Es ist
ein gutes Zeichen, daß Arbeiten Herbert Marcuses einen so
großen Einfluß auf den aktivsten, progressiven, besten Teil
unserer jungen Intelligenz gewonnen haben. Denn Marcuse ist ein
ungewöhnlich scharfsichtiger Kritiker des Kapitalismus, dieser
schlimmsten aller Ordnungen, die den Menschen zum Mittel
erniedrigen, ihn entmenschlichen. Marcuse steht links, ist also
wirklich ein Kritiker dieser Ordnung, kein sich kritisch
herausputzender Konservativer oder Rechter wie einst
Nietzsche oder Jünger. Ein durch kapitalistische
Dehumanisierung tief verletzter Mensch meldet sich vernehmlich
zu Wort. Seine Anklagen messen das, was der Mensch heute ist:
was er in Vietnam ist, in den amerikanischen Negerslums, in den
zwar hygienisch einwandfreien, neonerhellten technisch perfekten
Räumen moderner Großbetriebe als Anhängsel der Maschine ist. Sie
messen das an dem, was der Mensch heute sein könnte und sollte.
Und jene jungen Menschen, die zutiefst empört sind über die
beispiellose Heuchelei, die mit dem Wort Freiheit betrieben
wird, wenn es dazu dient, praktisch betriebenen Völkermord zu
tarnen, die erschrocken sind über die Anfälligkeit
bürgerlichdemokratischer Regime für den Faschismus, diese jungen
Menschen wenden sich dem bedeutenden Kulturund Sozialkritiker
zu. In semer Kritik spüren sie einen Anklang ihrer eigenen
Stimmungen. Dies um so mehr, als Marcuses gleichzeitige Kritik
an den sozialistischen Ländern und der sozialistischen
Arbeiterbewegung, sein Vorwurf an diese Adresse, eine große
Verheißung verraten zu haben, dem Werk Marcuses einen
unparteiisch objektiven Schein gewährt. In der Gefolgschaft
Marcuses ist man frei zur Kritik und Rebellion nach jeder Seite
hin, stellt man sich gegen eine ganze Welt von Feinden oder
falschen Freunden, elenden Heuchlern. Wir können in der Tat
Marcuse für seine Kritik des modernen Kapitalismus dankbar
sein. Allerdings müssen wir fragen, ob diese Kritik uns genügen
kann. Wir meinen, daß grundlegende Mängel im theoretischen
Instrumentarium, in der Dialektik, Marcuse daran hindern, eine
solche Kritik des Kapitalismus zu entwickeln, die den Weg zur
Überwindung dieses Systems weist. HERAKLIT VERSUS HEGEL
Beginnen wir mit Hegel. Hätte er nur darauf bestanden,
daß der Kampf entgegengesetzter Elemente Quell alles Werdens
sei, würde er das Niveau der heraklitischen Dialektik nicht
überschritten haben. Daß der Streit der Vater aller Dinge sei,
war gewiß eine großartige Einsicht. Doch sie sagt uns noch nicht,
w i e aus dem Kampf gegensätzlicher Momente Neues hervorgeht.
Bleibt es bei ewiger Spannung zwischen Position und Negation, s
o folgt daraus gerade kein Werden. Wie der Kampf der
widerstreitenden Seiten in ein neues widerspruchsvolles Etwas
„aufgelöst" wird, in solch Neues umschlägt, das folgt aus der
Widerspruchsthese noch nicht. Gäbe es jedoch solche „Auflösung"
nicht, fände auch kein Werden statt. Gibt es aber solches
Fortschreiten durch Widersprüche, so ist dessen Gesetzmäßigkeit
zu klären. Fehlt solche Gesetzmäßigkeit, der Umschlag von einer
widerspruchsvollen in die andere also chaotisch, so folgt
daraus, daß sich, aufs Ganze gesehen, solche Qualitäts-Umschlage
gegenseitig annullieren.
Dasselbe gilt, wenn es nur den einfachen Umschlag der
einander widersprechenden Seiten gäbe. Das Ergebnis wäre ein
einfacher Kreislauf. Bald negierte die Position, bald wieder die
Negation. Wenn die einander widersprechenden Momente nur
im Verhältnis des absoluten Gegensatzes stünden, wäre dieser
einfache Umschlag, der Kreis» lauf, unabwendbar. Die Negation
träte an die Stelle der Position, und dann wieder geschähe das
Gegenteil. Es gäbe keine Entwicklung. Alles das wäre Stillstand
unter dem Schein von Bewegung. Gibt es aber Gesetzmäßigkeiten
des Fortschritts und deckt Dialektik diese Gesetzmäßigkeit nicht
auf, so liefert die Theorie in Wahrheit eine Begründung des
Stillstandes unter dem Anschein einer Theorie der Bewegung.
Wir wollen zeigen, daß Marcuses Dialektik gerade diesem
Fehler verfällt.
