MALI:  Schari’a ohne Gegenliebe

von
Bernard Schmid

09-2012

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Keine bösen Worte unter Freunden, hat sich François Hollande in der vorletzten Augustwoche vielleicht gedacht. Und schluckte den seit längerem schwelenden Ärger unter französischen Geostrategen, Nachrichtendienstlern oder Militärs über die Geldgeber jener radikalen Islamisten, die seit April 2012 einen Teil der Sahelzone kontrollieren, vorläufig herunter.

Am 22. August 12 empfing der französische Präsident das Staatsoberhaupt der Golfmonarchie Qatar, den Emir Ben Khalifa al-Thani. Zu sagen hätten sich die beiden Staatschefs grundsätzlich einiges gehabt. Nicht nur, dass der Golfstaat in Frankreich ziemlich viele prestigeträchtige Einrichtungen aufgekauft hat von Luxushotels an der Côte dAzur bis zum Pariser Fußballclub PSG. Der schwerreiche Kleinstaat spielt auch über den arabischsprachigen Raum hinaus eine wichtige Rolle als Finanzier diverser mal mehr, mal weniger fragwürdiger Bewegungen.

Als Franzosen und Briten ab März 2011 in Libyen militärisch sowie mit Geheimdienst- und Finanzhilfe für die dortigen Rebellen intervenierten, da floss aus Qatar reichlich Geld an ebendiese Rebellen. In Syrien, wo François Hollande und sein Außenminister Laurent Fabius sich zumindest verbal an die Spitze der internationalen Kritik am Assad-Regime und seinen blutigen Unterdrückungspratiken zu stellen versuchen, mischt die Staatsspitze Qatars ebenfalls eifrig mit. Ein Teil der syrischen bewaffneten Opposition, insbesondere sunnitisch-islamistische Gruppen, die eher am Rande der Rebellenbewegung stehen, erhalten Finanzspritzen von dort. Nicht, dass die Monarchen des kleinen Golfstaats ihre Liebe zu Befreiungsbewegungen entdeckt hätten. Eher im Gegenteil: Wie andere reaktionären Monarchien, unter ihnen Saudi-Arabien, versucht auch Qatar den antidiktatorischen arabischen Bewegungen eher die demokratische Spitze abzubrechen, und beispielsweise die Rebellion in Syrien gerne vom Aufstand gegen die Diktatur in eine Konfrontation zwischen Sunniten und Alewiten umkippen lassen. Erfolgreiche Aufstände für demokratische Rechte wären aus Sicht der Machthaber am Golf ansonsten eher gefährlich, könnten sie doch ihre eigenen Untertanen auf dumme Ideen bringen.

Die radikalen Islamistengruppen, die seit April dieses Jahres die gesamte Nordhälfte von Mali und damit einen nicht unbeträchtlichen Teil der Sahelzone militärisch kontrollieren, haben mit einer Demokratiebewegung garantiert nichts zu tun. Die Liste der Vorwürfe aus der malischen Bevölkerung an die miteinander rivalisierenden Djihadistengruppen, die sich den Norden ihres Landes aufgeteilt haben, ist lang. So rekrutieren diese 9 bis 17jährige Kinder und Jugendliche als Soldaten, wie dieMalische Koalition für die Kinderrechte“ (COMAD) – eine NGO-Koalition, die 78 Vereinigungen und Initiativen zusammenfasst am 5. August d.J. in Bamako bekannt gab.

Diverse Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und Misshandlungen, die mit einer besonders harten Auslegung der Scharia gerechtfertigt werden, wurden ebenfalls verzeichnet und erregen in der Bevölkerung eher Befremden. Mali ist seit dem 17. Jahrhundert mehrheitlich islamischer Religionszugehörigkeit und wird heute zu 90 Prozent von Muslimen bewohnt, doch die dortige Islamvorstellung ist völlig unvergleichbar mit den rigiden Konzepten, wie sie in Saudi-Arabien oder anderswo in arabischsprachigen Ländern vorherrschen. Körperstrafen im Namen der Religion rufen bei einer Mehrheit bestenfalls Kopfschütteln hervor. Doch am 29. Juli 12 wurde in Aguelhok etwa ein unverheiratetes Paar durch Steinigung getötet. Verantwortlich dafür zeichneten die radikalen Islamisten der Gruppe Ansar ed-Din („Partisanen der Religion“), die im Nordosten Malis den Raum um Kidal kontrolliert. Hingegen beherrschen die aus Algerien herübergekommenen internationalen Djihadisten von der GruppeAl-Qaida im Land des islamischen Maghreb“ (AQMI) im Nordwesten die Stadt TImbuktu und ihr Umland. Und die von AQMI abgespalteneBewegung für Glaubenseinheit und Djihad in Westafrika MUJAO beherrscht die Gegend um die wichtigste Stadt in Nordmali, Gao. Untereinander sind sich diese Gruppe längst nicht mehr grün. Ansar ed-Din gilt dabei sogar noch als gemäßigste der drei Gruppen, da sie nur regionale und keine auf den internationalen Djihad hinauslaufenden Ziele vertritt. Zudem akzeptierte diese Gruppe inzwischen die Vermittlerrolle, die offiziell durch die Regierung des Nachbarlands Burkino-Faso übernommen wurde, um Absprachen zwischen den Islamistengruppen und der malischen Zentralregierung in Bamako die weiterhin den Süden des Landes kontrolliert zu ermöglichen. Dies erklärte Ansar ed-Din offiziell am 08. August.

