Texte  zur antikapitalistischen Organisations- und Programmdebatte

09-2012

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Red. Vorbemerkung:  Im NaO-Blog wurde das Eintreten des AKKA für die "Klassenorientierung" als den zentralen Eckpunkt im NaO-Prozess vehement von Detlef Georgia Schulz und einem unter dem Pseudonym "Systemcrasher" postenden Genossen als "Hegelei" angegriffen bzw. mit dem Schubladenargument “Philosophenstreit” belegt. Letzteres hatte sich "Systemcrasher" ausgedacht, der sich selber als Anhänger der integralen Philosophie der US-Amerikaners  Ken Wilber bezeichnet, für den auch Bill Clinton schwärmt. Wilber beansprucht, eine umfassende Sicht des Menschen und der Welt zu entwickeln, indem er  versucht, prämoderne, moderne und postmoderne, östliche und westliche Weltsichten sowie spirituelle Einsichten und wissenschaftliches Denken zu integrieren.

Das Proletariat als historisches Subjekt
Ergänzende persönliche Anmerkungen zum AKKA-Vorschlag von Karl-Heinz Schubert

Die Herrschaft der Bourgeoisie stürzen kann nur das Proletariat als besondre Klasse, deren wirtschaftliche Existenzbedingungen es darauf vorbereiten, ihm die Möglichkeit und die Kraft geben, diesen Sturz zu vollbringen.“ (Lenin, Staat und Revolution, LW 25/ S.416)

Dem AKKA wird hier in diesem Blog im allgemeinen und mir im besonderen der Vorhalt entgegen gebracht, die historische Mission des Proletariats aus einer geschichtsphilosophischen Konstruktion abzuleiten, deren erkenntnistheoretische Wurzeln bei Hegel verortet werden. Die folgenden Hinweise sollen darlegen, dass die Bestimmung des Proletariats als „das historische Subjekt, welches durch die kapitalistischen Verhältnisse gezwungen wird, als Klasse den Kapitalismus aufzuheben“ (AKKA-Vorschlag Nr 1.), sich aus der Analyse des Kapitalismus ableitet, wie sie im Marxschen „Kapital“ umfassend und richtig erfolgte.

Nach Erscheinen der ersten Auflage des 1. Bandes des „Kapitals“ hielt es Marx für unabdingbar, den LeserInnen im Nachwort zur zweiten Auflage deutlich zu sagen, was aus seinen Untersuchungen der kapitalistischen Produktionsweise – die er als Kritik der politischen Ökonomie bezeichnete – notwendiger Weise für den Fortgang der Geschichte der Klassenkämpfe folgt: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat.“ (MEW 23, S.22)

Im „Kapital” analysierte Marx bekanntlich die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, von der bereits vorher allgemein bekannt war, dass es sich um eine Klassengesellschaft handelte. Was bis dato fehlte, war die Kenntnis über die grundlegenden Elemente der warenförmigen Beziehungen zwischen den beiden Hauptklassen, nämlich zwischen der ausbeutenden Bourgeoisie und dem ausgebeuteten und unterdrückten Proletariat.

Mit seiner Mehrwerttheorie enthüllte Marx erstmalig wissenschaftlich die Ausbeutung des Proletariats durch die Kapitalistenklasse. Mit ihr brachte er im „Kapital“ den Nachweis, daß nur auf der Basis der Ausbeutung des Proletariats mittels Lohnarbeit Existenz und Wachstum des Kapitals möglich sind und dass damit die Aufhebung des Kapitalismus unwiderruflich an die Aufhebung des Lohnsystems und damit an die Aufhebung des Proletariats als Klasse und aller anderen Klassen gebunden ist. Damit untermauerte er wissenschaftlich das, was er bereits im Kommunistischen Manifest Jahre zuvor für den politischen Kampf formuliert hatte.

Mit der Mehrwerttheorie als Grundlage seiner Akkumulationstheorie analysierte Marx im Kapital nicht nur die Auswirkungen des kapitalistischen Reproduktions- und Akkumulationsprozesses, sondern auch die Klassenpolarisierung und vor allem die „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“.

Und dazu Marx selber:

Sobald dieser Umwandlungsprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und andrer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist.

Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellen- den und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.

Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.