Hegels Dialektik übersteigt das skizzierte Niveau
heraklitischen Denkens. Nichts gibt es, „was nicht ebenso die
Unmittelbarkeit enthält, als die Vermittlung, so daß sich diese
beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener
Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt" (Logik", 1928, S. 70
f.). Die Elemente des WiderSpruchs sind nicht nur einander
entgegengesetzt, sondern sie bedingen einander. Seine Momente
sind miteinander so verknüpft, daß der eine Pol nicht ohne den
anderen ist oder sein kann: Der Herr ist nur Herr in Beziehung
auf den Knecht und umgekehrt. Kapitalismus gibt es nur dank
der dieser Ordnung spezifischen Herr und Knecht-Beziehung. Die
Pole des Widerspruchs sind also nicht zerteilt auf einen
bestimmten Sachverhalt einerseits und sein Anders-Sein
andererseits, sondern sie wirken in allem Sein. Aus
Heraklits: „Der Streit ist der Vater aller Dinge" wird:
Jedes Ding, jede Erscheinung ist eine Einheit von Widersprüchen,
bewegt sich vermöge dieser Einheit und des Kampfes der
Widersprüche in seinem Innern. Der Kapitalismus entwickelt sich
im Ergebnis des Kampfes der inner« kapitalistischen Klassen und
Schichten, vor allem des Kampfes von Bourgeoisie und
Proletariat.
Hegel untersucht die Art und Weise dieser Entwicklung und
entdeckt hierbei die Dialektik von Quantität und Qualität.
Qualität ist die innere, Quantität die äußere Bestimmung eines
Seins, wobei Inneres und Äußeres, Qualität und Quantität
innerlich untrennbar zusammenhängen, „vermittelt" sind, nach
bestimmten Maßverhälrnissen ineinander übergehen.
Diese Dialektik von Quantität und Qualität wendet Hegel
bei der Analyse der Entwicklung an: „. . . die
gewöhnliche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen
begreifen soll, meint. . . es damit begriffen zu haben, daß sie
es als ein allmähliches Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt.
Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderung des Seins
überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere
Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative
und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des
Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende
Dasein ist , . . Bei der Allmählichkeit des Entstehens liegt die
Vorstellung zugrunde, daß das Entstehende schon sinnlich oder
überhaupt wirklich v o r h an den , nur wegen seiner Kleinheit
noch nicht w ah r nehm bar, so wie bei der Allmählichkeit des
Verschwindens, daß das Nichtsein oder das Andere, an seine
Stelle tretende gleichfalls vorhanden, nur noch nicht bemerkbar
sei ... Es wird damit das Entstehen und Vergehen
überhaupt aufgehoben . . . Das Begreiflichmachen eines
Entstehens oder Vergehens aus der Allmählichkeit der Veränderung
hat die der Tautologie eigene Langweiligkeit; es hat das
Entstehende oder Vergehende schon vorher ganz fertig . . ."
(Hegel, „Die Wissenschaft der Logik", 1812, Bd.
I, S. 313/314, Leipzig 1948, S. 383).
Marcuse weiß, daß sich diese Dialektik von Quantität und
Qualität in der Entwicklung wendet sowohl „gegen die
landläufige Ansieht. . ., daß der Prozeß des Entstehens und
Vergehens' ein allmählicher sei", als auch gegen die
aristotelische, „daß natura non facit saltum" („Die Natur
macht keinen Sprung"). (Marcuse, „Vernunft und Revolution",
Luchterhand 1962, S. 130).
Marcuse weiß um Hegels Analyse der Form dieser
Beziehung von Quantität und Qualität, das heißt er kennt Hegels
Dialektik von Negation und Negation der Negation. Er kennt die
Problematik der Aufhebung, daß heißt der Annullierung,
Aufbewahrung und des Empor» hebens alter Inhalte in den neuen
durch den Prozeß des Negierens. Solche dialektische Negation ist
nicht zu verwechseln mit der formallogischen. Dialektische
Negation streicht nicht alles Vorhandene aus, erzeugt nicht Null
oder das abstrakte Nichts, sondern ist „wesentlich nur die
Negation eines besonderen Inhalts . . ." („Logik", Leipzig
1951, Bd. I, S. 35 f.). Negation des
Kapitalismus ist nicht Negation von allem, was es in der
kapitalistischen Gesellschaft gibt. Die Produktionstechnik wird
nicht negiert, aber die Produktionsverhältnisse. Das Neue ist
zwar keine bloße Verbesserung des Alten, sondern Ergebnis echter
Revolution. Und ist gerade darum auch nicht etwas absolut Neues.