Die örtliche Bevölkerung begrüßt das Agieren dieser Gruppen keineswegs mit wehenden Fahnen. In der Großstadt Gao musste der MUJAO im August vorläufig auf den Versuch, öffentlichkeitswirksam die Anwendung der Scharia nach seinen Vorstellungen vorzuführen, verzichten. Am 05. August wollten die radikalen Islamisten auf dem „Platz der Unabhängigkeit“ im Zentrum von Gao einem Dieb öffentlich die Hand abschneiden. Doch am frühen Morgen besetzten bereits Hunderte von Jugendlichen den Platz und die Zufahrtswege dahin, und ließen die Djihadisten vom MUJAO einfach nicht durch. Diese mussten letztendlich darauf verzichten, das Urteil durchzuführen.

Im Süden von Mali ist die Stimmung der Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit gegen die Kontrolle der Nordhälfte des Landes durch die Djihadistengruppen. Dabei vermengen sich unterschiedliche Motive. Anfänglich vermischte sich deren Kampf mit dem der separatistischen Tuaregrebellen des MNLA, derNationalen Befreiungsbewegung von Azawad“. Diese besetzten zunächst ab Anfang des Jahres immer mehr Städte zusammen mit den radikalen Islamisten, mit denen sie sich aus taktischen Gründen verbündet hatten. Doch zu Anfang des Sommers flohen die Tuaregkämpfer Hals über Kopf aus Nordmali, und rückten daraufhin von ihren kurzzeitigen Verbündeten ab. Ihre Führung sitzt mittlerweile in Burkina-Faso im Exil und verzichtete auf die Unabhängigkeitsforderung fürAzawad“, dessen Souveränität ohnehin durch kein Land der Welt anerkannt worden war. Neben der Opposition gegen die Einführung der Scharia spielen unterdessen von Anfang auch ethnische Rivalitäten zwischen Schwarzen im Süden, Tuareg sowie Arabern im Norden eine Rolle. Allerdings besteht Ansar ed-Din überwiegend aus schwarzen Maliern, während AQMI und MUJAO eher arabische und andere ausländische Kämpfer umfassen.

Seitdem die Strukturen des malischen Zentralstaats unter dem Ansturm der unterschiedlichen, kurzzeitig untereinander verbündeten Rebellengruppen in den ersten Jahresmonaten im Norden zusammenbrachen, herrscht im Süden eine starke Stimmung zugunsten einer Wiedereroberung des Gebiets vor. Vor diesem Hintergrund hatte am 22. März 12 ein Teil der Armee, der eher aus jüngeren und von Korruptionsvorwürfen bis dahin relativ unbelasteten Offizieren bestand, gegen die amtierende Regierung in Bamako unter Präsident Ahmadi Toumani Touré, „ATT“, geputscht. Dabei genossen die Akteure dieses Offiziersputschs durchaus auch die Rückendeckung aus relevanten Teilen etwa der Stadtbevölkerung in Bamako. Denn zuvor hatte die durch und durch korrupte Regierung vonATT junge Männer kaum, schlecht oder un-bewaffnet im Krieg im Norden verheizt, während sie stattdessen auf inoffiziellen Kanälen direkte Kontakte zu den Rebellen pflegte. DaATT sich im April dieses Jahres seiner voraussichtlichen Abwahl hätte stellen wollen, aber keine wirkliche Lust darauf hatte, dass die Wahlen auch stattfinden konnten, kam ihm die Rebellion gerade recht: Infolge einer Abtrennung von Teilen der Staatsgebiets hätte vielleicht die Chance bestanden, die Wahlen noch zu verschieben Die Ehefrauen von im Norden Malisverheizten oder in Lebensgefahr gebrachten jungen Soldaten schoben daraufhin die Mobilisierung an. Sie stellten die Regierung zur Rede, organisierten Demonstrationen, und gaben dadurch indirekt den Startschuss für den Putsch.

Doch unter dem Druck der Nachbarstaaten, der früheren Kolonialmacht Frankreich und anderer internationaler Akteure wurde nach wenigen Wochen die Macht offiziell an einen zivilen Präsidenten, Dioucounda Traoré, übergeben. Doch eine Bewegung, die von einem starken Nationalismus „von unten“ getragen wird, opponierte weiterhin gegen ihn und stellte ihn als eine Art Erfüllungsgehilfen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS sowie, hinter ihr, Frankreichs dar.

Traoré wurde am 21. Mai 12, nach Protesten vor dem Präsidentenpalast, von aufgeheizten jugendlichen Demonstrationen erheblich verletzt. Er verbrachte mehrere Wochen in Konvaleszenz, aber auch um die politische Entwicklung in Ruhe abzuwarten, in Paris. Doch am 27. Juli d.J. kehrte er nach Bamako zurück. Er entzog zunächst dem von ihm eingesetzten Premierminister Cheikh Modibo Diarra einige Machtbefugnisse, bestätigte ihn dann jedoch Mitte August im Amt.

