Deutsche Kontinuitäten: Die Nation und das Pogrom

Ein Text der „Rassismus tötet“ Kampagne

09-2012

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onlinezeitung

An das wiedervereinigte Deutschland denken, bedeutet an das Pogrom in Rostock August 1992 zu denken. An Rostock zu denken, bedeutet an Mannheim, Hoyerswerdaer, Solingen und etliche andere feige Anschläge auf das Leben nicht-deutscher Menschen zu denken. Da das Pogrom von Rostock von den verantwortlichen Politiker_innen als letztes schlagkräftiges Argument für die faktische Abschaffung des Asylrechts inszeniert [1] und instrumentalisiert wurde, nimmt es in der beurteilenden historischen Betrachtung durch die Fanalwirkung eine exponierte Stellung ein. Zu keinem anderen Zeitpunkt der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte arbeiteten der Volksmob, Neonazis, die Regierung, die Exekutive in Form der Behörden und der Polizei, die Judikative in doppelter Hinsicht und die „vierte Gewalt im Staat“, die Medien, so konform und erfolgreich Hand in Hand. Zu keinem anderen Zeitpunkt entfaltete das Bündnis zwischen Elite und Mob einen dermaßen starken Wirkungsgrad, sodass die Änderung des Grundgesetzes möglich wurde.


Grafische Darstellung der Gewalteskalation
nach Rostock im ganzen Bundesgebiet

Rostock ist das Ergebnis politischer Weichenstellungen und zugleich der Gipfel einer nationalistischen Dynamik, in die sämtliche gesellschaftliche Kräfte verstrickt waren.

Diese Dynamik brachte eine Welle rassistischer Gewalt und gezielter Anschläge auf Wohnunterkünfte nichtdeutscher Menschen, die Rostock sowohl repräsentiert als auch verstärkt hat.

Die Zahl der rassistischen Angriffe erfuhr nach Rostock bundesweit Anfang bis Mitte September 1992 eine besonders hohe Konzentration: in einer Woche wurden mindestens 48 Übergriffe auf Migrant_innen und ihre Unterkünfte gezählt, davon fanden 15 im Westen statt. Ermutigt wohl auch durch das jämmerliche Bild, das Politik und Polizei bei der Rostocker Gewaltorgie boten, bedrohten rechte Gewalttäter und deren Mitläufer binnen sieben Tagen in mindestens 40 Fällen Ausländer-Wohnheime mit Brandsätzen und Steinen und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei – eine flächenbrandartige Gewaltorgie. [2]

Im November 1992 folgt ein Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Zwei Kinder und ihre Großmutter sterben, neun Menschen werden teilweise schwer verletzt.

Durch die hohe Konzentration der Gewalt in dem Zeitabschnitt können wir gut und gerne im Gesamtkontext von einem einzigen über Jahre grassierenden Pogrom sprechen (vgl. Pogromdefinition unten).

Das Pogrom gibt es schon seit der Antike und erfuhr in der christlichen, mittelalterlichen Gesellschaft eine regelrechte Ritualisierung. Im 20. Jahrhundert mündete die Dynamik, die mit Pogromen begann, in Konzentrationslager. Spätestens seitdem sollte die Wiederholung von Pogromen endgültig aus den Handlungsoptionen einer modernen Zivilgesellschaft verschwunden sein.
Wie ist es möglich, dass keine zwei Generationen nach der Barbarei des Nationalsozialismus die Deutschen in alte Verhaltensmuster und vermeintliche Lösungsstrategien vom „Ausschaffen“ und „Ausmerzen“ verfallen?

Es ist der rassistische Konsens, der mittels rassistischer Stereotype die proletarische Schicht über die Mitte der Gesellschaft mit der wirtschaftlichen sowie politischen Elite zu einer gemeinsamen Willensbildung zusammenklammert. Er stellt den erzielten, immateriellen Mehrwert der geistigen und politischen Brandstiftung dar, um dann auf dem Wellenkamm der gezielt geschürten Eskalation politische Veränderungen im Sinne der Akteure im Hintergrund durchzusetzen.

Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, die vorhergehende Frage genauer zu beantworten und die Hypothese zu belegen, dass das Pogrom ein zentrales Element der deutschen Geschichte ist.
Zieht man nämlich nähere Betrachtungen der Ereignisse um wichtige Eckdaten der deutschen Geschichte noch hinzu, stößt man auf erschreckende Kontinuitäten. Das Pogrom ist nicht nur eine urchristliche Tradition, die von der entstehenden deutschen Nation übernommen worden ist, es scheint dabei sogar als Katalysator gedient zu haben.



Mittelalterliche Darstellung des Pogroms
 

Die gescheiterte deutsche “Revolution”

1817 riefen Studentenschaften während des Wartburgsfests, dem Auftakt der zum Scheitern verurteilten deutschen Revolution, mit dem Ruf Wehe über die Juden! zur Verbrennung von Büchern jüdischer oder semiphiler Schriftsteller_innen auf. Im August 1819 breitete sich mit den sog. „ Hep-Hep-Unruhen“ eine gewaltsame, rassistische Krawallserie von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Während der Pogrome wurden Häuser und Geschäfte geplündert und zerstört, Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Menschen unter dem Kampfruf: „Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!“ misshandelt.

Viele Deutsche sahen im angestrebten deutschen Nationalstaat schon vor 1848 einen „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild oft Kritik an „Volksschädlingen“ und unproduktiven „Schmarotzern“. Diese Verachtung bezog sich wie auf die „Wucherer“ im Mittelalter weiterhin vor allem auf Juden. Die Mehrheit behandelte Juden als Menschen minderen Werts und Rechts und fürchtete den Verlust ihrer eigenen ständischen Privilegien. Dies wog schwerer als die Aussicht auf mehr demokratische Partizipation. Der bürgerliche Demokratieprozess unterlag besonders im deutschsprachigen Raum ständigen Rückschlägen und war nur mit staatlichen Verordnungen durchsetzbar, die zudem traditionelle Diskriminierungen beibehielten. [3]


Bücherverbrennung durch Studenten
während des Wartburgfests 1817

Die Aufklärung als Vehikel antisemitischer Einstellungen in die Moderne

Ideologischen Rückenwind für die Transformation des mittelalterlichen Antisemitismus in die der Moderne lieferten die Aufklärer, die geistigen Gründungsvätern der europäischen Demokratie. Namhafte deutsche Staatsphilosophen wie Kant und Hegel frönten gemeinsam mit dem Volk dem wahnhaften Antisemitismus.

Der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz bedauerte, dass man die Juden zu seiner Zeit nicht mehr hatte vertreiben können. Gleichwohl erörterte er diese Möglichkeit öffentlich ausführlich. [4]

In Folge dieser rassistischen Hetze hielten die Vertreibungen weiter an. Dazu aktivierten gebildete Frühantisemiten gern „Volkes Stimme“.

Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. […] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluss und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.“

Ernst Moritz Arndt, deutscher Schriftsteller und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, das erste frei gewählte Parlament für die deutschen Nachfolgestaaten. [5]

Im Verlauf der Märzrevolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Zerstörung von Kreditbriefen und Schuldenakten wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von Seiten aufständischer Bauern wie antirevolutionärer Bürger. Beide gaben den Juden für Not und Revolution die Schuld.

Seit 1879 und verstärkt seit 1918 bildeten sich in Deutschland und Österreich neue politische Parteien, deren Programme zur „Lösung der Judenfrage“ die Vertreibung, teilweise sogar Ausrottung der europäischen Juden forderten. [5]

Beide deutsche „Revolutionen“, 1848 und 1989, und der Nationalsozialismus haben vor allem eins gemeinsam: sie beziehen die deutsche Identität aus der sozialen Exklusion der „Fremden“ und „Entarteten“, die durch volksverhetzerische Propaganda des Bürgertums und organisierte rassistische Pogrome vollzogen wird.

Schon 1900 hieß es:"Deutschland den Deutschen".




Die Pogrome von 1819


Antijüdische Vertreibungsfantasien als Postkartenmotiv

Kontinuitäten in der Propagandarhetorik

Die Pogrome nach Wartburg und während der sog. Märzrevolution und die des Nationalsozialismus weisen frappierende Übereinstimmungen zu den Pogromen nach der deutschen Wiedervereinigung auf.

Soziale Konfliktherde in Verbindung mit historischen Umbrüchen, im Kielwasser aufkommenden Nationalismus eine eliminatorische, irrationale Wut gegen alles andere; eine vom Bürgertum initiierte Propaganda, die den Unmut auf den „unaufhörlichen Zufluss“ durch Fremde, die „zu Deutschland hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen“, für ihre Machtinteressen zu nutzen wissen und geistige Brandstiftung betreiben.

Drei Elemente der oben zitierten Hetzschrift aus dem 19. Jahrhundert zeigen starke Parallelen zur Propaganda der 1990iger auf (für den direkten Vergleich wird die NS-Propaganda nicht einbezogen):

1. Die Bildsprache – Kollektivsymbole

Extrem auffallend sind die Kontinuitäten in der Bildsprache: der Terminus der „verderblichen Überschwemmung“ und des „unaufhörlichen Zuflusses“ durch ein „fremdes Volk“, das nach Deutschland „hinströme“, findet seine Fortsetzung in der Polemik der „Asylantenschwemme“. „Asylanten verstopfen alles“ war zum Beispiel der diskriminierende Wortlaut eines Titels aus dem Spiegel im Jahr 1990. Auch auf plakativer Ebene verstand es der Spiegel, Flüchtlinge als Gruppe zu homogenisieren und auf entmenschlichende Weise zu einer einzigen „Schwemme“ zu stilisieren. Auch die Boulevard- und die Lokalpresse griffen diese Bildsprache auf und halfen ebenfalls, schon Jahre vor den Pogromen durch die Generierung alter „Volkskörper“-Denkmechanismen ein rassistisches Klima zu schüren.




Zwei Spiegel-Cover von 1991

2. Die Forderung nach ethno-biologischer Reinhaltung

Die Biologisierung des Nationbegriffs zog hygienische Betrachtungen des eigenen und des „fremden Volkes“ mit sich; so waren die Deutschen vom „herrlichen Keime“, deswegen „rein zu erhalten“ vor „fremdartigen Bestandteilen“, die „giftig“ und „verderblich“, „schmutzig“ sind und „ihre Pest bringen“.

Für uns im Block sind das auf Deutsch gesagt Dreckschweine. Die scheißen und pissen um unseren Block, die liegen in jeder Ecke und bumsen auf der Wiese. Man kann hier nachts überhaupt nicht mehr das Fenster aufmachen. Das stinkt hier an allen Ecken und Enden. (…) Dagegen sind wir. Und dieser Zustand, der muss sich hier endlich mal ändern!“ so ein Lichtenhäger während des Pogroms in Rostock am 21. August 1992 unter Applaus.
„(…) Aber wie die sich hier bewegen, das geht doch gegen jede deutsche Norm. Da sind wir Deutschen ganz anders. Für Sauberkeit, für Ehrlichkeit.“ Passend dazu ein anderer „ordentlicher“ Bürger [
Video].

Wieder erscheint die eigene Gesellschaft und Kultur als geordnetes Lebensgefüge, jene der Migrant_innen wird unter Verwendung alter Stereotype als chaotisch beschrieben.

Auf höherer Ebene begegnen wir immer wieder einer Form der Forderung nach ethnobiologischer Reinhaltung der Deutschen, die sich in den Diskussionen um die Erhöhung der Geburtenrate als Ersatz für die Einwanderung ausdrückt. Hierfür sei als Beispiel folgender Zeitungsartikel aus dem Tagesspiegel zitiert:

Wirtschaftsasylanten”: DIHT-Chef fordert mehr Kontrolle Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl, hat eine Begrenzung der Zahl von “Wirtschaftsasylanten” gefordert. “Wir brauchen eine geregelte Zuwanderung, keinen unkontrollierten Strom von Wirtschaftsasylanten”, sagte Stihl der “Bild”-Zeitung. Bei “echten politischen Asylanten” dürfe es allerdings “keine Begrenzung” geben. Der DIHT-Präsident appellierte an alle Firmenchefs in Deutschland, mit aller Härte gegen Rechtsextreme in den Betrieben durchzugreifen. “In meiner Firma gilt: Wer am Arbeitsplatz verfassungsfeindliche Symbole zur Schau trägt oder ausländische Kollegen belästigt, fliegt sofort raus.”