Die Verwandlung des auf eigner Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches ist natürlich ein Prozeß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.“ (MEW 23, S.790f)

Und als Fußnote 252 finden wir dort ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest an den Begriff „Volksmasse“ angefügt, um nicht missverstanden zu werden, wer mit „Volksmasse“ wirklich gemeint ist:

Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert also vor allem ihre eignen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich … Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehn, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehn unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern … sie sind reaktionär, denn sie suchen daß Rad der Geschichte zurückzudrehn.” (Karl Marx und F. Engels, “Manifest der Kommunistischen Partei” London 1848, p. 11. 9. <Band 4, S. 474, 472>)

Ausgehend von einer auf diese Weise bestimmten historischen Rolle des Proletariats habe ich mich weit vor dem jetzt anlaufenden NaO-Prozess zur Frage des Proletariats im Zusammenhang mit den ökonomischen Umbauprozessen und den damit zuzammenhängenden Veränderungen in der Klassenstruktur befaßt. In einem Vortrag dazu heißt es:

Obwohl es plausibel erscheint, lässt sich nicht aus formellen Eigenschaften (z.B. Besitz einer Eigentumswohnung oder jemand erhält Hartz VI) ableiten, wer zu welcher Klasse gehört.

Gesellschaftliche Klassen werden durch ihre Stellung in und zum Produktionsprozess bestimmt. Mit dem Produktionsprozess ist nicht nur der einzelne Betrieb gemeint, sondern immer die kapitalistische Produktionsweise als sich bewegendes Ganzes.

Im Hinblick auf ihre Stellung im Produktionsprozess handelt es sich um eine ökonomische Bestimmung (schafft Wert und Mehrwert, verfügt über den Wert, hat das Kommando über die Arbeit usw.)

Im Hinblick auf ihre Stellung zum Produktionsprozess handelt es sich um eine soziologische Bestimmung (Aktienbesitzer und damit Eigentümer von Kapital, Lohnarbeiter in der Zirkulation, Einkommen aus Bodenrente, Lebensperspektive Lohnarbeit), die ökonomisch abgeleitet ist. Sie werden von Marx als „Charaktermasken“ der ökonomischen Verhältnisse bezeichnet.

Durch diese doppelte Bestimmung (ökonomisch & soziologisch-ökonomisch) werden sie in den gesellschaftlichen Klassenzusammenhang, in die gesellschaftliche Totalität, eingeordnet.

Eine „polit-ökonomische“ Behandlung der Klassenfrage, die eindimensional nur die Stellung im Produktionsprozess als einziges Merkmal verwendet, produziert nur Missverständnisse und Diskussionen, die in der Behauptung gipfeln könnte, nur wer in der Fabrik für Lohn überwiegend Handarbeit verrichtet, gehört zur proletarischen Klasse.“ (Wo ist das Proletariat bloß abgeblieben! Aspekte einer marxistischen Klassentheorie, http://www.trend.infopartisan.net/trd0411/t010411.html)

Wenn nun der AKKA seinerseits vorschlägt die „Klassenorientierung“ auf Platz 1 der Agenda einer „Neuen antikapitalistischen Organisation“ zu setzen, dann dient dies nicht nur dazu, das Adjektiv „antikapitalistisch“ im genuin marxistischen Sinne – wie oben skizziert – zu füllen und die Entfaltung der politischen Praxis des „NaO-Kartells“ hauptseitig auf die Kämpfe und Konflikte der lohnabhängigen Massen – kurzum auf das Proletariat auszurichten, sondern auch einer poststrukturalistischen Revision des Marxismus eine Absage zu erteilen.

Aus der polit-ökonomischen Ableitung des Proletariats als einzige Klasse das Kapitalverhältnis auflösen zu können, eine „Hegelei“ zu machen, ist eine beliebte Variante dieses revisionistischen Angriffs, weil mit der Leugnung des den Kapitalismus in letzter Konsequenz bestimmenden Grundwiderspruchs versucht wird, die kapitalistische Ausbeutung und den Klassenkampf auf einen politischen bzw. ökonomischen Konflikt bzw. eine (ideologische und systemische) Struktur wie jede andere in der bürgerlichen Gesellschaft herunterzubrechen.

Schlussendlich führt dies dazu, die kapitalistische Produktionsweise zu verschleiern und zu verfälschen, um die Aufhebung und Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft allein an das Wollen exklusiv organisierter selbsternannter Revolutionäre zu knüpfen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor.