Arm erscheinen und ihnen scheinbar das dynamische
Auftreten vorbehalten bleibt, während die
Regierungsislamisten im Alltag der „Realpolitik“
feststecken. Als Partei mit breiter Wählerbasis und,
trotz bislang fragil bleibender Strukturen, relativ
guter gesellschaftlicher Verankerung ist En-Nahdha für
Schwingungen und Signale aus der Gesellschaft durchaus
empfindlich. So entgeht es den Parteiführern natürlich
nicht, dass die Auftritte und die Gewalt der Salafisten
zu breiter Ablehnung und zu einer gesellschaftlichen
Polarisierung führt. Auf der einen Seite kommt ihnen
diese Form von Polarisierung durchaus recht, da sie zu
Fragen der Sittenstrenge und zu den auch den
Regierungsislamisten wichtigen ideologischen Themen –
wie Alkoholverbot oder Bekleidungsmodus für Frauen –
erfolgt. Dadurch vermeiden sie es, dass
Auseinandersetzungen sich eher an den ungelösten
sozialen Fragen entzünden und um materielle Konflikte
herum kristallisieren, für welche En-Nahdha keinerlei
Antwort anzubieten hätte.
Doch auf der anderen Seite würde die
Lage für En-Nahdha nur schwer haltbar, erschiene die
Partei in breiten Kreisen als Verbündete von En-Nahdha.
In entscheidenden Momenten hat sie es doch immer wieder
geschafft, sich von ihnen abzusetzen. So profitierte die
Regierungspartei im März und April von den wochenlangen
Ausschreitungen von Salafisten, die sich auch gegen
Gewerkschaftsbüros richteten und dadurch Kritiker auch
der Regierungspolitik attackierten. Doch als es ab dem
9. April 12 zu massenhaften Protesten dagegen kam, dass
die Polizei die Salafisten hatte gewähren lassen, aber
eine Arbeitslosendemonstration am 7. April
zusammenprügelte, vollzog En-Nahdha einen Kursschwenk.
Bei den Demonstrationen zum ersten Mai ging die
Regierungspartei nicht nur auf die Straße, sondern
schloss sich zumindest beim Umzug in der Hauptstadt
Tunis mit den Gewerkschaftern des Dachverbands UGTT zum
gemeinsamen Marschieren zusammen. Dadurch schaffte sie,
den beginnenden harten Konflikt mit den Gewerkschaften
als bedeutendster sozialer Gegenmacht herunter zu
kochen. Doch die radikalisierten, nach Aktivität auf
eigenen ideologischen Grundlagen dürstenden Teile ihrer
Basis sind damit auf Dauer unzufrieden.
Am vergangenen Freitag nun versuchte
En-Nahdha, dieses Dilemma zu durchbrechen, indem sie
versuchte, eine eigene dynamisch wirkende Mobilisierung
– unabhängig von den Salafisten, aber auch den säkularen
politischen und sozialen Kräften – zu initiieren. In
Tunis und anderen Städten mobilisierte eine neue und
bisher unbekannte Bewegung unter dem Namen Ekbes
(ungefähr: „Mach hin!“) zu Protestkundgebungen. Diese
sollten offiziell die Regierung dahingehend unter Druck
setzen, dass sie schneller die Säuberung der staatlichen
Institutionen wie der Justiz von Angehörigen und
Anhängern des alten Regimes von vor 2011 vollziehe. Real
richteten sich die Parolen aber vor allem auch gegen die
neue Partei Nida Tunis – „Aufruf
Tunesiens“ oder „Appel Tunesiens“ – von
Ex-Premierminister Béji Caïd Essebsi, die als „Appel der
Schande“ gegeißelt wurde. Essebsi versucht, auf
der Grundlage einer Verteidigung der säkularen
Staatsgrundlagen gegen die Islamisten eine politische
Allianz zu bilden, die tatsächlich auch viele ehemalige
Begünstigte oder Funktionsträger des Ben Ali-Regimes mit
umfasst. Er amtierte von März bis Dezember 2011 als
Übergangspremier.
Die meisten Beobachter sind jedoch
der Auffassung, die Mobilisierung sei eher ein
erbärmlicher Misserfolg gewesen, wie etwa der
Schriftsteller Gilbert Nacchache schreibt. In der
Hauptstadt Tunis kamen rund eintausend Menschen
zusammen. Insgesamt seien, so erklären Beobachter fast
einhellig, wesentlich weniger Teilnehmer
zusammengekommen als am 1. Mai oder auch am 13. August
dieses Jahres, als über 30.000 Menschen für die
Frauenrechte demonstrierten. Letzterer Protest hatte
sich auch gegen das Ansinnen der Regierungspartei
En-Nahdha gerichtet, im Artikel 28 des bisher
vorliegenden Entwurfs für eine neue Verfassung statt der
– bisher verfassungsgerichtlich garantierten –
„Gleichheit“ von Männer und Frauen stattdessen ihren
„gegenseitigen Schutz“ und ihre „Komplementarität“
festzuschreiben. Offenkundig hat die Regierungspartei es
schwer, eine gesellschaftliche Hegemonie auch im außerparlamentarischen
Raum zu behaupten.
Editorische Hinweise
Wir
erhielten den Artikel vom der Autor für diese
Ausgabe.
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