Unterdessen hat der sozialpolitische Sprecher der CSU-Bundestagsgruppe, Johannes Singhammer, von der Bundesregierung eine “aktive Bevölkerungspolitik” zur Hebung der Geburtenrate gefordert. Nur so könne der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft begegnet und das für die Sozialsysteme bedeutsame Gleichgewicht zwischen den Generationen wiederhergestellt werden, sagte Singhammer am Dienstag in Berlin. Das Thema müsse im Bundestag ohne Tabus auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Die Zahl der Geburten muss nach Ansicht des CSU-Politikers in Deutschland langfristig wieder so weit zunehmen, dass die Zahl der Sterbefälle ausgeglichen wird. [6]

3. Die Forderung nach dichten Grenzen

Der Ruf nach der totalen Abschottung, dem „unwiderrufliche Gesetz“, das danach trachtet, keinen „Vorwand“ und keine „Ausnahmen“ zuzulassen, wurde schon im 19. Jahrhundert laut.

Ministerpräsident Seite (CDU) ließ 1992 anlässlich der Pogrome in Rostock wieder „Volkes Stimme“ reden: “Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird.”[1]

Das Bedürfnis der Deutschen nach dichten Außengrenzen, nach Abschottung scheint alt zu sein und dürfte seine heutige Entsprechung im neuen „Asylrecht“ gefunden haben. Um das Asylrecht zum Abschottungsrecht transformieren zu können, musste man das liberale, historisch einmalige und grundgesetzlich verankerte Recht auf Asyl loswerden. Es war eine humanistische Errungenschaft, die bei der Rückkehr zum Blut-und-Boden-Dünkel im Weg stand.

Fazit: Wir sind das Volk?

Das große, deutsche „Wir“, die gemeinsame Identität funktioniert allem Anschein nach nur über die Abgrenzung gegen „die Anderen“. Den Traum von der deutschen Einigkeit hegten die Deutschen schon vor Jahrhunderten. Die ersten reellen Nationalbestrebungen entstanden jedoch erst unter der napoleonischen Besatzung 1792 bis 1815, also unter Fremdherrschaft. Die kulturell und im Dialekt sehr heterogene Bevölkerung fand sich im Kampf gegen die Besetzung in einer gemeinsamen antifranzösischen Definition von „deutsch“ oder „Freiheit“ wieder. Die flugs durch die Wehrpflicht reformierte preußische Armee schlug die französischen Truppen dann in der entscheidenden Schlacht 1813 in Leipzig.
1848 war die Situation eine andere. Die Franzosen waren nicht mehr da. Eine demokratische Nation wollten die Deutschen aus der Wiege heben – durch eine Revolution nach französischem Vorbild. Die Aufstände liefen auf rassistische Gewalt hinaus, die deutsche Revolution scheiterte. Sicherlich kann man hier nicht monokausal argumentieren, aber den komplexen Zusammenhang durch Fragen näher beleuchten: kann man die antijüdischen Gewaltexzesse, die die sog. Revolution begleiteten, als „Nationwerdung nach innen“ [7] bezeichnen?
Geht das Scheitern der Revolution auch auf die Kanalisierung des Aufstandes in rassistische Gewalt zurück? Wo sind die Parallelen zur deutschen „Revolution“ 1989/90?  Einige parallele Konditionen sind nicht zu übersehen: Das Land stand bis zum Mauerfall ebenfalls unter Besetzung „fremder Herrschaft“ und war geteilt. Während die westlichen Alliierten ihre Hegemonie eher „moderat“ über Marshall-Pläne ausübten, standen die Ostdeutschen unter dem klar fühlbaren Diktat der Russen. Eine Situation, die der im 19. Jahrhundert sehr ähnelt.
Wieder verstärkt der Eindruck der Fremdherrschaft das Streben nach der Großen Nation, wirkt geradezu katalytisch auf Sehnsüchte nach der nationalen Einheit , die sich schließlich Bahn brechen.
Auch die Betrachtung der Art des überregionalen, zeitgleichen Verlaufs der Pogrome belegt die Analogie zwischen den Ereignissen 1848 und 1992.

Die Wahrnehmung des „Fremden“, Ingroup/Outgroup

Die nepotistische, ethnozentrische Doppelte Moral

Begriffsklärung „Moral“:
Rationalität, Ethik und Ästhetik sind bewundernswerte Eigenschaften des Menschen. Die Fähigkeit zur Liebe, Erbarmen, Verzeihen und Aufopferung liegen auf der gleichen Dimension wie Mord, Folter und kriegerische Massenvernichtung. Denn nur wer moralisch handeln kann, ist auch in der Lage, unmoralisch zu handeln, und umgekehrt. Diese Polarisierung von moralisch/ unmoralisch des Handelns und Bewertens ist spezifisch menschlich. Moral ist ein konkreter Kodex ethischen Verhaltens menschlicher Gemeinschaften. Der Kodex beinhaltet ein Wertesystem und Handlungsbewertungsmaßstäbe wie gut/böse, erwünscht/unerwünscht. Moral soll verbindlich sein und einheitliche Maßstäbe zur Bewertung im Hinblick auf Handlungen von und gegenüber unterschiedlichen Personengruppen setzen.

Begriffsklärung “Doppelte Moral”:
Die Doppelte Moral setzt KEINE einheitlichen Maßstäbe, sondern setzt gezielt uneinheitliche diskriminierende Maßstäbe für Handlungsrechtfertigungen und Bewertungen dieser und gibt konkrete Handlungsanweisungen für diskriminierendes Verhalten. Die doppelte Moral kann sich auf Handlungen (z.B. Töten im Krieg/Frieden), oder aber auch auf Personen bzw. Personengruppen beziehen ( z.B. Farbige/Nicht-Farbige, Frauen/Männer) Die Personen(-gruppen) diskriminierenden, doppelten Bewertungsmaßstäbe für gleiche Handlungen resultieren aus einer unterschiedlichen, generellen Wertschätzung jener Personen/Personengruppen, was der Ausdruck einer sozialen Rangordnung ist. Diese Rangordnung wiederum beruht auf den jeweiligen Machtverhältnissen. Es ist natürlich immer angenehmer, zur mächtigeren Gruppe zu gehören.