Marcuse weiß, daß das Neue „nicht vollentfaltet vom Himmel"
fällt; „das Neue muß irgendwie bereits im Schöße des AI'
ten existiert haben" (ebenda, S. 130). Er selbst
interpretiert diese Erkenntnis Hegels: „Wenn beispielsweise
die Verhältnisse, die innerhalb eines gegebenen
Gesellschaftssystems bestehen, ungerecht und unmenschlich sind,
so werden sie nicht durch andere realisierbare Möglichkeiten aus
dem Wege geräumt, so lange es nicht manifest geworden ist, daß
diese anderen Möglichkeiten ebenfalls innerhalb jenes Systems
ihre Wurzeln haben. Sie müssen in ihm angelegt sein. Etwa in
Gestalt eines offenkundigen Reichtums an Produktivkräften, einer
Entwicklung der materiellen Bedürfnisse und Wünsche der
Mensehen, ihrer fortgeschrittenen Kultur, ihrer
gesellschaftlichen und politischen Reife usf. In einem solchen
Fall sind die Möglichkeiten nicht nur real, sondern
repräsentieren auch den wahren Inhalt des Gesellschaftssystems
gegenüber seiner unmittelbaren Existenzform. Sie sind soweit
eine Wirklichkeit, die selbst wirklicher ist als die gegebene"
(ebenda, S. 139).
ANNULLIERUNG ODER AUFHEBUNG DER ALTEN GESELLSCHAFT?
Marcuse kennt das alles und kommentiert es zustimmend. Es
fällt zwar auf, daß er schreibt: „Wir wollen auf die
Diskussion der Kategorie der Quantität verzichten . . ."
(ebenda, S. 130). Ebenso könnte stutzig machen, daß er nur den
Umschlag der Quantität in die Qualitat erwähnt, den
entgegengesetzten dialektischen Aspekt jedoch aus» läßt (ebenda,
S. 130). Man könnte das mit Raumgründen erklären oder damit, daß
Marcuse die Kenntnis dieser Hegeischen Darlegungen voraussetzt.
Man könnte, aber man kann nicht. Denn entweder anerkennt Marcuse
in bestimmten, zentralen Diskussionspunkten letzten Endes Hegels
Lösungen dialektischer Grundprobleme nicht oder er ignoriert
deren Bedeutung oder er vergißt diese Lösungen an entscheidenden
Stellen seiner Werke. Nehmen wir ein Beispiel: In seinem 1937
geschriebenen Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der
Kultur" (Neuabdruck in „Kultur und Gesellschaft"
I, Seite 56 ff.) entwirft Marcuse, nach
einer großartigen Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen
Kultur, seine Therapie einer nicht-af f irmativen Kultur.
Was versteht er darunter? Er selbst sagt: Jeder Versuch zu
beschreiben, was damit gemeint sei, „stößt auf das
unausrottbare Klischee vom .Schlaraffenland'. Es ist aber immer
noch besser, dieses Klischee zu akzeptieren als jenes von der
Umwandlung der Erde in eine riesige Volksbildungsanstalt",
wie sie sich die alte deutsche Sozialdemo» kratie vorstellte,
mit ihrem „Allgemeinwerden der kulturellen Werte", dem „Recht
aller Volksgenossen an den Kulturgütern", der „Hebung der
leiblichen, geistigen und sittlichen Volksbildung". Marcuse
polemisiert: „Das hieße . . . nur, die
Ideologie einer bekämpften Gesellschaft zur bewußten
Lebensform einer anderen zu erheben, aus ihrer Not eine neue
Tugend zu machen. Wenn Kautsky von dem .kommenden Glück'
spricht, denkt er zunächst an die .beglückenden Wirkungen
wissenschaftlicher Arbeit, an das /verständnisvolle Genießen auf
den Gebieten der Wissenschaft und Kunst, in der Natur, im Sport
und Spiel'. Den ,Massen' soll ,alles, was bisher an Kultur
gesdiaffen worden ist, . . . zur Verfügung gestellt werden.
Diese gesamte Kultur für sich zu erobern', ist ihre Aufgabe. Das
kann aber nichts anderes bedeuten",
polemisiert Marcuse, „als die Massen wie-der einmal für eine
gesamtgesellschaftliche Ordnung zu erobern, welche von der
,gesamten Kultur" bejaht wird. Solche Ansichten", meint
Marcuse, „verfehlen das Entscheidende: die Aufhebung dieser
Kultur" (S. 99/100).
„Aufhebung" ist hier nicht im Sinne Hegels, also nicht als
Annullierang, Bewahrung und Höher-Heben, gemeint. Marcuse
denunziert also die gesamte vorhandene Kultur als affirmativ und
darum verneinungswürdig. Aber diese Verneinung ist nicht
dialektisch, denn nichts von dieser alten Kultur soll aufgehoben
werden. Bei aller nötigen Kritik an der trockenen
Bürokratensprache Kautskys darf das Kind nicht mit dem
Bade ausgeschüttet werden. Marcuse setzt Kautsky die
trunkenen Worte Nietzsches entgegen, beschreibt das, was
auf totale Verneinung folgen könnte, in den schillernden
„heroischen" Metaphern dieses keineswegs revolutionären oder
auch nur demokratischen Kulturphilosophen! Nietzsches
Kulturkonzeption oder Baudelaire, Rilke, Proust, Valery,
die Surrealisten und andere sind Marcuse offenbar nicht
affirmativ. Jedenfalls nimmt er immer wieder die Zitate für
seine „Gegenbilder" von Nietzsche. Es soll also alles
ausgestrichen werden, nicht nur ein b e s o n derer Inhalt. Das
Ergebnis wäre Null, das abstrakte Nichts, die Annullierung der
Geschichte. Solche Negation ist nicht dialektisch, sondern
formal-logisch. Diese Position Marcuses ist nicht originell. Sie
wurde von Nietzsche entwickelt, von Heidegger
weitergeführt, von Thomas Mann in „Doktor Faustus" —
in Leverkühn/Nietzsches Versuch, die IX.