Unterdessen wuchs der Druck der ECOWAS, die von den malischen Übergangsbehörden die Bildung einer „nationalen EInheits-“ oder Konsensregierung forderte, um von ihrer Seite her eine militärische Intervention im Norden Malis vorzubereiten. In naher Zukunft geplant ist die Entsendung von 3.300 Soldaten durch mehrere Staaten der Region. Dabei möchte die ECOWAS das Heft in der Hand behalten und die Intervention kommandieren, was in der Gesellschaft und bei Teilen der politischen Klasse in Mali wiederum auf heftige Ablehnung stößt: Dort fordert man eine eigene, malische Kontrolle über ein militärisches Eingreifen im Norden. Zumal man in einer breiten Kreisen bezüglich einer Intervention der ECOWAS eher vermutet, es ginge ihr darum, die „Ruhe“ im Süden Malis (im Sinne des bestehenden, korrupten Establishments) zu sichern, die unruhigen Teile der Armee zurückzudrängen und die Kontrolle über Bamako zu erlangen – statt sich wirklich um den Norden zu kümmern…

Einigen Nachbarländern wie Burkina-Faso – dessen Präsident Blaise Compaoré zu den treuesten Verbündeten Frankreichs in der Region zählt -, und Paris im Hintergrund, wird vorgeworfen, an einer Schwächung Malis interessiert zu sein. Tatsächlich hatte es in der Vergangenheit politische Konflikte zwischen diesen Akteuren gegeben. Mali hatte unter Präsident „ATT“ seit 2008 fünf Mal hintereinander Aufforderungen der damaligen französischen Rechtsregierung, an der Migrationskontrolle mitzuwirken und ein Abkommen mit Paris – besonders zur Rücknahme in Europa unerwünschter Migranten – zu unterzeichnen, ausgeschlagen. Auch wenn die politische Klasse in Mali von erheblicher Korruption geprägt ist, so verfügt das Land doch über eine lebendigere Demokratie als fast alle Nachbarländer, mit zahlreichen Initiativen und NGOs, seitdem die Bevölkerung 1991 aus eigener Kraft den langjährigen Chef einer Militärregierung – den seit 1968 amtierenden Präsidenten Moussa Traoré – aus eigener Kraft stürzte. Deswegen ist das Land, insbesondere bei der Migrationspolitik, oft kein unterwürfiger Partner etwa für die frühere Kolonialmacht.

Als Anzeichen dafür, dass die Nachbarstaaten oder die ECOWAS Bemühungen Malis um eine eigenständige Intervention im Norden hintertreiben, werteten Akteure etwa Anfang August das Blockieren von Waffen, die durch die malische Regierung offiziell bestellt worden waren. Diese wurden in den benachbarten Ländern Senegal und Guinea festgesetzt und ihre Auslieferung blockiert, da eine Entscheidung der ECOWAS über ein militärisches Eingreifen bevorstehe.

Vom 10. bis 12. August 12 trafen sich ECOWAS, Vertreter von Afrikanischer Union und Europäischer Union sowie der malischen Übergangsregierung in Bamako zu einem Treffen, das eine solche Intervention vorbereiten soll. Unterdessen war das ursprünglich bis zum 31. Juli laufende Ultimatum der ECOWAS an Mali für die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“, das am 07. Juli gestellt worden war, um einige Wochen verlängert worden.

Nunmehr ist am 21. August d.J. tatsächlich die Konstituierung einer „Konsensregierung“ mit erweiterter politischer Basis in Bamako bekannt gegeben worden. Die wichtigste Neuerung dabei ist jedoch, dass die oberste Vertretung religiöser muslimischer Gruppen, der „Hohe Islamrat“ HCI, an der Regierungsbildung beteiligt wurde. Ihm wurde die, seit längerem von ihm geforderte, Einrichtung eines eigenen Religionsministeriums zugestanden. Hintergrund ist, dass hochrangige Vertreter des HCI Vermittlerfunktionen wahrnahmen und im Norden des Landes mit Repräsentanten von Ansar ed-Din sowie des MUJOA im ersten Falle sprachen, im zweiteren Falle noch sprechen sollen. Auf die Entscheidung über militärische Eingriffe im Norden könnte seine Regierungsbeteiligung jedoch längerfristig weniger Einfluss haben als auf die Innenpolitik des Landes. Schon im Jahr 2011 hatte eine Massenmobilisierung unter Einfluss des HCI für die Abänderung eines relativ progressiven Familiengesetzes, das ursprünglich die Rechtsstellung der Frauen hatte verbessern sollen, gesorgt. Bei den derzeitigen Bemühungen der neuen Regierung um Rückhalt in der Bevölkerung spielt der HCI jedoch eine wichtige Rolle: Bei der Organisierung einer Kundgebung „für Frieden in Mali“ in einem Stadion von Bamako, zu dem am 12. August d.J. über 50.000 Menschen kamen, hatte er eine Schlüsselfunktion übernommen.

Editorische Hinweise

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