Die ständige nepotistische”ingroup-outgroup”-Differenzierung:
Menschen aller Kulturen machen die Familie zum zentralen Gerüst ihrer Beziehungen, die Begünstigung der Verwandten ist ein universal menschlicher Charakterzug und geht mit einem gruppenbestärkenden Abgrenzen von Außenstehenden einher, denen gegenüber der nepotistische Mensch sich wenig bis gar nicht moralisch verpflichtet fühlt. Hieraus entsteht ein hierarchisch fein abgestuftes Differenzierungsgefälle zwischen nahen Verwandten, entfernte Verwandten, soziales Umfeld, Nation, kulturell-religiöser Zugehörigkeit, denen die Solidarität gilt, wobei die jeweilige Markierung der Abgrenzung gegen “außen” taktisch verschiebbar ist.
Es entsteht ein “ingroup”-Altruismus korreliert mit einer “outgroup”-Feindlichkeit.

Wirkung:

a) Xenophobie
Solch eine Strukturierung des menschlichen Empathievermögens lässt folgerichtig hinter der äußersten Grenze der empfundenen Zugehörigkeit kein Einfühlungsvermögen gegenüber Personen/Personengruppen außerhalb der gesteckten Grenzen zu. Dies führt zu einer Verfremdung in der Wahrnehmung der “Anderen”, zu einer “Dehumanisierung”: Nur die eigenen Gruppenmitglieder sind echte Menschen, alle anderen sind nur menschenähnliche Wesen. Die Tendenz geht zwangsläufig in Richtung auf eine “geschlossene Gesellschaft” unter Ausgrenzung von “Fremden”. Daraus resultiert in je nach empfundener Bedrohung in steigender Stufung Fremdenablehnung, Fremdendiskriminierung, Fremdenhass, Ausgrenzung und sozialer Ausschluss “Andersartiger”, “Devianter”, also der “Ostrazismus”, der so oft in barbarischer Grausamkeit endet.

Die Dehumanisierung der Feinde ist ein weltweit genutztes Instrument dieser doppelten Moral: wer zu töten ist, muss möglichst “fremd” sein. In Interaktion mit gesellschaftlichen Ereignissen kann der soziale Ausschluss der ” Anderen” weiterforciert werden und hat die breite sozialpsychologische Akzeptanz von gesellschaftlichen Phänomenen wie Rassismus, “gerechte” Kriege und Morde, aber auch “gerechte” Tötungen innerhalb der Sozietät, w.z.B. der Todesstrafe, zur Folge.

b) Das Konzept des „Normalen“
Von solchen Grunddispositionen ausgehend ist der gedankliche Sprung zu biologisierenden Vorstellungen eines Volkes, einer Nation, einer Rasse als “selbstregulativer” Superorganismus nicht weit. Der “normative Biologismus” solch einer Gesellschaft kann mit ihrer vollen Härte eigene Gruppenmitglieder treffen, die von der Norm abweichen und somit als “Deviante” stigmatisiert werden. Als “deviant” können alle möglichen Personengruppen empfunden werden: geistig und/oder körperlich Versehrte, Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung, sowohl kriminelle, als auch oppositionelle politische Gruppierungen, Obdachlose, oder aber Menschen, die sich bewusst der Norm nicht unterwerfen. Sie werden als „volkskörperschädigend“ empfunden und müssen deswegen „ausgemerzt“ werden.
Hier funktioniert die “Dehumanisierung”, der soziale Ausschluss und damit die Mitfühllosigkeit genauso gut wie bei der Xenophobie, sodass diese Menschen der “outgroup”-Feindseligkeit zum Opfer fallen. [8]

Ingroup/Outgroup-Differenzierung: „Politisch Verfolgte“ versus „Scheinasylanten“

Legt man bei diesen beiden Termini und ihrem assoziativen Bedeutungsgehalt die Schablone der ingroup/outgroup-Systematik an, stößt man auf zwei moralische Bewertungskategorien, die unterschiedliche Handlungsanweisungen implizieren: Das Bild des_der „politisch Verfolgten“ löst Mitgefühl aus, da die Deutschen eigene kollektive Erfahrungen damit verbinden und sich somit stückweit mit dem Bild identifizieren können. Der_die politisch Verfolgte wird in die „Wir“-Identität aufgenommen: der Schutz vor politischer Verfolgung war bis XX einklagbares Individualrecht, aufgenommen in die Grundverfassung der BRD. Politisch Verfolgte genießen den Schutz und die Solidarität. Solange von „politisch Verfolgten“ die Rede ist, ist die Übereinstimmung über die Legitimität des Asylrechts im Grundtenor recht hoch.

Anders verhält es sich, bei dem Generalverdacht gegenüber Einwandernden, denen unterstellt wird, eben diese „Gutmütigkeit“ der Deutschen „ausnutzen“ zu wollen und deswegen „das Asylrecht massenhaft [zu] missbrauchen“.
Diese Propaganda vom „Wirtschafts-„ bzw. „Armutsflüchtlingen“ hat das Ziel, beim Rezipienten den Eindruck zu erwecken, dass sie im Gegensatz zu politisch Verfolgten nicht wirklich des Schutzes bedurften. Stattdessen werden sie als Bedrohung nicht nur des deutschen Wohlstandes, sondern für die geordneten Lebensverhältnisse jedes_jeder Einzelnen dargestellt. So fallen die als „Scheinasylanten“ gebrandmarkten in die Kategorie „deviant“, weil „unnütz“ und „volkskörperschädigend“.

In Folge dieser Einstellung wird ihnen das Recht auf Hilfe (oder auf Leben) schlichtweg abgesprochen. Betrachtet man diese beiden Bilder des Flüchtlings und ihre als Gegensätze dargestellten Motive jedoch genauer, wird klar, dass es sich bei der Terminologie des „Scheinasylanten“ um eine rassistische Idiomatisierung handelt, mit der Absicht, die wahren Zusammenhänge zu verschleiern.