Symphonie, die Kultur der Klassik „zurückzunehmen" —
kritisiert. Wir finden das Motiv der „Zurücknahme"
bürgerlich-humanistischer Kultur bei allen reaktionären Denkern
und Kunstlern der Gegenwart. Allerdings gibt es einen
Unterschied in der Wertung: die Reaktionäre negieren die
Geschichte, so weit sie darin Wurzeln der sozialistischen
Zukunft sehen. Marcuse negiert die Geschichte, weil er fürchtet,
sie drücke der künftigen, der sozialistischen Welt ihren Makel
auf.
Marcuse selbst kennt dieses antigeschichtliche Verhalten,
schätzt es richtig als Mittel des reaktionären Irrationalismus
ein und kritisiert es andernorts scharfsichtig („Der Kampf gegen
den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung",
Zeitschrift für Sozialforschung III/2, Paris 1934, in: „Kultur
und Gesellschaft", I, S. 37 f.). Dennoch
wendet er in der von uns kritisierten Argumentation dieses
Schema der „Zurücknahme", der Annullierung an. Darin zeigt sich
ein Mangel an denkerischer Konsequenz. Wir stoßen auf solche
Inkonsequenz auch unmittelbar von Marcuses totaler Absage an die
bestehende Kultur. Denn was es heult, wenn er sagt: „Nur aus
der anspruchslosen Schaustellung mancher griechischer Statuen,
aus der Musik Mozarts und des alten Beethoven läßt sich eine
Vorahnung" neuer Kultur gewinnen? (ebenda, S. 99). Gab es
also in der affirmativen Kultur dennoch Elemente der neuen? Mit
welcher theoretischen Berechtigung kann man von der einen auf
die kontradiktorische Position übergehen? Aber selbst dieses
Angebot, Mozart, den späten Beethoven und einiges andere noch in
die Zukunft hinüberzuretten, zieht Marcuse wieder zurück,
versteigt er sich doch zu der These, daß vielleicht in der
Zukunft „Kunst als solche gegenstandslos" werde (S. 99).
Da helfen denn auch Phidias, Mozart und der alte Beethoven nicht
mehr.
Marcuse bejaht also die Negation, und zwar genau jene, die
Adorno unlängst in seiner „Negativen Dialektik" entwickelte und
die so radikal ist, daß eine Negation der Negation unnötig wird.
Wann annulliert Negation so, daß es nichts mehr zu negieren
gibt? Wenn sie tabula rasa schafft. Wenn sie alles annulliert.
Wenn sie vom Niveau der bestimmten, also dialektischen auf das
der verabsolutierten formal-logischen Negation zurückfällt und
mit dieser Verabsolutierung die Beendigung des Prozesses für
die Theorie erzeugt. Man darf nicht wissen, was das Neue ist,
wie wir dahin gelangen können. Jeder Versuch, von der alten
Kultur zur neuen überzugehen, wird mit Nietzsche-Formeln
diffamiert, wird als Versuch ausgegeben, das Alte beibehalten zu
wollen. Weil es nur einen solchen Weg zum Neuen gibt, dem nicht
alle Merkmale des Alten abgezogen werden können, darum verweist
solche Kritik auf die unvermeidlich in allem Neuen noch
vorhandenen Muttermale des Alten und bestreitet so das
Vorhandensein des Neuen. Es wird von der Kritik gefordert, daß
die Kontinuität voll und ganz aufgehoben wird. Das aber ist, wir
zeigten und Marcuse weiß es, ein Aufgeben der Dialektik. Wer den
Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart ausstreicht, kann
keinen Weg in die Zukunft, der morgigen Gegenwart weisen, der
wir Heutigen Vergangenheit sein werden. Der wird auf den Punkt
des Hier und Jetzt, auf die Position des Existentialismus
beschränkt. Marcuse selbst weiß ganz genau, daß dies die
Position der Verteidigung des Bestehenden ist (siehe „Kultur und
Gesellschaft", I, S. 47).