Armut, wo auch immer, ist ein Zustand der wirtschaftlichen Schwäche, aber auch ein Ergebnis des Führungsstils der nationalen, politischen Elite. Es ist eine grundlegende Tatsache, dass die wirtschaftliche Struktur eines Landes maßgeblich für die politische Führung ist. Der Umgang und die Verteilung der Ressourcen ist der ausschlaggebende Parameter für die Gestaltung und Schichtung der Gesellschaft.
Bei herrschender, krasser Ungleichheit führen Kämpfe um gerechtere Verteilung u.a. zur politischen Verfolgung. Also haben politische Fluchtmotive oft auch einen ökonomischen Background.

Noch weniger verständlich wird die Polemik von „Wirtschaftsasylanten“ angesichts der Tatsache, dass die Entwicklung der Wirtschaftsstrukturen vieler Rohstoffexportnationen bewusst und gezielt mit einer Reihe politischer Entscheidungen der so genannten Industrienationen blockiert wird. Was bedeutet, dass sie für die Strukturschwäche und die sich daraus ergebende schlechte Lebensqualität der Bevölkerung verantwortlich – und „Armutsflüchtlinge“ eben doch politische Flüchtlinge sind.

Die Entwicklungen jedoch zeigen, dass es keineswegs um die rationalen Hintergründe von stereotypisierenden Zuschreibungen geht. In Rostock wurden in der Pogromnacht am 24. August 1992 vietnamesische Vertragsarbeiter_innen, am 23. November 1992 Türk_innen in mörderischer Absicht angegriffen.
Hier wurde nicht mehr unterschieden, es ging um die binäre Reduktion „Wir“ gegen „die Anderen“.

Das Pogrom als ein Produkt der ingroup/outgroup-Differenzierung

Die Definition des „Fremden“ als Gegensatz zum „Wir“ funktioniert nach außen wie nach innen gleichermaßen. Die gemeinsame Feinddefinition kann andere Nationen, mit denen man im Konflikt ist, betreffen, oder aber auch eine ausgemachte Minderheit im Land, die als „deviant“ und/oder fremd wahrgenommen wird (wie am Beispiel der rassistischen Hetze gegen Flüchtlinge ausgeführt). Oft schwelen stereotypisierende Fremdzuschreibungen und Vorurteile lange vor dem Ausbruch rassistischer Gewalt unter der Oberfläche. Soziale Verwerfungen innerhalb der Mehrheitsbevölkerung werden durch die Idee der Nation eingeebnet, die Idee der Nation wiederum ruft nach einem „Wir“. Je heftiger die sozialen Konfliktpotentiale werden, desto stärker muss das „Wir“ anhand der sozialen Ausgrenzung der als „fremd“ empfundenen Minderheiten katalysiert werden. Rassistische Hetze fällt unter diesen Zuständen auf einen fruchtbaren Nährboden aus Verarmungsängsten und Feigheit. Und kann unter bestimmten Umständen in Pogrome oder pogromartige Angriffe ausufern.

Begriffsklärung „Pogrom“:
Das Wort „Pogrom“ wird von einem russischen Wort für „Chaos begehen“ abgeleitet und bezieht sich speziell auf die Angriffe von Christen auf die jüdische Bevölkerung im Russland des 19.Jahrhunderts. Es gibt keine klar umrissene Definition für das Wort, wurde aber im Allgemeinen als den organisierten Angriff auf das Leben und/oder den Besitz von jüdischen Menschen verstanden. Doch mit der Zeit wurde der Begriff verallgemeinerter angewandt, um Angriffe auf andere Minderheiten einzuschließen. Heute wird der Begriff benutzt, wenn sich die Gewalt gegen Menschen richtet, die zu einer ab- bzw. ausgegrenzten Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden.

Die klassischen Charakteristika eines Pogroms sind mit größerem oder geringerem Ausmaß folgende:

  • Die Opfer sind nicht in einen Konflikt mit den Angreifern involviert und von ihnen geht keine Gefahr auf die Angreifer aus.

  • Die Angreifer gehen oft organisiert vor und der Angriff ist mehr geplant als spontan, aber der Organisationsgrad ist nicht der ausschlaggebende Parameter für die Definition. Oft kommt man mit der Erklärungsfigur des Sündenbocks hinreichend aus. Von einer fließenden Grenze zum organisierten Pogrom kann man sprechen, wenn unterbindungspflichtige Institutionen nicht eingreifen, wie z.B. beim Synagogenbrand im November 1938 und in Rostock 1992.

  • Die Angreifer werden durch die Behörden (authorities) unterstützt oder zumindest gibt es eine wie auch immer geartete Komplizenschaft mit den Behörden. Selbst wenn die Regierung oder die Behörden nicht in jedem Fall die Pogrome provoziert, sondern nur wenig oder gar nichts zur Beendigung der Angriffe tut, und vor allem wenn sie den Strom von bigotten und aufhetzenden Verleumdungen aufrechthält, können die „Aufstände“ nicht als „spontan“ betrachtet werden, sondern zurecht als Pogrome im engsten Sinne des Wortes.
    Die Definition schließt somit staatlich verordneten Terror ein: vgl. eine Aussage wie „Die Propagandamaschine versuchte, im deutschen Volk, insbesondere bei den Soldaten eine regelrechte Pogromstimmung gegen ‚die Italiener’ zu entfachen.“ Das Beispiel macht zugleich deutlich: Für den Begriff Pogrom ist nicht vorauszusetzen, dass eine Stimmung bereits breit entfaltet ist und es nur eines Zündfunkens bedarf, um sie in Gewalt umschlagen zu lassen.