DIE MARXISTISCHE LÖSUNG
Marx, Engels und Lenin gehen anders an die Lösung
ähnlicher Problemstellungen heran. Nehmen wir eine Stelle aus
der Marxschen Kritik am „Gothaer Programm", wo er die
konkreten Stadien des Weges vom Kapitalismus zum Kommunismus
umreißt. Hinsichtlich der ersten, der sozialistischen Stufe in
der Entwicklung der neuen Gesellschaftsordnung lesen wir etwa:
„Womit wir es zu tun haben, ist eine kommunistische
Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage
entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der
kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder
Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit
den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie
kommt" (Marx/Engels, „Ausgewählte Schriften", Bd.
II, S. 15/16). In einer solchen
Gesellschaft herrscht einerseits eine gewisse Gleichheit ihrer
Mitglieder, aber noch das „bürgerliche Recht" der Gleichheit,
das, wie alles Recht, Ungleichheit voraussetzt. Jedes Recht
besteht in der Anwendung von gleichem Maßstab auf u n gleiche
Individuen. Das gleiche Recht ist daher eine Verletzung der
Gleichheit und insofern eine Ungerechtigkeit. Wirkliche
Gleichheit kann es erst auf der höheren, kommunistischen
Entwicklungsstufe geben.
Wir übergehen hier die an sich weit wichtigeren Bemerkungen
Marxens über die neue Qualität dieser sozialistischen
Gesellschaftsordnung, denn es kommt uns hier darauf an zu
zeigen, daß reale dialektische Werdeprozesse nicht an ein
völliges Annullieren früherer Zustände geknüpft sind, daran gar
nicht gebunden sein können. Als Lenin auf einem
Jugendkongreß die Frage klärte, was denn ein junger Kommunist
alles zu lernen habe, sagte er über diesen Aspekt des
Verhältnisses zum Alten: „Wir können den Kommunismus nur aus
jener Summe von Wissen, Organisationen und Institutionen
aufbauen, mit jenen Vorräten an menschlichen Kräften und
Mitteln, die uns die alte Gesellschaft hinterlassen hat."
Dies müsse man natürlich ändern, damit „als Ergebnis der
Anstrengungen der jungen Generation eine Gesellschaft geschaffen
wird, die der alten nicht gleicht, das heißt eine kommunistische
Gesellschaft" (Die Aufgaben der Jugendverbände, in:
Marx/Engels, Marxismus, Berlin 1957, S. 496). „Man würde
einen gewaltigen Fehler begehen", sagte Lenin, „den
Schluß zu ziehen, daß man Kommunist werden kann, ohne sich das
angehäufte menschliche Wissen anzueignen" (ebenda, S. 499),
denn der Kommunismus sei „aus der Summe des menschlichen
Wissens hervorgegangen" (ebenda, S. 499).
Sich dem Kulturproblem zuwendend, das Marcuse behandelt,
sagte Lenin in der gleichen Rede: „Die proletarische
Kultur fällt nicht vom Himmel, sie ist nicht eine Erfindung von
Leuten, die sich als Fachleute für proletarische Kultur
bezeichnen. Das alles ist kompletter Unsinn. Die proletarische
Kultur muß die gesetzmäßige Weiterentwicklung jener Summe von
Kenntnissen sein, die die Menschheit sich unter dem loch der
kapitalistischen Gesellschaft . . . erarbeitet hat" (ebenda,
S. 560).
Ohne diese vergangene Kultur, sagte Lenin lange
vorher, gäbe es keinen Marxismus. Die Marxsche Lehre,
schrieb er, ist nicht „abseits von der Herrschaft der
Weltzivilisation entstanden . .. Im Gegenteil." Sie
„ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die
Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen
Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des
französischen Sozialismus geschaffen hat"
(Drei Quellen und drei Bestandteile des
Marxismus, in: Marx/ Engels, Marxismus, Berlin 1957, S. 68).
Und noch einen Aspekt des Kulturproblems und des
Verhältnisses zum Alten, den Lenin betonte, sollten wir
hier erwähnen: „Es gibt zwei Nationen in jeder modernen
Nation ... Es gibt zwei nationale Kulturen in jeder
nationalen Kultur." Es gebe die Kultur der Unterdrücker,
aber auch die der humanistischen Kräfte und die der
Unterdrückten, schrieb er in seinen „Kritischen Bemerkungen
zur nationalen Frage" (in: Lenin, Über Kunst und Kultur,
Berlin 1960, Seite 218).
Die Musik Mozarts oder des alten Beethoven, aber auch die
Weberlieder, „Ca ira" oder andere revolutionäre Kunst, das ist
die eine Kultur,das eine Vergangene, das wir nicht annullieren,
sondern aufbewahren wollen. Nietzsche dagegen und
Jünger liefern uns höchstens interessante Teilaspekte, sind
in ihrem theoretischen Gehalt jedoch beim Übergang zum
Sozialismus unbedingt zu annullieren. Solches Verhalten von
Marx und Lenin ist dialektisch. Diese Dialektik
berücksichtigt die Problematik der Kontinuität in allem
Sprunghaften. Sie weiß darum, daß auch im Alten, Überholten
rationelle Kerne des Neuen stecken, oft mehr als Kerne, und daß
„Aufhebung" dieses Rationalen in die neue Wirklichkeit,
Vermittlung dessen an die vielgeschmähten Massen Bestandteil
echter Kulturrevolution ist und sein muß.