  • Mit einem Pogrom gehen häufig Plünderung, Vergewaltigung und Mord einher. Solche Beschreibungselemente machen es allerdings nicht zwingend, den Begriff Pogrom an die Bedingung einer Massenausschreitung zu binden. Zwar nahmen zahlreiche historische Pogrome solche Ausmaße an, in anderen Zusammenhängen ist der Begriff Pogrom aber angebracht, um Einzelübergriffe, die an verschiedenen Stellen in zeitlichem Zusammenhang auftreten, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

  • Bei näherer Untersuchung von Pogromen stößt man regelmäßig auf soziale und ökonomische Dimensionen. Dies ausdrücklich in die Definition zu übernehmen, ist jedoch wenig ratsam, denn in der jeweiligen Beschreibung, wie eine Opfergruppe von Tätern definiert wird, spielen subjektiv getroffene Fremdzuschreibungen eine ausschlaggebende Rolle. Rassistische Stereotypen sind sozipsychologische Konstruktionen, irrationale Projektionsflächen sozialer und gesellschaftlicher Missstände. Als solche müssen diese Komplexe ohnehin in jedem Fall einzeln genau ausgeleuchtet werden und gehen nicht verloren. [9]

Zusammenfassung der Definition:

  • von den Betroffenen geht keine Gefahr aus

  • die Angreifer sind Vertreter_innen der Mehrheitsbevölkerung und agieren im Kollektiv

  • der Angriff erfolgt mehr oder weniger organisiert, hat aber starke spontane Bewegungsmomente

  • es gibt eine wie auch immer geartete Unterstützung und eine große Toleranz durch den Staat und seine exekutiven Organe

  • oft geht Staatliche Hetzpropaganda voraus, deren „Erfolg“ zwar oft, aber nicht zwingend auf gesellschaftlich verankerten Ressentiments fußt, sondern umgekehrt welche erschaffen kann

  • Pogrome haben oft den Tod der Opfer zur Folge, sofern dies nicht unterbunden wird

  • das Pogrom ist eine spezifische Vollziehung von Rassismus und setzt einen breiten Konsens, wie eine Opfergruppe in der Gesellschaft definiert wird, voraus. (Eine andere abzugrenzende Erscheinung ist z.B. das Genozid zu Kriegszeiten.)

  • soziale und ökonomische Aspekte spielen zwar eine Rolle, aber nicht für die Definition des Begriffs. Abgesehen davon, dass durch diese Denkweise Rassismen reproduziert werden können, birgt sie auch die Gefahr, dass der irrige Umkehrschluss, Pogrome seien eigentlich soziale Aufstände, als Rechtfertigung der Täter herangezogen wird. Unter Umständen leben in einem Pogrom auch nur Erinnerungen oder Pseudo-Erinnerungen an soziale Differenzen zwischen Tätern und Opfern auf.

Resümee: Rostock, Mannheim und Hoyerswerda waren keine „Ausschreitungen“, sondern Pogrome!

Bei drei deutschen Staatsgründungen bzw. Gründungsversuchen waren extremer Nationalismus und rassistische Pogrome charakteristische Begleiterscheinungen: bei der gescheiterten Märzrevolution 1848, bei der Gründung des NS-Regimes und bei der Wiedervereinigung. Es wurde belegt, dass das Pogrom eine zentrale Stelle in der deutschen Geschichte einnimmt und deswegen gesondert aufgearbeitet werden muss.

Das wird tunlichst vermieden, indem in der öffentlichen Reflexion schon das Wort umgangen wird.

Die Pogrome von 1819 sind euphemisierend und zynisch als „Hepp, Hepp-Unruhen“ in die deutsche Geschichtsschreibung eingegangen. Zynisch, weil der grausame Schlachtruf der rassistischen Deutschen, also die Perspektive der Täter_innen schon bei der Benennung dieses Ereignisses immer wieder reproduziert wird. Euphemistisch, weil das Wort „Unruhen“ bei weitem das Ausmaß der Gewalt nicht fassen kann und deswegen krass verharmlosend ist.

Genau an die verharmlosende Wahl des Wortfeldes „Unruhen“ schließt die Benennung der Pogrome in den 1990igern im öffentlichen Diskurs als „Randale“ und „Ausschreitungen“ an.
Durch die Vermeidung des Wortes „Pogrom“ fehlt der Ansatz für jegliche Aufarbeitung der deutschen Untaten als solche und sein Gehalt an rassistischen Ideologien. Stattdessen können solche kollektiven Gewaltausbrüche unter der Bezeichnung „Randale“ unter andere Ereignisse, die als solche bezeichnet werden, verbucht werden. (So geschehen in der medialen Aufarbeitung unmittelbar nach den Pogromen in Rostock, als der rassistische Mob mit den Hafenstraße- oder Brokdorf- Aktivist_innen oftmals gleichgesetzt wurde.[10])

Auf diese Weise wird die kollektive Aufarbeitung und Eingang der furchtbaren Ereignisse am Anfang der 1990iger als Pogrom benannt in die Geschichtsschreibung aus politischem Kalkül wirksam unterbunden.

Der Unterschied zwischen sozialen Aufständen und Pogromen bzw. rassistischen Gewaltlösungen

Wo liegt denn jetzt genau der Bewegungsmoment, der den Unterschied bestimmt? Wie herausgearbeitet wurde, wissen wir, dass die Wurzel des Übels “wir gegen die anderen” in einem sehr ursprünglichen, primitiven Wir liegt, das seine Identität aus der Feinschaft gegenüber einer anderen Gruppe bzw. dem Misstrauen gegenüber der Außenwelt bezieht- nüchtern betrachtet mag das auch logisch zu erscheinen, wenn ein realer Konflikt mit einer anderen Gruppe vorherrscht.

Das Pogrom jedoch ist per Definition eine Erscheinung einer Gesellschaft zu Friedenszeiten und richtet sich gegen Menschen, von denen keine Gefahr für die Angreifer_innen ausgeht, die also keine Aggressionen provozieren.
Diesen liegen eher eigene Problemlagen und Befindlichkeiten zugrunde, die über den Kanal weit verbreiteter, rassistischer Ressentiments in Ablehnung, Hass, Wut und schließlich Gewalt gegen eine von der Mehrheitsgesellschaft definierte Minderheit kompensiert werden. Gerade die charakteristisch hohe Beteiligung von Normalbürger_innen an Pogromen legt nahe, dass diesem gruppendynamischen Prozess – vom Rassismus zum Pogrom – strukturelle Problemlagen zugrunde liegen, und nicht in erster Linie individuelle.

Doch wäre es ein fataler Fehler, wie oben ausgeführt, dem Mob den Persilschein auszuhändigen, indem man sie als Opfer sozialer Misslagen darstellt und die alleinige Schuld diffus der Gesellschaft oder dem Staat zuschiebt.
Auf dieser Linie wäre man schon nahe am Ruf nach dem starken/durchgreifenden/handelnden Staat.
Außerdem ist das Menschenbild der Annahme zu hinterfragen, Pogrome als verirrte soziale Aufstände zu definieren. Denn das würde bedeuten, dass Rassismus und rassistische Gewalt quasi natürliche Reaktionen auf Armut und Unterdrückung seien, als ob der menschliche Charakter nun mal so ist. Und schon wären wir auf der Argumentationsschiene der “Überforderung durch ungebremsten Zustrom”. Das ist aber nicht so.

Wenn ich eines gelernt habe aus den Jahren der Bewegung, des Protestes und Aufbegehrens, um eigene Forderungen politisch zu platzieren, dann ist eins: man braucht Mut. Denn kein Staat auf der Welt, kein Polizist applaudiert und bewirft einen mit Blumen, wenn mensch eine Demo zu einem brisanten politischen Thema besucht. Eher mit Gummigeschossen. Das ist der Punkt.

Auch nicht-aktionistischer, politischer Arbeit in sozialen Teilbereichen lastet etwas zähes und Don-Quichote-haftes an. Und auch hier braucht man Mut und Engagement, um die Zustände als solche zu problematisieren und die Verantwortlichen zu benennen.

Dieser Mut und der Wille, die Gesellschaft mitzugestalten, geht Menschen ab, die sich in rassistische Gruppendynamiken verstricken. Im Gegenteil: aus den objektiven oder subjektiv empfundenen Misständen heraus richten sie sich nicht gegen die Verantwortlichen, sondern gegen leichtere Ziele, in der Regel
schwächer gestellte und agieren auf der physischen Ebene fast ausnahmslos in der Gruppe, dessen Konsens die Feigheit ist, den sie gerne mittels Dämonisierung stigmatisierter, fremddedinierter Gruppen mit Mut verwechseln. In letzter Instanz ist es stets eine persönliche Charakterfrage, inwieweit das Unrechtsempfinden jedes einzelnen Individuums durch eigene Rassismen und Hetze ausgeblendet ist.

Dass Rassismus und rassistische Gewalt mitnichten das Produkt von Armut und sozialer Benachteiligung sind, beweist das Auftreten von Pogromen und pogromartigen Zuständen quer durch Epochen und in Zusammenhang unterschiedlicher gesellschaftlicher Konstellationen.

Inwieweit waren die Großgrundbesitzer und der weiße Mob gegenüber ihren Opfern sozial benachteiligt, als sie in der furchtbaren Phase der Lynchmorde in den USA ihre ehemaligen Sklav_innen auf grausamste Art massakrierten?

Gerade an diesem Beispiel ist die Sinnlosigkeit des monokausalen Zusammenhangs zwischen Pogrom und prekären, sozialen Zuständen klar zu erkennen. Es ist vielmehr so, dass rassistische Hetze an die niedrigsten, menschlichen Instinkte appelliert. Rassismus bedient den Wunsch nach billiger Selbstaufwertung. Die Anfälligkeit beruht nicht primär auf dem sozialen Status, sondern ist in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet, ob bildungsnah oder -fern. Und in allen Nationen, deren identitätsstiftende Grundkonstitution bereits Fallstricke für irrationale Feindbildkonstruktionen bereithält.

Die Sache mit der Selbstjustiz – fließende Übergänge zwischen Progression und Regression

Leider ist die Abgrenzung zwischen sozialem Aufbegehren und pogromartigen Zust§nden in der Empirie nicht so scharf zu ziehen wie bei der  Definition der diametral zueinander stehenden moralischen Kategorien Mut und Feigheit als Motivationsstifter.

Pogrome kann man auch als einen ritualisierten Akt archaischer Selbstjustiz, eine Sparte der periodisch auftretenden Selbstermächtigung des Fackeln schwingenden Mobs, betrachten. Denn dann heißt die Devise “Aug um Aug, Zahn um Zahn”. Doch dies ist keine Spezialität des Volksmobs, auch nicht die des deutschen.

Dieses Phänomen der Wir-Dynamik löst in menschlichen Gruppen Ausschlussverfahren Nicht-Angepasster und den Willen zur Selbstermächtigung aus, die allgemeine Konventionen und Regeln übertritt. In Verbindung miteinander kann man oft als Ergebnis Ausschlussprozesse gegen tatsächliche oder vermeintliche Nicht-Gruppenmitglieder und unangepasste Gruppenmitglieder beobachten, die unter bestimmten Umständen in Akte der Selbstjustiz ausufern kônnen. Das kann beispielsweise eine mittelständische Vorortgemeinde genauso betreffen wie auch idealistische, gar revolutionäre Gruppierungen. Da auch sie das Wir tendenziell aus der Abgrenzung zum Feind, und das ist als Linksradikale_r potentiell der Rest der Welt, konstituieren und dadurch unreflektiert Dynamiken anheimfallen können, die man an der bürgerlichen Gesellschaft so kritisiert.

Tatsache ist jedoch auch, dass Soziale Bewegungen eine identitätsstiftende Grundpositionierung brauchen, wenn sie nicht in Beliebigkeit und Opportunismus verfallen môchten. Als Mensch mit revolutionärem Anspruch sollte ein ständiger und selbstkritischer Umgang mit dem Wir zu den Skills gehôren. Dazu gehört auch das Wissen, dass dem Wir eine gewisse Machtfülle innewohnt, die nur genutzt werden darf, um politische Ziele zu erreichen. Und dass sämtliche Formen der Selbstjustiz und Ausschlussverfahren devianter (= nicht-angepasster) Personen bzw. Personengruppen einen steinzeitlichen und regressiven Charakter tragen.

Das progressive Wir

Die Geschichte ist voll von Beispielen sozialer und revolutionärer Bewegungen, die ohne ein positives, kraftvolles Wir nicht möglich gewesen wären und auf dessen Erfolge man sich gut und gerne berufen kann.
Denken wir an die spanische Revolution, dessen größte, bewundernswerte Leistung es gewesen war, Franco und sein faschistisches Pack zunächst aus dem Land zu jagen. Mit dem Schlachtruf: “Sie kommen nicht durch! WIR kommen durch!”