Die von uns gekennzeichnete und kritisierte Art von Dialektik
treffen wir immer wieder im Werk Marcuses an. Noch auf
dem Wege von Heidegger weg schrieb Marcuse 1928:
„. . . jede Reform, Revision des Bestehenden setzt die
Anerkennung des Bestehenden voraus, ,Neue' Existenz ist nur als
,Widerruf möglich'" („Philosophische Hefte", hrsg. v. M.
Beck, Heft i, Juli 1928, S. 68). Die These ist in ihrer
Verabsolutierung falsch. Reformen, die erkämpft, nicht erbettelt
oder „geschenkt" werden, Reformen, die erkämpft werden im
Bewußtsein, daß es schließlich gilt, das ganze System durch
Revolution zu stürzen, sind zwar auch Reformen, beruhen aber
nicht auf der Anerkennung des Bestehenden. In diesem Sinne
begrüßte Marx in der „Inauguraladresse" etwa die Reform der
englischen Zehnstundenbill.
Weniger entschieden finden wir die kritisierte Dialektik
Marcuses in seinen Thesen über die Aufhebung der Philosophie und
der Arbeit im Hegelbuch, sehr deutlich ausgeprägt in seinen
Erörterungen über Freiheit und Notwendigkeit an zahlreichen
Stellen seines Werkes. So heißt es etwa von den jungen,
opponierenden amerikanischen Intellektuellen: „. . . sie
haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der
vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun
hat und nichts zu tun haben will" („Kursbuch" Nr. 9, 1967,
S. 6). Wie solcher unvermittelte Sprung vom Alten zum Neuen
theoretisch und praktisch möglich sein soll, kann uns Marcuse
freilich nicht sagen. Dafür ist gerade „Der eindimensionale
Mensch" das Beweisstück.
„Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine
Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner
Zukunft überbrücken könnten", sagt Marcuse völlig richtig
und zugleich bloßstellend von seiner Theorie („Der
eindimensionale Mensch", Luchterhand 1967, S. 268). Er sagt
damit nur, was wir schon feststellten: diese Art von Dialektik,
deren Negativität die Vergangenheit total annullieren möchte,
begibt sich auch der Kenntnis des Weges in die Zukunft. Hans
Heinz Holz verweist mit vollem Recht auf den
eschatologischen Charakter solcher Dialektik, auf ihre
Verwandtschaft mit der dialektisehen Theologie („Blätter für
deutsche und internationale Politik", Köln, Nr. 1/1968, S. 50),
und wir verwiesen andernorts auf die Verwandtschaft dieser
Theorie mit Kierkegaards „qualitativer Dialektik"
(„Marxistische Blätter", Heft 6/1967, S. 37).
DIE KATEGORIE DER VERMITTLUNG
Den tieferen Grund dieser mechanistischen Dialektik finden
wir in der Preisgabe der dialektischen Kategorie der Vermittlung
und, damit zusammenhängend, der Dialektik von Quantität und
Qualität. Immer wieder stoßen wir betroffen auf Zeugnisse
solcher Preisgabe: Wie ist das Verhältnis von Theorie und Praxis
bei Marcuse? Wenn die kritische Theorie ihr Objekt verliert, wie
Marcuse selbst sagt, wenn sie nicht mehr durch Praxis bewiesen
werden kann, wenn die Theorie keinen Weg in die Zukunft weist,
so ist sie sinnlos, ist die Trennung von Theorie und Praxis
perfekt. Dann geraten wir wieder in den Bannkreis der Ethik
Kants, an deren Kritik der junge Hegel seine
Kategorie der Vermittlung vervollkommnete. Sein und Sollen
stehen einander unvermittelt gegenüber.
Aber die Folgen reichen noch weiter: dann sind auch die
Momente des Widerspruchs nicht mehr miteinander vermittelt, sind
sie nicht mehr Momente eines inneren Widerspruchs, sondern
treten auseinander: ist der eine Pol innerhalb, der andere
außerhalb der konkreten Erscheinung. Innerhalb ist das
bewahrende, positive, außerhalb das revolutionäre, negative
Moment. Immer wieder müssen in Marcuses Dialektik die Anstöße
von außen kommen: von den „outcasts", von den „Ländern der
dritten Welt". Die oppositioneuen Kräfte sind aus dem
Wesensbereich der Ordnung verdrängt, im Grunde wirkungslose
Außenseiter geworden. Immer ist nichts mehr zu machen, weil alle
wesentlichen Kräfte integriert sind. Das System, seine
Stabilität, die Manipulation sind, wenn überhaupt, so nur von
draußen aufzubrechen. Die ihr drinnen seid, laßt alle Hoffnung
schwinden. Der Appell an die Ohnmacht oder zur verzweifelten
Rebellion liegt nahe. Opposition an sich wird bejaht. Jedes Nein
zum Bestehenden begrüßt. Jedes partielle Ja zu solchem
Bestehenden als Opportunismus gebrandmarkt. So geraten mit einem
Male Kritiker von rechts (Nietzsche) neben Marx.
Politisch hat Lasalle mit seiner Taktik des Konspirierens mit
Bismarck das vorgezeichnet. Aber ist wirklich die Verteidigung
des Grundgesetzes gegen die Notstandsdiktatur opportunistisch?
Die herrschende Reaktion sieht in solchen Theorien keine
ernsthafte Gefahr. Die Rockefeiler« Stiftung finanzierte sogar
teilweise den „Eindimensionalen Men« sehen". Sollten sich die
Reaktionäre so sehr täuschen? Den wahren Charakter Marcusescher
Negation enthüllt dessen Wort von der „großen Weigerung". Was
soll sie, diese völlige Negation? Beginnt Opposition, wird der
Widerspruch zum Bestehenden dem einzelnen erstmals in Gestalt
des totalen Nein bewußt? Er, dieser einzelne, sagt nein zur
Erhöhung des Straßenbahntarifs und — wenn er dabei die
Bekanntschaft des Gummiknüppels gemacht hat — zum
Polizeipräsidenten; sagt nein zum Hitler unserer Tage und zum
Morden in Vietnam, sagt nein zu Notstandsgesetzen, zur
Weitergabe von Atomwaffen; sagt nein zu einem Staatspräsidenten,
der KZ-Baupläne entwarf, sagt nein zur konkreten Lage unserer
Universitäten. Das alles sind sehr konkrete, bestimmte
Negationen, die nicht selten mit Alternativen verknüpft werden,
wie: Mitbestimmung statt Notstands*gesetzen, atomwaffenfreie
Zonen statt Atomwettrüsten, Amis raus aus Vietnam, stellt
konkrete Forderungen für die Universitäten, er« richtet
Kritische Universitäten usw. usf.
Das ist die Form, in der sich Opposition entwickelt. Und
unsere oppositionellen Bewegungen sind durchaus solche konkreten
Weige« rangen, konkrete alternative Bewegungen,
„Einpunkt"-Bewegungen, erzielen als solche gewisse Erfolge,
erringen als solche Einfluß, setzen als solche das bestehende
System unter Druck, ins Unrecht. Das sind die quantitativen
Veränderungen, deren ständige und — selbstverständlich —
gewaltige Anhäufung an die Grenze der bestehenden Qualität, zum
Umschlag in eine andere Qualität füh« ren wird. Aber einen
wirklichen anderen Weg gibt es nicht. Wer diese konkrete
Negation, das heißt: die dialektische, durch die totale, das
heißt: die absolute Negation ersetzt, der fällt nicht nur von
der erreichten Stufe der Dialektik zurück, auf die der kontra«
diktorischen, formaHogischen, der negiert auch die wirklichen
Ansätze der Opposition und der Revolution. Für den wird
historischer Fortschritt sinnlos, weil er irgendeiner
Transzendenz — der Ausdruck ist oft anzutreffen bei Marcuse —
nachjagt.
Opposition gegen die bestehende Ordnung, nicht aus totaler
Negation, „sondern als Zurückweisung ihrer evidenten,
spürbaren Fehlleistungen: die Ausarbeitung von Alternativen und
demokratischen Kontrollen wird dann schrittweise dazu führen,
daß das falsche Herr' Schaftssystem als Ganzes aufgerollt wird —
aber vermittelt durch die konkreten Anlässe der Weigerung, nicht
als Folge einer unvermittelt ten ,großen Weigerung'. Die
Gesellschaft wird durch politischen Kampf verändert, und
politischer Kampf entzündet sich am einzelnen Anlaß.
Demonstrationen vor dem Pentagon berechtigen zur Hoffnung, die
Flucht ins Marihuana-Glück nicht", schreibt
Hans Heinz Holz in
seiner Polemik gegen Marcuse völlig richtig („Blätter für
deutsche und internationale Politik", Köln, Nr. 1/1968, S. 54).
Wir sagten an einigen Stellen, daß Marcuse die genannten Gesetze
Hegelscher Dialektik wohl kenne. Er wendet sie übrigens
in seinen Analysen auch oft genug an. Nur dann, wenn es um
entschei d e n d e Klärungen geht, hört Marcuse auf, moderner
Dialektiker zu sein, sinkt er auf die Stufe vorhegelianischer
Dialektik zurück. Wir können hier nicht den Gründen dafür
nachgehen, möchten jedoch dem falschen Eindruck widersprechen,
den manches Voroder Nachwort Marcuses zu früheren Schriften
erwecken kann: dieser Abschied von der Dialektik Hegels sei
darum nötig, weil die Nachkriegsperiode gezeigt habe, daß sowohl
Hegels als auch Marx' Lehre nicht wirklich zur Freiheit führten.