Dieses Gemeinschaftsgefühl war so progressiv, dass der Wir-Gedanke in die Umstrukturierung der Produktionsprozesse umgesetzt werden konnte. Es sollte Konsens darüber herrschen, dass die Abschaffung des Eigentums und die Kollektivierung sowohl des Agrarsektors als auch der Industrie als fortschrittliche Maßnahmen und einzig mögliche Antwort auf den Kapitalismus zu bewerten sind. Dieser Vorstoß wurde von einer visionären Organisierung der Ökonomie getragen, die in der kurzen, erfolgreichen Phase der spanischen Revolution funktioniert hat. Der erwirtschaftete Mehrwert beider Sektoren wuchs kurz an – und das obwohl man gleichzeitig an den Fronten gegen die faschistischen Truppen kämpfte, eine weitere großartige Leistung der revolutionären Industrie- und Landarbeiter_innen.

Ohne ein verbindliches, antifaschistisches Selbstverständnis, ohne das “Wir kommen durch!” wäre dies ihnen nicht gelungen. Dass dieses ein solidarisches, grenzen übergreifendes Wir war, beweist die hohe Teilnahme antifaschistischer Kräfte, die von überall aus Europa herbei kamen, um mit den Spanier_innen gegen den Faschismus zu kämpfen. Denn dieses Wir hatte nichts mit nationaler Identität, sondern viel mehr mit internationaler Solidarität zu tun.

Um weitere Beispiele zu suchen, muss man gar nicht in die Weite schweifen, sondern findet auch in der deutschen Geschichte, die glücklicherweise nicht nur aus Pogromen und Weltkriegen besteht (auch wenn die Annahme manchmal nahe liegt).

Mensch muss nur das Datum des 9.Novembers betrachten – ein deutsches Schicksalsdatum. Unwillkürlich drängen sich bei der Erwähnung dessen Bilder des Novemberpogroms auf. Als nächstes folgen Bilder von einheitstollen Deutschen auf der Mauer. Zwei Momentaufnahmen deutscher Geschichte, die eng miteinander verwoben sind. Beide sind in das allgemeine Gechichtsbewusstsein eingegangen, das eine wird gewürdigt (z.B. Schweigeminute im Bundestag), das andere wird abgefeiert.

Doch gibt es noch einen weiteren, historisch wichtigen 9.November.

Warum wird nicht die deutsche Novemberrevolution 1918 abgefeiert? Schließlich war diese eine Revolution in Deutschland im Vergleich zu der vorhergehenden doch ziemlich erfolgreich und hat ernsthafte gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Was in der Nacht des 29. Oktober 1918 in einem Land, dessen Bevölkerung sich nach der gescheiterten Märzrevolution mit dem Obrigkeitsstatt abgefunden hatte, mit einer Befehlsverweigerung der Kieler Matrosen begann, führte am 9. November 1918 zur Ausrufung der Republik und wenig später zur formellen Abdankung des Kaisers und aller anderen Bundesfürsten. Ihren Abschluss fanden diese gesellschaftlichen Umwälzungen am 11.August 1919 in der ersten demokratischen Verfassung der Weimarer Republik.

Warum feiert man nicht so ein wichtiges Datum und die damit verbundene, einzig erfolgreiche Revolution, zumal sie nicht in Pogrome ausuferte? Auch hier war das Wir fortschrittlich und nicht wegzudenken für die Prozesse, auch hier wohnte eine Gesellschaftsutopie inne, die sich in der formierenden Räterepublik ausdrückte.
Warum bezieht sich Deutschland nicht positiv auf eine linke Revolution? Weil es die einzige war, die sich wirklich gegen die Obrigkeit gerichtet und die herrschende Kaste abgesetzt hat? Könnte dies ein unerwünschtes Vorbild sein?

Wir leben in Zeiten, in denen der Kapitalismus sein wahres Gesicht enthüllt. Neoliberalismus heißt diese Phase der zunehmenden Rationalisierung und Deregulierung sozialer Bereiche, der wachsenden sozialen Kälte. Doch schon formieren sich auch Massen gegen das kapitalistische System und die Devise heißt schon längst wieder “Antifaschismus heißt Kampf dem imperialistischen System!”.

Die Zeit der innerlinken Grabenkämpfe und randständigen Abwehrkämpfe ist passe.

Wir, als Antifaschist_innen, müssen, haben die Pflicht, an den sozialen Kämpfen teilzunehmen und ein Wir, das vom antifaschistischen, antirassistischen Selbstverständnis und grenzenloser Solidarität ausgeht, dabei einzubringen.
Dazu gehört Gedenkpolitik, aber auch der vorwärtsgewandte Blick auf zukünftige, gesellschaftliche Veränderungen und die Hürden, die nur mit einem kraftvollen, solidarischen Wir zu nehmen sind.

Sie werden uns nichts schenken, aber die Solidarität ist unsere Waffe!
Rassismus tötet! Pogrome verhindern! Wir greifen ein!

Anmerkungen

[1] bezogen auf Jochen Schmidt „Politische Brandstiftung“
[2]
Spiegel, 37/1992
[3] Alex Bein: Die Judenfrage, Band 2: Anmerkungen, Exkurse, Register, Deutsche Verlagsanstalt 1980, S. 158
[4] Erb/Bergmann, a.a.O. S. 111–135
[5]
nach Weltgeschichte im Aufriss Band 2, Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191
[6] Tagesspiegel, 22. August 2000
[7] Diese Terminologie wurde von Dietrich Beyrau geprägt, als er die antisemitischen Pogrome während der polnischen Staatsgründung mit den Schwierigkeiten des Gründungsprozesses in Zusammenhang brachte.
[8] vgl. “Vom Töten zum Mord”, Christian Vogel, erschienen 1989 Hanser-Verlag
[9] vgl.
Zionism and Israel – Encyclopedic Dictionary – Pogrom und: Wikipedia – Pogrom)
[10] „Schlagzeilen – Rostock: Rassismus in den Medien“ Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, 1992

 

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