Marcuses Konzeption, die Dialektik betreffend, durchzieht alle
seine Werke. Da brachte die Nachkriegszeit nichts wesentlich
Neues. Marcuses Nachkriegsresignation hat andere Gründe:
Gewiß annulliert seine Dialektik letztlich das Wesentliche,
Neue, das Hegel der Dialektik hinzugefügt hat. Vom Boden
solcher vorhegelianischen Dialektik aus analysiert Marcuse. Daß
er mit solchen veralteten Instrumenten der Wissenschaft
analysiert, führt immer wieder, selbst in seinen besten Werken
(1934—1941) zu erstaunlichen Thesen, besonders hinsichtlich der
Marxschen Philosophie. Marcuse legt seinen Analysen als Maßstab
ein Bild vom Menschen zugrunde, der ein inaktives Wesen ist, das
in passiv-kontemplativem Genuß das höchste Glück sieht, und
dennoch glaubt unser Autor, darin mit Marx
übereinzustimmen. Marcuses Position ist zwar auch ein
Humanismus, aber ein falscher, nämlich das pure Nein zum
bürgerlichen Antihumanismus, er ist dessen Umstülpung. Das ist
tatsächlich ein Schlaraffen» land-Humanismus. Auch hier sehen
wir wieder die tragischen Folgen der Verwechslung von
dialektischer und kontradiktorischer Negation. Gemessen an
solchen Maßstäben müssen die sozialistischen Länder — nicht nur
der in ihnen einst praktizierte Dogmatismus, der Personenkult,
die Verletzung sozialistischer Gesetzlichkeit, sondern gerade
auch ihre heutige Basis und deren Überbau — als Länder
erscheinen, in denen eine große Verheißung verraten wurde. Dazu
wird dann noch die revolutionäre Arbeiterbewegung „des Westens"
am Maßstab eines romantischen Revolutionsbegriffs bewertet. Zu
allem Überfluß wird diese Arbeiterbewegung entsprechend
amerikanischen Erfahrungen eingeschätzt, welche Erfahrungen
nicht nur unhistorisch beurteilt, also positivistisch
hingenommen, sondern auch noch mit den Ergebnissen der
amerikanischen positivistischen, empirisehen Soziologie
„komplettiert" werden.
Nimmt man noch das Entsetzen Marcuses über die Verbrechen
jenes Landes hinzu, das er 1941 noch das „einzige ,Land der
Zukunft'" bezeichnete („Vernunft und Revolution", S. 11) —
wir meinen die USA und ihre Völkermord-Praxis in Vietnam —, so
hat man die Hauptmotive bei der Hand für Marcuses in
Einzelheiten immer wie der äußerst tiefgründige, treffende,
humanistische, im Ganzen nichtsdestoweniger total falsche, an
hilfloser Verzweiflung krankender, zu anarchistischer Rebellion
neigender kritischer Kultur» und Sozialphilosophie.
Marx zeigt in seinen Jugendschriften, als er sich
Hegels Dialektik kritisch aneignete, daß innerhalb des
Widerspruchs die Pole nicht einander „gleichwertig" sind: im
einen Pol vereinigt sich das bewahrende, positive, im anderen
Pol das zerstörende, negative, revolutionäre Element. Marx
zeigte, warum dieses revolutionäre Element im Kapitalismus nur
das Proletariat sein kann.
Es ist das eine objektive Analyse, die auch dann gilt — Marx
selbst sagt es —, wenn sich das Proletariat seiner Rolle noch
nicht bewußt ist. Hier hat eben das Werk kritischer Intelligenz
zu beginnen, das zur Vereinigung von Arbeiterbewegung und
revolutionär-sozialistischer Idee führt. Marcuse hat
diese letzte, unabweisbare Konse« quenz der revolutionären
Dialektik aufgegeben. Damit verschwindet das wirklich
revolutionäre Subjekt aus seiner Dialektik. Übrig bleibt der
Appell an die Außenseiter der Gesellschaft und an deren
rebellische Kampfformen. Übrig bleibt die ethische Begründung
der Notwendigkeit der Revolution. Aber wenn die bestehende
Ordnung gesprengt werden soll, so ist eine gewaltige,
konzentrierte Anstrengung nötig. Die bedarf der Vorbereitung,
Organisierung und Führung durch einen revolutionären politischen
Kristallisationspunkt, durch eine disziplinierte, einheitlich
handelnde, schlagkräftige, um Weg und Ziel wissende Partei.
Nicht die Außenseiter werden uns befreien, sondern wir selbst
werden es tun, trotz all unserer Fehler und Schwächen.
Editorische Hinweise
Der Aufsatz wurde entnommen aus: August-Bebel-Gesellschaft
(Hrg.): Marxismus in unserer Zeit, Fulda 1968, S. 89-100
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